Die Schläge an der Tür zu Jean-Claude Wöhlers Zimmer hallten durchs saubere Häuschen. Merghentin hörte das Geschrei des Vaters und die erschrockenen Rufe der Mutter. Die Beine von Anwalt Dr. Alhaus und Kohlund konnte er auf den Treppenstufen ausmachen. Die Schuhe an Kohlunds Füßen sahen aus, als würde der Kommissar seit seinen Lehrjahren darin herumlatschen. Sie schienen ausgetreten, an einigen Stellen war das Leder geplatzt. Allerdings konnte es auch die neuste Mode aus den Boutiquen sein, denn Risse, Schnitte und verbrauchter Look waren zurzeit auch bei Jeans und Strumpfhosen Mode. Den Halbstiefeln vom Anwalt sah man ihre hohe Qualität in jedem Quadratzentimeter an. Merghentin überlegte, dass er auf Äußerlichkeiten im Gegensatz zu Lebenspartner Kilian immer weniger Wert legte, und fragte sich, wie es Benjamin mit der Mode so hielt. Trendy, alternativ, buisness look? Merghentin kam zu keinem Resultat. Ihm war Fußbekleidung Accessoire, denn nutzen konnte er sie nicht. Hatte er lange genug auf sie geschaut, schmiss er sie weg. Merghentin wusste nicht genau, welche er heute an den Füßen trug, sehen konnte er sie aus den Kissen nicht. Andrerseits konnte man vergessen, was man am Morgen angezogen hatte? Wieder der Blick des Kommissars auf Schuhe und Treppe, an deren anderem Ende ein junger Mann mit aller Macht überzeugt werden sollte.
„Jean, mach die Tür auf!“
Freund Kilian hätte selbst aus diesem ungünstig schrägen Blickwinkel die Qualität des Schuhwerks von Lars Kohlund einordnen können. Für Merghentin blieben es ausgelatschte Treter. Dr. Lucien Alhaus im Gegensatz trug raulederne Stiefeletten mit Indianer-Fransen. Dass diese keine Billiganfertigungen waren, hatte Merghentin jedoch sofort erkannt.
Der Kommissar ließ seine Blicke vom Flur ins Wohnzimmer schweifen. Bücher konnte er auf den Regalen und hinter den Butzenglasscheiben der massiven Holzschränke bei den Wöhlers nicht entdecken. Die Nippes schienen blank geputzt. Ein Männeken Piss glaubte Merghentin zu erkennen, eine arabische Kaffeemühle, einen Riesenbleistift und Püppchen aus aller Herren Länder. Im Videoständer sah er vorwiegend Western, The World-Wrestling-Federation und Jean-Claude van Damme. Karate Tiger. Universal Soldier. Last Action Hero. Die Schlussfolgerung der Namensgebung für Wöhlers Sohn lag nah. Nur entsprach der Knabe Jean mitnichten den Maßen und Muskelgruppen des Vorbilds van Damme. Sein Vater ähnelte Jean-Claude weit mehr und trainierte dafür.
Über dem Eisschränkchen, aus dem Corinne Wöhler seine Coke zero zu Beginn serviert hatte, sah Merghentin Spirituosen, die auf einen erlesenen Geschmack schließen ließen. Remy VSOP. Baron Otard. Obstler verschiedener Früchte, Glenfiddich, Nordhäuser, Bols Bananenlikör. Wieder wurde ihm seine Behinderung bewusst, er wäre gern an diese Bar getreten und hätte die Flaschen in der Hand gewogen, manche hinterließen schon vom Gewicht her ein gutes Gefühl.
An den Wänden hingen außer einem jungen Paar zwei Bilder vom verhüllten Reichstag Berlins. Merghentin vermutete Originale, die waren vor Jahren im Angebot gewesen, um das Projekt zu inszenieren. Jean-Claude hatte die Gattin des Künstlers geheißen, vielleicht auch das ein Hinweis auf den Namen des Sohnes. Aber wohl doch eher nicht, meinte der Kommissar auf dem Sofa und lachte mit sich selbst.
Überm Esstisch geschwungene Dolche, ein handgeknüpfter Teppich und mit Vögeln bemalte riesige Löffel slawischer Provenienz. Neben dem Flachbildfernseher artete ein Kaktus aus. Seine verblühten Blüten waren vor die Bildröhre gefallen. Einzige Unreinlichkeit in diesem Raum. Den empfand Merghentin kaum behaglich, sondern als Mischung zwischen Volkskunstmuseum und der Jurte Dschingis Khans. Der Kommissar griff zum Colaglas und überlegte, ob er die Cola lieber mit Rum gemixt getrunken hätte. Erneut sein Blick zur Galerie teurer Flaschen. Corinne Wöhler hätte solcher Wunsch wahrscheinlich nicht verwundert. Aber angesichts seines Chefs wollte Merghentin die mühsam errungene Freiheit seiner Arbeit nicht sofort wieder aufs Spiel setzen. Ein Polizist trinkt nicht im Dienst!
„Jean!“, rief die Mutter in der oberen Etage. „Jean, ich bitte dich, was machst du für einen Eindruck. Die Polizisten sind nur deinetwegen im Haus.“ Merghentin glaubte aus der Stimme den Vorwurf überlaut herauszuhören. Der Sohn wagte, diese familiäre Idylle zu stören. Corinne Wöhler schien in ihren Grundfesten erschüttert.
„Jean, ohne Diskussion! Du bist kein Kleinkind. Und ich habe keine Lust mit Anwalt und Pack wieder aufs Revier laufen zu müssen und Stunden auf harten Bänken dort zuzubringen. Jean, Schluss, mit dieser kindischem Gehabe!“ Damit knallte es laut, dass Merghentin schon befürchtete, Jeans Türe sei aus den Angeln gehoben.
Doch das Schuhwerk auf der Treppe setzte sich in Bewegung. Die Fransen an Dr. Alhaus Wildleder-Stiefelchen flatterten. Dann betraten sie alle wie eine Regierungsdelegation wieder das Wohnzimmer, in dem Merghentin auf der Couch residierte: Kohlund, Alhaus, Corinne Wöhler, danach Jean, eingeklemmt zwischen den Eltern. Der Junge nickte Merghentin zu und ein schüchternes Lächeln umspielte kurz seine Lippen. Dann verteilten sich die Personen im Raum. Mangels anderen Plätzen sank Gilbert Wöhler neben dem Kommissar in die Kissen. Merghentin kam ins Rutschen.
„Nun stellen Sie Ihre Fragen, damit dieses Schauspiel ein Ende hat“, sagte der Vater und sah zu Merghentin, der sich um Distanz bemühte. Wöhler blickte ihn an, als trüge der Kommissar an dieser Inszenierung die Schuld.
„Jean, hast du mit Eike an diesem Abend deiner Party gesprochen?“
„Eigentlich nicht.“
Merghentin fragte nicht, was dieser Satz zu bedeuten hätte. Kohlund stellte die Frage: „Was heißt eigentlich nicht?“
„Ja oder nein, sollst du sagen“, half Dr. Lucien Alhaus dem Kind seines Mandanten.
„Die Wahrheit wäre uns recht“, sagte Kohlund.
„Was sonst?“ Der Anwalt schien kurzzeitig beleidigt und zog sich die Socke über den Fransen seiner Schuhe nach oben.
„Erzähl schon, so schwer kann das doch nicht sein. Du hast es doch bereits mehrmals bei diesem anderen Kommissar schon getan.“ Der Vater schien mit dem Sohn die Geduld zu verlieren.
Merghentin blickte dem Knaben direkt ins Gesicht und war sich in diesem Moment sicher, dass Jean-Claude nach der Künstlerin benannt worden war. Jean wendete den Kopf ab, saß klein neben seiner Mutter am Esstisch und starrte fortan auf die mit Blüten bestickte Decke. „Warum hast du dich denn im Zimmer eingeschlossen?“ Der Anwalt verdrehte ob dieser Frage Merghentins die Augen. Die Miene seines Chefs blieb ausdruckslos. „Schlechtes Gewissen?“
Jean-Claude Wöhler sagte kein Wort, sondern fuhr mit seinem linken Zeigefinger die Blumenmuster auf der Tischdecke ab. Sein Vater neben Merghentin schnaufte, enthielt sich jedoch jeder Bemerkung. Merghentin hätte mit dem Jungen lieber alleine gesprochen, jetzt musste sich Jean vorkommen wie im hochnotpeinlichen Verhör der Inquisition. Allerdings entsprach Jean-Claude Wöhler nicht dem Bild, das sich der Kommissar nach dem Gespräch mit Marisa Schwerdtner von ihm gemacht hatte. Sie hatte Jean als selbstbewusst und dominant geschildert. Hier saß eine gedemütigte Kreatur, die angesichts ihrer Eltern, nicht wusste, wie sie reagieren sollte.
„Jean, wir haben doch über alles gesprochen“, versuchte Dr. Lucien Alhaus, den Jungen zum Sprechen zu bringen. „Wiederhole es einfach.“ Und mit einem Blick zu Kohlund sagte der Anwalt: „Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen seine Aussage schriftlich vorlegen.“
„Wir würden sie von dem jungen Mann gerne hören, um uns selbst einen Eindruck zu machen“, entgegnete Merghentins Chef.
„Also!“ Das eine Wort von Dr. Gilbert Wöhler klang wie ein Befehl.
Sein Sohn überwand sich. „Der Proksch stand mit einem Mal vor der Tür, obwohl wir ihn nicht eingeladen hatten. Er reichte uns eine Flasche zum Eintritt, und dann muss die Tür vor ihm zugeschlagen sein. Jedenfalls habe ich Proksch nicht auf der Party gesehen. Alles.“
„Nach anderen Aussagen hat er noch lange an die Tür geklopft und nach Ihnen gerufen.“
„Das hat die Musik sicherlich übertönt“, sagte Dr. Alhaus. „Sie wissen ja wie das ist ...“
„Und die Flasche, die Eike mitgebracht hatte?“, fragte Merghentin in die Stille.
„Die Flasche. Die Flasche.“ Der Junge bekam hektische Flecke. „Das hat mich der andre Bulle auch immer wieder gefragt. Keine Ahnung.“ Die Mutter legte ihrem Sohn beruhigend ihre Hand auf die seine.
„Weißt du noch, was es für ein Schnaps war? Oder Wein?“
„Keine Ahnung. Wird schon was Hartes gewesen sein, was wir uns sonst nicht leisten.“ Als keiner im Raum reagierte, fuhr Jean fort: „Der Proksch versuchte doch immer wieder, sich bei jedem einzuschleimen, und verschenkte so Sachen, damit wir ihn mögen. Hat nicht geklappt. Pech, für den Wichser.“
„War Eike Proksch schwul?“, fragte Merghentin.
„Würde mich jedenfalls nicht wundern“, sagte der Vater. „Sie können das einschätzen?“, mischte sich Kohlund in das Gespräch.
„Ja“, sagte Dr. Gilbert Wöhler. „Nach allem, was mir mein Sohn über seinen Klassenkameraden erzählt hat, bin ich mir sicher. Oder verschenken Sie Handys und Tennisschläger einfach so an gute Freunde.“
„Eike Proksch hat nichts verschenkt“, sagte Kohlund, „Ihr Sohn hat ihn mit seinen guten Freunden gnadenlos abgezogen. Sie haben Eike Proksch erpresst und bestohlen, sie haben ihn gedemütigt und ihm das Leben zur Hölle gemacht.“
„Da muss ich Sie aber fragen, warum Eike Proksch dann bei der Fete meines Mandanten erschien. Ich gehe doch nicht freiwillig in das Haus meines Feindes.“ Dr. Lucien Alhaus erfreute sich an seiner Argumentation. Er schlug die Beine mit elegantem Schwung übereinander. Die Fransen wirbelten.
„Vielleicht ist Eike wirklich wegen der Liebe an jenem Abend bei euch erschienen“, sagte Merghentin leise. Die Gesellschaft verstummte.
„Ich bin nicht schwul!“, fuhr Jean-Claude auf. Jetzt war der Kommissar der Ansicht Jean-Claude van Damme war sein Namensgeber gewesen. Mann war Macho, homosexuell schien eine diskriminierende Unterstellung, nicht gesellschaftsfähig.
„Das habe ich nicht behauptet.“ Merghentin sprach leise, und trotzdem hallten seine Worte im Raum nach. „Eike war wegen Marisa Schwerdtner gekommen. Und vielleicht wollte er zu euch einfach nur dazugehören.“
„Wir dulden keine schwulen Schweine in unserer Gemeinschaft.“ Damit blickte Jean-Claude Wöhler zum ersten Mal wieder vom Muster der Tischdecke auf.
„Würdest du mich dann bitte nach draußen tragen“, forderte ihn Merghentin auf. „Ich bin schwul.“
„Ich denke, Sie sind gelähmt.“
„Das eine schließt das andre nicht aus.“
Das Schweigen lastete dauerhaft auf den Anwesenden, deren Blicke unverfängliche Punkte fixierten. Corinne Wöhler fasste sich endlich den Mut: „Na, noch einen Schluck Cola, Herr Kommissar?“ Sowohl Merghentin als auch Kohlund nickten.
Dr. Lucien Alhaus wechselte seine Beinstellung. Die Fransen am Stiefelchen flogen nur kurz.