26.

„Iswinietje, Gospodin Thorst, aber Ihr immer nur suchen und suchen. Ihr solltet euch freuen, wenn so vieles hier funktioniert. Polizei ist in Ordnung. Staat auch. Nun, ich kennen andere Systeme, wo nicht funktioniert, und Menschen in Angst und Schrecken. Deswegen ich fliehen. Und, Bosche moi, Menschen verschwinden und Menschen kommen auch wieder.“

Sie plapperte, wie sie’s verstand. Thorst Schmitt müsste diese Verabredung bereuen, wenn er sich nicht auf die kommenden Stunden mit Oksana sehr freute. Diese Frau besaß aufgrund ihres Berufes einen schlechten Ruf, aber sie hatte ein Herz aus Gold. Allein wie sie ihm übers Weinglas hin anlächelte … I wanna live, I wanna give, I’ve been a miner for a heart of gold, it’s these expressions I never give, that keeps me searchin’ for a heart of gold, and I’m gettin’ old. Thorst Schmitt sang, ohne dass er es wusste.

In Oksanas Armen konnte der Kriminaldirektor die Zeit vergessen, den Stress und die Misserfolge. Kaum hatte er den Leitungsposten der Kriminalpolizei übernommen, schon häuften sich die Probleme. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vorgänger im Amt auch ständig zu Rapporten, Diskussionen und Anschissen ins Rathaus gerufen worden war. Mal thematisierten die Stadtverantwortlichen die lasche Drogenpolitik, die sie selber beschlossen hatten, mal die hohe Diebstahlszahl, wobei in einer Großstadt mehr passieren musste als in einem Dorf mit zwanzig Einwohnern. Das besagte Logik und Wahrscheinlichkeit. Aber selbst diesen rationalen Argumenten zeigten sich die Verantwortungsträger nicht immer aufgeschlossen. Besonders lag ihnen die Aufklärungsrate bei den Gewaltdelikten am Herzen. Welches Bild vermittelt unsere Kriminalitätsstatistik? Chicago des Ostens? Allein die Rate der unaufgeklärten Verbrechen steigt und steigt. Da muss was dran geändert werden! Schmitt, Sie sind der Kriminaldirektor. Nicht nur Schwäblein-Kunz hatte sich angelegentlich in Rage geredet. Mord und Entführung, Missbrauch und Totschlag waren auch die Themen, die in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Hönig, die Biederstedt, Bild, Alexander Grunow waren auf der Spur und berichteten täglich. Und so waren die Männer vom Amt gezwungen nachzufragen, natürlich ist ihnen dann schwer verständlich, dass der Mörder eines jungen Mannes aus der Travestieszene frei herumläuft und eine alte Frau verschwunden bleibt und und und ... Was sollte Thorst Schmitt dazu sagen? Er ermittelte nicht mehr in der Mordkommission, er vertraute seinen Kollegen, er fühlte sich als einer von ihnen. Aber die Verbrechen, die gegenwärtig die lokale Presse beschäftigten, waren bislang ungeklärt. Ein unliebsamer Fakt, den er selbst gern geändert hätte.

Die Kollegin Schabowski hatte zumindest Initiative ergriffen und war dem Verdächtigen mit Bulldozern zu Leibe gerückt. Mit Kanonen auf Spatzen hatte der knallharte Journalist Joseph Hönig diese Aktion beschrieben, aber die Schabowski hatte zumindest gehandelt. Ganz anders Kohlund und seine Mannen ... Mannen? Der Direktor musste trotz allen Frustes kurz lächeln. Oksana betrachtete es wohl als Kompliment, so wie sie ihm zurückzwinkerte. Die Mannen der Mord zwo bestanden zurzeit aus Lars Kohlund und einem schwulen Rollstuhlfahrer. Schmitt berichtigte sich also in Gedanken und griff zur Hand Oksanas I wanna live, I wanna give, I’ve been a miner for a heart of gold, ...

Kohlund und sein halber Mann hingen in den Ermittlungen fest. Dabei bot dieser Fall nach der persönlichen Meinung des Direktors viele Ansätze: Strichermilieu, Schulsituation, familiäre Verhältnisse, auch eine Zufallstat war denkbar. Doch wenn Kohlund zum Fall Eike Proksch bei ihm rapportierte, hörte es sich an, als gäbe es keine Spuren. Logisch war Schmitt da als Direktor laut geworden, hatte qua Position und Verantwortung laut werden müssen: Was denkst denn du, wie die mir vom Rathaus an den Eiern zerren? Ich komme mir vor wie der letzte Depp! Ich brauche Erfolge, mein Lieber! Der Fall muss schleunigst geklärt werden. Entgegnete ihm doch der Kohlund: Wir klären den Fall, kann nur dauern. Schmitt hätte aus dem Anzug springen können, aber er hätte an Kohlunds Stelle nichts anderes zu seinem Kriminaldirektor gesagt. Thorst Schmitt gehörte immer noch zur Truppe, dachte wie sie.

Oksana zog ihre Hand zurück und führte sie mit Gabel und Bissen zum Mund. Dann sprach sie: „Weißt du, Gospodin Thorst, wenn du meine Leute in Dorf zu Hause fragen, ob sie wissen, wo ich heute lebe ...“ Sie sah ihn mit großen Augen über den Tisch hinweg an. Er bemerkte, dass ihr Lippenstift am linken Mundwinkel etwas verschmiert war. Sie trug das Karmesinrot der Russinnen, obwohl Oksana aus der Ukraine gebürtig war, wie sie betonte. Dann schüttelte Schmitts Begleitung ihren schönen Kopf. „Nein, sie wissen nicht, dass ich in Deutschland arbeite und lebe so gut wie niemals in Ukraine. Sie wissen nicht, und sie sollen nicht wissen. Ich fertig mit Präteritum, wie sagt man deutsch? Vergangenheit.“ Oksana stach ins nächste mit Schinken ummantelte Spargelröllchen. „Vielleicht ist die verschwundene Frau einfach gegangen, weil sie nicht ausgehalten hat zu Hause und wollte besseres Leben.“

„Oksana, die Frau ist Ende siebzig und verstand diese Welt nicht mehr. Wohin soll die denn gehen?“

Oksana schob sich die Gabel erneut in den Mund, und er hörte sie schmatzen. Ihre Augen blitzten. Er griff zum Bierglas. „Gehen ist immer besser als sitzen bleiben und fett werden.“

„Solche Frechheiten werden vom Honorar abgezogen!“

Was dachte diese Nutte denn, wer sie war? Sie konnte doch den Kriminaldirektor nicht belehren. Doch Oksana tat dies auf so charmante Weise, dass Thorst Schmitt geneigt war, auf den vereinbarten Preis noch zwei Scheine draufzulegen.

Aber er war ja selbst schuld, wenn diese Frau blödes Zeug über die Polizeiarbeit quatschte. Was musste er ihr auch seine beruflichen Probleme auf den Hals binden. Schmitt fehlte seine Ex, obwohl sie mittlerweile seit fünfzehn Jahren geschieden waren, und Gabriele seit gut fünf unter der Erde lag. Aber der Schmitt vermisste einen Menschen, mit dem er über alles reden konnte: Wie er sich fühlte. Was ihn belastete. Wie er sich seine Zukunft vorstellte. Und sein Geld immer nur für sich alleine ausgeben, machte dem Direktor keinen Spaß. I wanna live, I wanna give, I've been a miner for a heart of gold, ... Oksana war ihm ein Ersatz für Familie und Zusammenleben, wenn auch einer, mit dem der Direktor sich sehen lassen konnte. Nur nachfragen durfte halt niemand, wer diese attraktive Frau war. Schmitt wäre zum Gespött der Stadt geworden. Die Nutte machte professionell in Konversation, litt nicht mit, forderte nichts – er war ihr Kunde. Der Kunde ist auch im Gewerbe König. Zumindest meistens.

„Noch einen Wein?“, fragte Schmitt.

Oksana schüttelte den Kopf. „Ich denken, du einen Wodka? Ich glaube, Gospodin Thorst, hat ihn nötig.“ Und Oksana lächelte wie die Verführung persönlich. „Und ich trinken einen mit, mit meinem Direktor.“ Der Direktor nickte und winkte dem Kellner.

Oksana hatte so recht, Thorst Schmitt hatte mehr als einen Wodka nötig. Wenn sein Verhältnis zu dieser Nutte hier aufflog, nicht auszudenken. Denn natürlich konnte der Kriminaldirektor nicht offiziell in den Puff gehen, als Mitglied der Mord zwo hatte er Oksana heimlich besucht. Aber es hätte keinen wirklich gestört. Aber wenn ihn jetzt in seiner Position durch Zufall die Biederstedt, Bild, oder der Hönig begegnete, gäbe es Schlagzeilen, die er nicht dementieren konnte. Kriminaldirektor als Lude – Neuer Sachsensumpf? Aber menschliche Nähe war Thorst Schmitt gerade in Stresssituationen wichtig. Eine streichelnde Hand, ein flüchtiger Kuss, nette Worte und Sex. Vielleicht ging es Thorst Schmitt in seiner Beziehung mit Oksana nur darum. I wanna live, I wanna give, I’ve been a miner for a heart of gold, ... Heute war ihm nach Ficken gewesen, und so hatte er Oksana Bajubarowa ans Wahrener Rathaus bestellt und sie in seinen BMW geladen und war über Land gefahren. Sie hatten Sachsen verlassen. Wer weiß, ob im eigenen Bundesland nicht doch irgendwer die Meldeformulare durchlas und auf die Verbindung Schmitt-Bajubarowa stieß. Sicher ist sicher. Jetzt saßen sie sechzig Kilometer von Leipzig entfernt, nah an einem Fluss in einem gemütlichen Landgasthof, der auch Zimmer vermietete. Schmitt freute sich auf diese Nacht, sie vermittelte ihm wenigstens ein Gefühl von Familienleben.

„Zwei Wodka!“

Der beflissene Kellner erwähnte eine stattliche Reihe traditioneller Marken, die sie hier ausschenken würden. Oksana traf die gute Entscheidung.

„Sehr wohl, die Herrschaften“, damit entfernte sich das devote Bedienungspersonal.

Schmitt besah sich seine Begleitung und war jedes Mal wieder überrascht, wie sehr ihn Oksana erregte. Sie erinnerte ihn an die junge Claudia Cardinale. Libera, amore mio. Und wenn er sie im Profil sah, war es die Bergmann. Ich kämpfe um dich. Und bei hässlichen Gelegenheiten meinte der Direktor, in Oksana Baba Jaga erkennen zu können. Bereut hatte er seine Wahl nie, ausgerechnet mit dieser Nutte aufs Zimmer gegangen zu sein. Wie viele Jahre kannten sie einander nun schon? Manchmal dachte der Direktor, dass er sich kaum eine andere Partnerin vorstellen konnte, die besser an seine Seite passte. Oksana machte ihm nie einen Vorwurf. Mäkelte nicht, gab immer nur Liebe und stellte nie eine Frage. Und wenn sie ihm mit dem Finger drohte, war es ein Scherz: Gospodin Thorst! Oksana war ihr Geld wert. Schade, dass der schnelle Gang in den Puff als Direktor nun nicht mehr so einfach möglich sein würde. Fortan musste Schmitt sein Sexualleben planen, allein die Fahrt über Land kostete gut eine dreiviertel Stunde. Beim Wirt hatte er sich mit falschem Namen gemeldet. Der hatte genickt. Ob er sich anderes gedacht hatte, hatte der Kriminaldirektor nicht erkennen können.

„Was meinst du mit Menschen verschwinden und Menschen kommen auch wieder?“, fragte Schmitt, um das Gespräch am Laufen zu halten.

„Manchmal erscheinen Menschen, die keiner kennt, und die sich selber nicht kennen.“

Die Nutte philosophierte, und Schmitt verstand kein Wort. Dieses Phrasengedresche hatte er bereits im Staatsbürgerkundeunterricht nicht ausstehen können. Schmitt war für Fakten, Fakten und Geständnisse klar auf den Tisch, kein Drumrumgerede, kein Geschwafel. Deswegen hatte er diese Politiker satt und hatte manchmal den Eindruck, dass die Staatsmänner selber nicht wussten, was für Gülle sie sprachen. Manchmal erscheinen Menschen, die keiner kennt, und die sich selber nicht kennen. Aus welchem Roman stammte denn diese Sentenz? Der Turm? Naked Lunch? Krieg und Frieden? Seit drei Monaten lag ein Roman auf Schmitts Nachttisch, von dem er den Titel vergessen hatte. Der Turm? Naked Lunch? Krieg und Frieden?

„Was soll denn das heißen?“

Oksana schaute, als wäre Schmitt Kleinkind. „Du dich nicht erinnern? In Britannia da schwamm ein Mann aus dem Meer, der nichts von sich wusste, aber wundervoll Klavier spielen konnte. Ein Genie, das vom Himmel gefallen. Eine Sensation: Der Pianist ohne Gedächtnis.“

Schmitt erinnerte sich dunkel an diesen Fall. „Das war ein Betrüger, der großes Geld absahnen wollte.“

„Mag sein, Gospodin Thorst, mag sein. Ich wollte nur sagen, wenn Menschen verschwinden, tauchen woanders auch welche auf.“

„Das ist dummes Geschwätz. In ganz Deutschland ist kein unbekannter Mensch aufgetaucht, und erst recht nicht ein unbekannter Pianist aus dem Meer.“

Oksana ließ sich nicht beirren. Sie nahm vom Bäckerbrot und den hausschlachtenen Fleischwaren, die das Hotel anpries. Der Speck in der Blutwurst leuchtete weiß. „Aber hast du geguckt, ob in Holland oder Finlandia eine alte Frau angefunden worden ist?“ Oksana schaute ihn an, als hätte Schmitt seine Arbeit verschlafen.

„Wie hätte Gerlind Hopstock denn dort hinkommen sollen?“

„Was weiß ich“, sagte Oksana und biss ins fette Brot. „Ich meine ja nur. Vielleicht bestellst du noch einen Wodka, auf einem Bein ich schlecht schlafe.“

I wanna live, I wanna give, I've been a miner for a heart of gold, ...