Ein Gewehr! Es war ein altes Gewehr, das sie unter den Dielen des Bodens gefunden hatten. Irgendeiner der Vormieter wird es nach dem Kriege vor den Alliierten dort unter den Brettern versteckt und vergessen haben. Jetzt waren Bergers Leute bei der Durchsuchung im Hause der Fischers darauf gestoßen. Mehr fanden die Polizisten nicht. Keine Spur von Gerlind Hopstock. Erst recht nicht ihre Leiche. Die ganze Aktion – eine peinliche Katastrophe. Die noch Konsequenzen haben würde! Das hatte Thorst Schmitt gebrüllt, nachdem ihn wohl die Verantwortung tragenden Stellen zusammengeschissen hatten. Wir sind dem Steuerzahler rechenschaftspflichtig. Eine Blamage ohnegleichen!
Hauptkommissarin Agnes R. Schabowski war frustriert, und sie war wütend. Sie sah noch immer die barmende Beate Fischer wie eine der Figuren von Käthe Kollwitz. Die verhärmte Frau stand vor Gewächshaus oder Kellertreppe mit erhobener Faust und rief: Warum hassen Sie uns so? Verschwindet doch einfach! In ihren dreckigen Händen hielt sie noch immer die Hyazinthenzwiebeln. Die warf sie ihnen entgegen. Schweine! Alles, alles müssen sie kaputtmachen. Haut endlich ab! Die Frau heulte in Krämpfen und hatte menschliche Laute von sich gegeben. Schabowski hatte ein schlechtes Gewissen und Mitleid, das ständig wuchs. Ja, welchen Grund hatten sie, dies den Fischers anzutun? Waren sie wirklich von der Täterschaft Toralf Fischers überzeugt? Schabowski zweifelte. Sie hatte schon immer daran gezweifelt. Nun machte sie sich Vorwürfe und konnte nichts mehr rückgängig machen. Das Haus der Fischers stand zu großen Teilen in Trümmern. Das Gewächshaus war abgerissen, der Garten umgegraben. Im Keller war der Boden aufgestemmt worden. Die Terrasse lag in Bruchstücken im Container. Zwei Bäume waren gefällt. Beate Fischer hatte immer wieder und lang anhaltend geschrien, auch eilig herbeigerufene Psychologen vermochten ihr nicht zu helfen und nahmen sie mit auf die Station in Altscherbitz. Mutti ist tot und kommt nie mehr wieder. Ich weiß es! Es ist alles umsonst. Umsonst! Umsonst hatte Beate Fischer beim Abtransport gebrüllt, sodass sich Schabowski die Ohren zuhielt. Toralf Fischer hatte stoisch danebengestanden und ätzende Kommentare gegeben: Vielleicht liegt meine Schwiegermutter zerstückelt in den Konserven! Bergers Mannen hatten Stichproben aus den Gläsern und Büchsen entnommen, deren Inhalt nicht erkennbar war. Und selbst Kirschkompott und saure Gürkchen hatten sie in ihre Tüten gepackt. Wahrscheinlich würden sie dann im Labor die selbst eingeweckten Erdbeeren und Pfirsiche der Hausfrau genüsslich verspeisen.
Alles, was die Ermittler an Verdächtigem gefunden hatten, war ein altes Gewehr, doppelläufig und ziseliert. Von dem hatten die Fischers selbst nichts gewusst. Das Ding sehe ich zum ersten Mal! Die Kommissarin glaubte Toralf Fischer. Alles in allem – ein kolossaler Misserfolg, von dem noch Generationen sprechen würden. Die große Fehleranalyse vor versammelter Mannschaft stand der Kommissarin noch bevor. Auch die Politik würde Rechenschaft verlangen, Presse sowieso. Sie sah schon die Biederstedt, Bild, Joseph Hönig und Alex Grunow. Dafür sammelte Schabowski schon jetzt die Kraft und Argumente. Warum nur hatte sie diesem Schnösel von Michalk vertraut? Sie hätte es besser wissen müssen. Sie hatte es besser gewusst und nichts dagegen getan. Weil es sehr einfach war, sich auf die Arbeit des Kollegen zu verlassen und sich in den Armen von Hainar Krumpholz zu wiegen. Weil es immer einfach war, die Welt zu vergessen, wenn einem das Herz überlief. Nun hatte Schabowski die Folgen zu tragen. Sie war bereits dreimal zum Gespräch mit der Leitungsebene einbestellt worden. Zweimal hatte Bastian Michalk an ihrer Seite gesessen und den Hauptteil der Rechtfertigung bestritten. Der Oberkommissar trug seine Fehlentscheidung mit ansehnlicher Würde. Als Chefin hatte Schabowski schwerer zu tragen. Sie schrieb Stellungnahmen und Protokolle, die zu neuen Diskussionen führten. Der ihr gegenüber angeschlagene Tonfall war hart und emotionslos. Sie konnte sich nur abends gehen lassen und ins Kissen oder in die Schulter von Hainar Krumpholz heulen. Der Lover sagte, er würde sogar rechtliche Schritte erwägen. Ich lasse mir nicht, meine Frau kaputtspielen! Solches Engagement zauberte für Sekunden in Schabowskis Gesicht ein Lächeln. Wenn ich dich nicht hätte, mein Lieber, wie könnte ich diese Zeit überstehen?
Jetzt war Schabowski auf dem Heimweg. Sie hatte weder Lust auf ÖPNV noch eigenen Pkw, sie lief und fragte sich, warum sie das nicht viel öfter tat. Bei straffem Schritt dauerte ihr Arbeitsweg keine dreißig Minuten. Heute jedoch ließ sie sich gehen. Der Kommissarin war nach Frustkauf zumute, nur entsprachen die angebotenen Textilien nicht ihrem und nicht Hainars Geschmack. Schuhe hatte sie erst vor drei Tagen neue gekauft. An den Kinoplakaten verharrte sie. Woody Allen wäre ihrer Gefühlslage wahrscheinlich angemessen. To Rome With Love. Doch war er keine wirkliche Alternative. Rom – Schabowski saß im tristen Leipzig und wartete auf den Sommer. Magic Mike präsentierte nackte Männer. Da war ihr Hainar in natura lieber. Heiter bis Wolkig handelte von Liebe und Tod. Dazwischen schwankte sie täglich. Das Bourne-Vermächtnis. Der kleine Rabe Socke. Total Recall. Wenigstens einen Kaffee trinken, könnte sie gehen und ging.
Auf dem Marktplatz standen die Buden und boten Essbares feil. Schabowski ließ sich eine Kalbsnuss, die wirklich delikat aussah, einpacken. Am nächsten Stand kaufte sie zehn Stückchen Kuchen aus dem Angebot, als wäre heute ihr Geburtstag. Dann fand sie, dass eine gute Hausfrau auch Gewürze in Auswahl in der Küche stehen haben sollte. Von Salatmischung robust bis Arabian Short Muskat war alles dabei, was sie in die Tasche stopfte. Beim Anblick der Fruits de Mer verspürte sie sofort Appetit und ließ zwei Kilo in eine Tüte rollen, Austern und Krebse extra. Wenn nötig würden sie drei Tage davon essen. EC-Karten werden erst ab 10 Euro Rechnungsbetrag akzeptiert. Ihren letzten Einkauf musste sie bargeldlos begleichen. Der bärtige Händler im Wagen war nicht begeistert. Schabowski ließ zwei Münzen als Wiedergutmachung auf der Theke liegen. Der Mann im Verkaufsstand sagte nicht einmal Danke.
Daheim warf Schabowski alle Kleidungsstücke von sich und stellte sich in die Küche. Sie verteilte die neuen Gewürze im kleinen Regal. Sie legte die Kalbsnuss in die Tiefkühltruhe und fragte sich, warum sie solche Mengen an Fleisch eingekauft hatte. Nun gut, sagte sie sich, im Kühlschrank ist fast nichts mehr gewesen. Und jetzt würde sie Hainar mit einem delikaten Menü überraschen. Das fand sie auf einer Webseite mit blödem Namen und bei den französischen Fachbegriffen musste Schabowski die Übersetzung und dann im Kochbuch nachschlagen. Court Bouillon aufkochen, den Taschenkrebs Kopf (oder Scheren) voraus ins kochende Wasser geben. Je nach Größe 10 – 15 Min. kochen. Herausnehmen und auskühlen lassen. Austern öffnen, Fleisch von der unteren Schale lösen und wieder in Selbige geben. Eine Austernzange hatte ihr Oma in den Besteckkasten der Aussteuer gelegt. Miesmuscheln kann man ebenfalls nach der Austernmethode servieren, ich koche sie 5 Min. in der Court Bouillon und breche eine Schalenhälfte ab. Danach auskühlen lassen. Langoustines, falls ausnahmsweise noch lebend, kopfüber in die Court Bouillon geben und 5 Min. kochen. Die Langoustines lebten nicht mehr. Sie hätte sich nicht vorstellen können, Tiere zu töten. Erst recht nicht in kochendem Wasser. Auskühlen lassen. Die Bigorneaux in der Court Bouillon 10 Min. kochen. Auf einer großen Servierplatte breitet man den Tang aus, setzt in die Mitte den Krebs und dekoriert drum herum die restlichen Meeresfrüchte. Tang hatte sie nicht verlangt, aber der bärtige Verkäufer hatte welchen aus eigener Initiative zu den Fruits de Mer gelegt. Dazu serviere ich eine selbst gemachte Mayonnaise oder Rouille und Baguette. Fehlen dazu darf auf keinen Fall ein guter Muscadet. Mayonnaise und den vergessenen Wein holte Schabowski schnell beim Spätverkauf um die Ecke.
Es köchelte und dampfte und roch. Schabowski blickte zur Uhr und erschreckend wurde ihr bewusst, dass Hainar seit über eine Stunde Feierabend hätte. Noch waren die Fruits de Mer nicht gar. Aber viel Zeit würde Hainar nicht mehr bleiben, damit ihr die Überraschung gelang. Als der Mann an der Tür schloss, saß Schabowski leicht deprimiert zwischen den Töpfen und überlegte, ob sie die Nachbarn zum Essen einladen sollte. Doch sie kannte die meisten Bewohner ihres Hauses nicht mal vom Sehen. Vielleicht wäre die nette alte Dame aus dem Erdgeschoss ihrer Einladung gefolgt, aber bei deren Arthritis hätte Schabowski die Teller aus dem dritten Stock zu ihr hinabtragen müssen. Gerade noch rechtzeitig erschien Hainar Krumpholz zum Essen. Schabowski flog ihm an den Hals.
„Das riecht exzellent. Haben wir etwas zu feiern?“
„Zwei Monate, zwei Wochen, zwei Tage“, sagte Schabowski. Ihr Lover überlegte und schien die Frist mit den Fingern zu zählen.
„Habe ich einen Termin verpasst?“
„An diesem Tag ist Jerome Charyn fünfundsiebzig geworden.“
„Muss ich den Herrn kennen?“
„Nein, mein Schatz, du sollst dich nur wohlfühlen. Ich will dich nicht verlieren.“
„Ich bin froh, dass ich dich habe!“ Damit legte Hainar Krumpholz ihr den Arm um die Schulter, und sie versanken in einem langen Kuss, den überkochendes Wasser abrupt beendete. „Tisch ist schon gedeckt. Nimm Platz, ich serviere!“ Schabowski verbat sich jede Hilfe des Lovers und setzte sich endlich ihm gegenüber an den Tisch. Sie sahen sich tief in die Augen.
„Womit habe ich das verdient?“
„Es ist schön, dass es dich gibt.“
Sie speisten, kurz unterbrochen vom Anstoßen mit dem guten Muscadet, von beinah unabsichtlichen Berührungen ihrer Finger und von lüsternen Blicken. Schabowski hielt es kaum aus, mit diesem Mann in ihr Bett zu kommen. Dann klingelte es.
„Wer soll denn das sein?“, fragte der Anwalt.
„Ein Klient?“, fragte die Kommissarin, „meine Adresse kennt nur die Personalabteilung und die auch nur gezwungenermaßen.“
Das Klingeln wiederholte sich. Hainar Krumpholz begab sich zur Wechselsprechanlage und kam mit betretenem Gesicht zurück an den Tisch. „Dein lieber Kollege Grischa Merghentin. Und es schien mir, als wäre der nicht allein.“ Krumpholz setzte sich an den Tisch und stürzte seinen Wein.
„Was können die wollen?“
„Vielleicht wollen sie mit dir auf Jerome Charyns Fünfundsiebzigsten anstoßen?“ Ihr Liebhaber stand auf und begann den Tisch abzuräumen.
„Nun warte doch mal, vielleicht klärt sich alles ganz einfach.“
„Aber ich muss ihm doch nicht deine Delikatessen servieren.“
Jetzt klingelte es an der Tür zu Schabowskis Wohnung. Sie öffnete dem Kollegen, der sich in seinem Gefährt aus dem winzigen Fahrstuhl schob. Schabowski blickte ein fremder Mann ins Gesicht und überreichte ihr einen Blumenstrauß.
„Ich habe gesagt, wir können Sie doch nicht einfach überfallen. Vielmals bitte ich um Entschuldigung.“
„Dein Fall duldet keinen Aufschub“, sagte Grischa Merghentin, als er vor Schabowskis Tür rollte. „Wir müssen deinen Mann sprechen.“
„Meinen Mann?“ Schabowski tat erstaunt, sie konnte nicht glauben, dass im Präsidium bereits über sie getratscht wurde.
„Hainar Krumpholz. Benjamin braucht seine Unterstützung.“ Merghentin wies auf den jungen Mann mit den Blumen. „Benjamin Wolter. Seiner Mutter droht Erzwingungshaft wegen zwei Metern Hundeleine.“
„Das is’n Ding“, war Schabowski überrascht.
Benjamin Wolter senkte den Kopf, als solle die Kommissarin ihn salben. „Ich habe gleich gesagt, wir können nicht einfach ... Sicher hat die Frau Kommissarin Besseres vor. Und nun kommen wir mit diesem Fall von kleinem Hund.“
„Ihr könnt euch diese Frechheiten der Behörde nicht bieten lassen! Und Hainar ist der beste Mann dafür“, Merghentins Stimme wurde gar laut.
Schabowski wusste nicht, dass der Kollege ihren Lover duzte. Aber bei diesem Merghentin schien manche Regel der zwischenmenschlichen Beziehungen außer Kraft. Allein wie der jetzt diesem Wolter die Hand fasste, ließ auf mehr als Freundschaft schließen. Dabei war der Merghentin seit Jahren in festen Händen. Der konnte sich doch nicht von diesem netten Kilian Weiß wirklich getrennt haben. Die Kommissarin war in echtem Zweifel und bat die zwei Herren in ihre Wohnung.
„Hier riecht’s aber lecker“, sagte Kollege Merghentin.
„Wir waren beim Essen“, erklärte Hainar Krumpholz, der Teller und Gläser in die Küche trug.
„Ich habe gesagt, dass wir stören ...“ Benjamin Wolter war anzusehen, dass er lieber gegangen wäre.
„Ihr setzt euch ins Zimmer, und ich stelle erst mal die Blumen ins Wasser“, meinte Agnes Schabowski.
In der Küche fragte Hainar Krumpholz: „Was wollen denn diese Tunten bei dir?“ Seinen Worten war deutlich Enttäuschung und Wut anzuhören. Auch er wäre wohl lieber zeitig mit ihr ins Bett gestiegen, schlussfolgerte die Kommissarin. Den abfälligen Ausdruck überhörte sie einfach. Die Diskussion über Political Correctness wollte sie diesen Abend nicht auch noch entfachen.
„Der Grischa ist der netteste Kollege, den du dir vorstellen kannst.“
„Deswegen muss ich ihn doch nicht mit ins Bett nehmen.“
Schabowski ließ Wasser in eine Vase aus weißem Porzellan laufen. „Außerdem wollen die was von dir.“
„Ich kenne den Merghentin gar nicht.“
„Es geht um einen kleinen Hund.“
„Dafür bin ich nicht der richtige Mann.“
„Sie meinen doch.“
Dann gingen die beiden ins Wohnzimmer, wo Merghentin und sein Freund Wolter auf den ihren Fernsehplätzen saßen.
Merghentin fixierte den Anwalt und sagte: „Wir verlassen die Wohnung nicht, bis Sie den Fall von Behördenwillkür und Amtsmissbrauch übernommen haben, Herr Krumpholz.“
„Ein Albtraum!“