Oksana gab kleine Schnarchlaute von sich. Sie lag neben ihm und hatte die Bettdecke bis unters Kinn gezogen. Kriminaldirektor Thorst Schmitt jagten Gedanken. Er konnte nicht schlafen. Er hatte eine Idee, aber keinen Ansatz und keine Möglichkeit professionell zu recherchieren. Einzig das I-Phone stand ihm zur Verfügung, mit dem er ungern arbeitete, weil allein seine Fingerkuppen meist mehr als eine Taste berührten. Aber Schmitt spürte, Oksana hatte ihm einen Hinweis gegeben, der den Ermittlungen im Fall Gerlind Hopstock eine neue Richtung geben konnte. Manchmal erscheinen Menschen, die keiner kennt, und die sich selber nicht kennen, hatte Oksana gesagt, und Oksana hatte recht. Es gab Fälle, wo ein Mensch auftauchte, den keiner zu kennen schien: Kaspar Hauser, die Familie des Herrn Fritzl, Ray der Waldjunge. Der Pianist ohne Gedächtnis: Es war ein winterlicher Sturm, der die englische Grafschaft Kent in der Nacht zum 8. April heimsuchte. An der Strandpromenade der Isle of Sheppey fuhr ein Streifenwagen zur späten Stunde seine letzte Patrouille. Schneeregen legte sich über die Küste und ließ die Temperaturen fallen. Irgendwo in der Ferne taumelte ein Mann, der in einem vollkommen durchnässten schwarzen Anzug steckte und eine dunkle Krawatte trug. Der Mann schwieg. Er sprach nicht ein einziges Wort, als die Polizisten ihn kurz nach Mitternacht aufgriffen und in die Notaufnahme des Medway Maritime Hospital in Gillingham brachten. Wochenlang hatte die Welt über das Schicksal dieses Herrn spekuliert. Fakt war nur, er redete kein Wort. Geblieben schienen dem hochgewachsenen Mann mit den steil aufragenden blonden Haaren nur seine Erinnerungen an die Musik. Auf ein Blatt Papier zeichnete er, anstatt zu sprechen, ein Podium, auf dem ein Flügel stand. Scharfsinnig vermutete man sofort, dass es sich bei dem Stummen um einen Pianisten handeln könne, der einen Nervenzusammenbruch erlitt und so sein Gedächtnis verlor. Das Krankenhauspersonal führte den schweigsamen Blonden in eine Kapelle und setzte ihn an ein Klavier. Wunderschön sei seine Musik, hieß es, Tschaikowskys Schwanensee will eine Krankenschwester erkannt haben. Nach vier Stunden musste man ihn mit Gewalt vom Klavier trennen. Geschichten, die das Leben schreibt. Keinem Drehbuchautor hätte man diese Story abgekauft. Der anfangs so rätselhafte Fall von Amnesie scheint nicht mehr als eine große Täuschung zu sein. Der Pianist habe niemals wirklich unter Gedächtnisverlust gelitten ... Er sei ein Deutscher, sagte er, homosexuell und Sohn eines bayerischen Bauern. Außerdem habe er noch zwei Schwestern. Mit dem Eurostar-Zug soll er von Paris nach Großbritannien gereist sein. In Frankreich, wo der einst sprachlose Pianist arbeitete, verlor er seinen Job. Als die Polizei ihn am 8. April in einem durchnässten Abendanzug und ohne Papiere am Strand von Kent aufgriff, soll er kurz vorher versucht haben, sich umzubringen. Offenbar erlitt er ein psychisches Trauma und sprach nicht mit der Polizei.
Eine demente Frau, die in Leipzig verschwand, konnte anderswo aufgetaucht sein. Auf Fragen würde sie keine Antwort geben oder ihre Antworten blieben Rätsel, denn ein verwirrtes Hirn blieb selbst für Spezialisten schwer entschlüsselbar. Die Schabowski und ihr Kollektiv hatten alle möglichen Fälle in den deutschen Bundesländern recherchiert, die auf diesen Fall zu passen schienen. Ihnen war kein Erfolg beschieden. Den Pianisten ohne Gedächtnis hatten sie an der Englandküste aufgegriffen. Hast du geguckt, ob in Holland oder Finlandia eine alte Frau gefunden worden ist?, hatte Oksana gefragt. Nein die Ermittler hatten nicht geguckt, ob in Holland, Finnland, Tschechien oder Frankreich eine verwirrte Alte aufgefunden worden war, denn wie sollte Gerlind Hopstock dorthin gekommen sein. Nichtsdestotrotz, Schmitt erschien dieser Gedanke ein praktikabler Ansatz, der zumindest einer Recherche bedurfte. Blieb auch diese ohne Erfolg, dann hatte er es wenigstens probiert.
Zunächst stand der Kriminaldirektor vor der Frage, wo war in einem solchen Fall der Ansatzpunkt. Er verstand keine der Sprachen aus den Nachbarländern. Vielleicht hätte ihm im slawischen Raum Russisch etwas geholfen, aber es war eines der Unterrichtfächer gewesen, das er nie ernst genommen hatte. Menja sawut Thorst. Mne pjatdesjat let. Die Altersangabe stimmte nicht mehr, doch wusste er seine gegenwärtige nicht fremdländisch zu benennen. Ja, in Englisch wäre das kein Problem, fifty und Äppelstückchen. Vielleicht sollte er es englisch versuchen. Denn dass Medien Schlagzeilen auch in dieser Sprache veröffentlichten, war Schmitt sich sicher. Crime, old woman, Dementia, würden die Stichwortliste anführen. Thorst Schmitt drückte sich in den Modus der Suchmaschine.
Das Internet war voll von verschwundenen Leuten. Nicht nur Polizeibehörden suchten nach Vermissten. Fernsehformate halfen. Personensuche.de. XY ungelöst. Initiative Vermisster Kinder. Auch Betroffene stellten Fotos der Verwandten online. Madleine McCann gab über sechs Millionen Treffer. Schmidt war der Erfolg dieser Versuche fraglich, doch es war nachzuvollziehen, dass man alle Wege nutzte, um Menschen wiederzufinden. The Lewiston Police Department said an elderly woman with dementia has been located and is with family members. 81 year old Marjorie E. Wilson went missing at approximately 9:30 a. m. Monday in the area of the 2000 block of Hemlock Avenue. Diese verirrte Frau hatten sie schnell aufgegriffen. Aber wie Gerlind Hopstock blieben auch Menschen verschwunden. Professionelle Webseiten suchten. We are a lifeline when someone disappears. We are caring and highly trained staff and volunteers working in collaboration with partners across the UK. For those left behind, we provide specialised support to end the heartache and confusion and search for their missing loved one. With partners across the UK – das nützte dem Leipziger Kriminaldirektor wenig. Außerdem war er sicher, dass auch seine Mitarbeiter den Fall Gerlind Hopstock online gestellt hatten und die Bevölkerung auf diesem Wege um Mithilfe baten. Aber ohne selbst betroffen zu sein, schauten User nie nach solchen Fällen. Und all das in Ländern des Commonwealth. Für Polnisch, Tschechisch und Französisch fehlten Schmitt die Vokabeln. Außerdem wollte er zu weltweit vermissten Personen recherchieren, er suchte Gerlind Hopstock und wollte Hinweise erhalten, ob eine unbekannte Frau, auf die deren Beschreibung passte, in einem Nachbarland aufgefunden worden war. Doch um Unterstützung bei der Identifizierung gedächtnisloser Personen wurde nirgendwo gebeten. Jedenfalls sah Schmitt es so. Er surfte ohne eigentliches Resultat und vermisste den bequemen Sessel und seinen Großbild-Monitor auf dem Schreibtisch. Mit diesem kleinen Ding in der Hand online zu gehen, hatte er bislang nur in Notfällen getan. Jetzt hing er schon über eine Stunde im Netz. Ihm schmerzten die Augen. Oksana drehte sich auf die andere Seite, schaute kurz zu ihm auf, warf einen Kussmund und versank wieder im Schlaf. Der Kriminaldirektor öffnete sich aus der Hausbar ein Bier.
A Melbourne police officer reprimanded for deliberately disabling the dashboard camera in his patrol car, before confronting a 66-year-old man suffering from dementia, could face additional scrutiny as the city prepares for a potential lawsuit. Diese Meldung wurde mit einem Video unterstützt. Ein kräftiger Mann in Uniform schlug ohne erkennbaren Grund auf einen wehrlosen alten Mann ein. Ein typischer Fall von Polizeiübergriffen, die regelmäßig für kurze Zeit Schlagzeilen bestimmten, aber schnell wieder vergessen wurden. Aber auch von Misshandlungen an Alten hörte man immer wieder. Wenn Gerlind Hopstock ins Ausland gefahren war und dort verstorben wäre, müsste Schmitt nach anderen Kriterien die Suche gestalten. Vielleicht war die alte Frau einem Verkehrsunfall erlegen, vielleicht einem Herzschlag. Es gab Grabstätten mit unidentifizierten Toten. In Wien existierte ein ganzer Friedhof der Namenlosen. Verunfallte und Selbstmörder, die von der Donau angeschwemmt wurden, ohne dass man je erfuhr, wer sie gewesen waren. Alle die sich hier gesellen, trieb Verzweiflung in der Wellen kalten Schoß. Drum die Kreuze, die da ragen, wie das Kreuz das sie getragen, „Namenlos“.
Unidentifizierte Leichen gab es viele. Bei der Identifizierung einer unbekannten toten Frau bittet die Polizei Berlin die Bevölkerung um Unterstützung. Am 19. April 2012 wurde die Leiche im Spreekanal in der Straße Am Kupfergraben aus dem Wasser geborgen. Die intensiven Ermittlungen der Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes führten bislang nicht zur Klärung der Identität. Von der Toten wurde eine Zeichnung erstellt. Zudem trug die Frau eine Kette mit einem Anhänger. Mit der Veröffentlichung dieser Bilder wird nun die Bevölkerung um Mithilfe gebeten. Die Frau ist 35 bis 60 Jahre alt, etwa 165 cm groß und wiegt rund 60 Kilogramm. Sie hatte rotbraune, schulterlange Haare und trug eine feingliedrige, goldfarbene Kette um den Hals. An dieser befand sich ein rechteckiger, goldfarbener Anhänger mit einem kleinen Stein sowie verschnörkelten Buchstaben.
Die unbekannten Toten Deutschlands hatte die Schabowski mit dem Team regelmäßig abgeglichen. Die Tote aus Berlin war nicht Gerlind Hopstock. Schmitt musste über die Grenzen ins Ausland. Vielleicht ergaben sich dort Hinweise auf die Vermisste. Schmitt fand Todesfälle Deutscher in Nepal, Mexico und Indonesien. Ein Jugendlicher war in Łodz tot aufgefunden worden. 20-jährige Kemptener Student, Patrik Stopp, der mit einer größeren Gruppe von Motorradfahrern zu einer Tour, die über Dresden führte, unterwegs war, wird seit Montag, 14. Juni, vermisst. Als letztes Lebenszeichen des Vermissten ist der Kriminalpolizei Kempten bekannt, dass sich sein Handy am Vormittag des 14. Juni im Bereich Dippoldiswalde, nahe der tschechischen Grenze, eingeloggt hat. Seitdem fehlt von dem jungen Mann jegliche Spur. Der junge Allgäuer sei mit einer Gruppe von 20 Motorradfahrern im Bereich Dresden unterwegs gewesen und sei am Montag vor zwei Wochen vermutlich gegen 6 Uhr von Dresden alleine weggefahren, um ins Allgäu zurückzukehren. Nachdem er sich von der Gruppe getrennt hatte, versandte er von seinem Handy aus noch zwei Kurzmitteilungen. In der einen erklärte er seiner Freundin, dass er nach Hause kommen würde. In der zweiten berichtete er einem Bekannten, dass er sich verfahren habe. Seine Standorte teilte er jeweils nicht mit. Laut den Ermittlungen der Polizei hat sich sein Handy gegen 10 Uhr am besagten Tag in der Nähe der tschechischen Grenze eingeloggt. Der Vermisste wird als sehr zuverlässig beschrieben. Ein Unglücksfall oder ein Verbrechen kann derzeit nicht ausgeschlossen werden. Die tschechischen Behörden sind in die Ermittlungen eingebunden. Das Motorrad, mit dem er unterwegs ist, ist eine Suzuki 600 GSX mit dem amtlichen Kennzeichen KE-NA 5. Bereits zwei Tage nach seinem Verschwinden am 14. Juni 2004 war seine Leiche in der polnischen Stadt Łodz gefunden worden. Allerdings konnten die dortigen Behörden den Toten nicht identifizieren. Die Ermittlungen waren erst wieder ins Rollen gekommen, nachdem genau ein Jahr nach seinem Tod das Motorrad des 20-jährigen Allgäuers in Polen in einen Verkehrsunfall verwickelt war. Nach Angaben der Polizei könnte es sich um einen Selbstmord handeln. Zumindest gehen davon die polnischen Behörden aus. Diese nehmen an, dass der junge Mann von einem Hochhaus gesprungen ist. Das Bundeskriminalamt will die genaue Todesursache noch feststellen. DNA-Proben bestätigten die Identität der Leiche.
Gerlind Hopstock stammte aus Breslau, war durch die Kriegswirren nach Leipzig verschlagen. Es lag nah, dass Schmitt diese Kombination probierte. Dass er auf kompatible Hinweise stieß, mochte er nicht glauben, er drückte den Modus Diese Seite übersetzen. Die Wrocławer Kriminalpolizei bat um Hilfe mit Identifizierung einer unbekannten Toten. Ein ältrisches Weibsbild ohne Ausweispapiere und Merkmale, die auf ihren Namen schließen ließen, war Opfer eines räuberischen Mordes geworden. Die Täter gestehen und verwahrt. Doch blieb der Fall ohne eigentliche Aufklärung: Der Name dieser Toten bleibt abhanden bis heute.
Schmitt hatte Daten. Schmitt fand Fotos. Schmitt öffnete Seiten, die ihm sein Arbeitgeber verboten hätte. Schmitt betrachtete Artikel und Bilder und bedauerte jetzt noch mehr, dass er auf einen nur handtellergroßen Bildschirm starrte. Aber Schmitt hatte das Gefühl eines Jägers, wenn er seine Beute erlegte. Er hatte eine Spur entdeckt, die die Ermittlungen der Schabowski auf neue Wege lenkte. Vielleicht waren diese endlich erfolgreich. Auch wenn der erfahrene Kriminalist seinem Gefühl sofort misstraute: Wie sollte eine demente Frau eine Reise an ihren Geburtsort unternehmen, ohne dass ihre Familie die organisierte?
Doch das waren Fragen, die einen Kriminaldirektor nicht beschäftigen mussten. Das verantwortliche Team der Mord zwo war jetzt gefragt. Aber Thorst Schmitt wollte und konnte nicht Kollegin Schabowski ihre Ermittlungen vorschreiben. Die würde das als Einmischung in ihre Richtlinienkompetenz empfinden. Das ohnehin ungute Verhältnis zwischen ihnen würde einen weiteren Bruch erleiden. Schmitt musste einen Weg finden, der Schabowski unaufdringlich von seinem Erfolg zu berichten. Zdobyć coś fuksem!
Schmitt fühlte sich voller Tatendrang und guter Laune. Oksana kam nicht mehr zum Schlafen. Über ihren Preis wurden sie sich einig.