Der Wind bewegte die dürren Halme. Sand staubte auf und wurde weiter getragen. Am Himmel zogen Wolken, als spielten sie Hasche. Zum Draußensitzen verlockte dieser Tag keineswegs, es war zu kalt. Doch Merghentin hatte schon bei ungemütlicherem Wetter bei Frankie am Badestrand gesessen. Es war dem Kommissar zur Gewohnheit geworden und ein wenig zur Pflicht, wenn er für Stunden keine Verpflichtungen hatte. Zu Hause wartete selten einer seiner Freunde auf ihn: Benjamin diskutierte mit Hainar Krumpholz über die Erfolgschancen gegen Dr. Christoffer Wenzke und das Landratsamt. Ihre Strategiespiele füllten Hefter. Es ist immer eine Herausforderung, gegen Behörden zu kämpfen! Kollegin Schabowski fühlte sich unbefriedigt und gab ihm, Merghentin, dafür die Schuld. Die er nicht tragen wollte. Auch Kilian Weiß litt unter Zeitnot. Er machte Überstunden, seitdem seine Firma rote Zahlen schrieb. Kilian fürchtete seine Entlassung und tat sein Möglichstes, die zu verhindern. So waren gemeinsame Stunden zu dritt oder zweit nicht mehr Alltag, und an Leidenschaft hatte diese menage á trois seit ihrem orgiastischen Beginn auch merklich eingebüßt. Trotzdem hatte diese Abkühlung im Privaten an Merghentins überschäumenden Glücksgefühlen wenig zu ändern vermocht.
Frankie trat bullig aus seinem Imbisswagon und servierte Merghentin einen dampfenden Kaffee. „Extra stark.“ Der Kommissar hätte lieber einen Glühwein genommen. Frankie hatte ehrlich bedauert, diesen nicht mehr und noch nicht wieder im Angebot zu haben. „Hätte man bei diesen Temperaturen auf Vorrat kaufen müssen, aber wer konnte denn ahnen ...“
„Schon gut, Frankie, schon gut, war’n Scherz.“ Merghentin nippte am ultra Heißgetränk und überlegte, wie lange er nun schon hier seine Zeit totschlug, um auf Jean-Claude Wöhler zu warten.
Es war nicht gewiss, aber der Kommissar ahnte, dass der Junge hier am See wieder auftauchen würde. Denn auch nach dem Fund von Eike Prokschs Leiche hatte Frankie ihn von seinem Badestrand aus beobachtet. Als er ihn wiedersah, hatte sich der Buffetier an Merghentins Visitenkarte erinnert und dem Kommissar eine MMS mit unscharfen Bildern gesendet und dazu geschrieben, dass der von ihm beschriebene Knabe wieder am Badestrand erschienen sei und trotz Absperrung in den Zwenkauer See hin zur bewussten Stelle marschiert wäre. Und auf diesen Fotos hatte Merghentin, zwar unscharf, aber eindeutig Jean-Claude Wöhler erkannt. Kein Zweifel war für Merghentin möglich. Und das ließ nur einen Schluss zu: Jean-Claude Wöhler hatte also schon vor der Entdeckung der Leiche gewusst, wo Eike Proksch zu finden war: im Tagebausee. Frankies Fotos waren endgültig der Beweis, dass dieser Junge mehr wusste, als Vater und Anwalt ihm zu sagen erlaubten.
Merghentin hatte überlegt, dem jungen Wöhler seine Vermutung direkt ins Gesicht zu sagen und auf dessen Reaktionen zu achten. Aber solch intuitive Ermittlung hatte vor Staatsanwalt und Gericht keine Chance, gewertet zu werden. Außerdem hätten Dr. Wöhler und Dr. Alhaus sofort Widerspruch eingelegt. Aber wenn Eikes Klassenkamerad Wöhler stets wieder zum Zwenkauer See an das Grab fuhr, war anzunehmen, dass Merghentin ihn eines Tages dort antraf. So saß der Kommissar fast täglich hier draußen und ließ sich von Frankie bedienen. Ein bisschen erinnerte ihn seine eigne Ermittlung an die Methoden Maigrets. Merghentin war sogar stolz auf seinen Vergleich: Ich bin der Maigret am sächsischen See. Toller Reim!
Die nicht verkauften Back- und Kochwunder von Frankies Ehefrau Sabine hatte Merghentin bereits mehrmals zum Schleuderpreis mit nach Haus genommen. Aus hygienischen Gründen durfte die der Badestrand anderntags nicht mehr feilbieten. Kilian und Benjamin hatten nie nach der Herkunft dieser Delikatessen gefragt, auch wenn die nicht so billig wie aus einem Discounter aussahen und vor allem ganz anders schmeckten. Manchmal fragten Kilian und Benjamin, wann er denn wieder diese Leckereien mitbringen könnte. Merghentin musste aufpassen, nicht zum Laufburschen für seine Partner degradiert zu werden. Er war derzeit von ihnen der Einzige mit festem Gehalt.
Wenn Kommissar Merghentin Jean-Claude Wöhler hier am Leichenfundort von Eike Proksch antraf, dann konnte er den Jungen mit seinem Wissen unter Druck setzen und vielleicht zu einem Geständnis bringen. Merghentin war sich sicher, dass Jean-Claude so unschuldig nicht war, wie er tat. Eike Proksch war bei der Fete in seinem Hause zuletzt gesehen worden, und Merghentin konnte nicht glauben, dass Wöhler nichts vom Verschwinden des ungebetenen Gastes bemerkt hatte. Vielleicht hatte er mit den Kumpels Proksch mit Gewalt vertrieben. Vielleicht war es zu einem Streit um Marisa Schwerdtner gekommen. Vielleicht endete eine Meinungsverschiedenheit aus anderen Gründen tödlich. Vielleicht, vielleicht auch nicht ... Der Kommissar hatte für all die ihnen bekannten Fakten wieder und wieder nach Erklärungen gesucht. Einen schlüssigen Grund hatte er für Eike Prokschs Tod nicht finden können. Frankies MMS-Fotos aber bewiesen: Jean-Claude Wöhler wusste, dass die Leiche hierher verbracht worden war, denn wie sonst hätte er zu dieser Stelle im Zwenkauer See fahren können, um zu schauen und zu gedenken. Denn Wöhler war auch schon vor Ort gewesen, als die Leiche noch gar nicht entdeckt worden war.
Nun saß der Kommissar beim Kaffee und fror. Sabines freundliche Einladung hinter die Theke zu kommen, hatte Merghentin abgelehnt. In dem engen Gang hätte er die Büffetiers nur behindert. Und Frankie und Sabine hatten bis zum Ende ihrer Öffnungszeit 20 Uhr noch viel zu tun. Stets stiegen Fahrer aus ihren Autos und Bauarbeiter tranken ihr Feierabendbier hier an ihrem Badestrand. Merghentin wurde mittlerweile als einer ihrer Stammgäste akzeptiert. Mehrere Kunden konnten sich auch an den Jungen erinnern, als Merghentin ihnen Jean-Claude Wöhlers Porträtfoto zeigte. Manche hatten geglaubt, der Junge jage hier Kaninchen oder er erforsche für ein Biologieprojekt die Natur. Aber eigentlich hatte von den Zeugen keiner diesen Jungen bei Arbeit oder Notizen beobachten können. Der saß immer nur auf seinem Fahrrad oder ließ das irgendwo liegen und lief geradewegs über die aufgeschüttete Erde. Eigenartig fanden viele dieses Verhalten. Aber der Junge tat nichts Verbotenes, und er war in diesem blöden Alter, wo die Probleme der ganzen Welt auf einen zustürzen. Vielleicht war der Junge auch nur unglücklich verliebt. Was fast dasselbe ja ist. Getrunken hat er manchmal eine Cola, gesprochen hat er kein Wort.
Und dann sah Merghentin den Gesuchten. Jean-Claude Wöhler saß optisch auf dem Hinterrad seines Bikes und blickte nicht zum Badestrand, sondern auf den Dreck im Zwenkauer See. Der Kommissar verfolgte die Fahrt über Schotter und Sand. Er selbst fuhr Jean Wöhler nicht hinterher, er blieb in der Ferne, um Jeans Verhalten zu beobachten. Der Junge sollte nicht in Stress und Hektik geraten. Dass Wöhler in den See blickte, war nicht ungewöhnlich. Touristen sahen, wenn sie hier entlangspazierten, vielleicht schon Wasser und Wellen, Badende und Ausflugsboote. Doch wenn man wusste, was an der Stelle ausgegraben worden war und wie oft der Junge zu dieser Stelle fuhr, dann kamen Merghentin Zweifel an der Unschuld des Schülers.
Jean-Claude Wöhler legte sein Fahrrad an den Rand des Weges und lief langsam auf das Absperrungsband zu. Dort blieb er minutenlang stehen. Ein Junge weint nicht, musste Merghentin denken. Wind blies. Staub wirbelte. Gäste verließen Frankies Badestrand.
Als wäre der Blitz in ihn gefahren, so plötzlich rannte Jean-Claude Wöhler den Weg zu seinem Fahrrad zurück. Hatte der Junge den Polizisten bemerkt und floh? Wöhler schwang sich in den Sattel und fuhr mit erstaunlicher Geschwindigkeit weg vom Badestrand der Straße zu. Merghentin war zu überrascht, als dass er seinen Rollstuhl in Bewegung bringen konnte. Auch hätte er dem Biker so schnell nicht folgen können. Der Kommissar war unterlegen, und zu seinem Auto war es ein Stück über holprige Steine, und ehe er den Wagen gestartet hätte, wäre Jean-Claude längst über alle Berge verschwunden gewesen.
„Frankie, Frankie! Dort fährt er, kannst du ihn aufhalten irgendwie?“
Alle Gäste hatten die Szene und Merghentins Reaktion beobachtet und drei, vier von ihnen hatten bereits ihre Fahrräder bestiegen und machten sich an die Verfolgung. Doch Wöhlers Vorsprung war beträchtlich. Frankie rumorte hinter dem Imbiss, schob sein blitzsauberes Motorrad hervor und trat den Motor mit vier kräftigen Fußtritten an. Dann staubte der Platz. Gulaschsuppe und Kaffee wurden ungenießbar. Sabine hatte schnell das Fenster am Wagen geschlossen und blickte hinter der Scheibe auf das Geschehen.
Der Pulk fuhr wie im amerikanischen Western. Die Staubwolke folgte. Merghentin glaubte, Hufgetrappel und Yippi-Yeah-Rufe zu hören. Er sah Frankie die Fahrradfahrer überholen und aus dem Sattel sein Lasso schwingen. Jean-Claude Wöhler versuchte wie panisches Vieh zu entkommen, doch die Schlinge um den bösen Cowboy zog sich zu. Während der Junge ängstlich hinter sich blickte, übersah er wohl einen Stock oder Stein. Er stürzte, Hände nach vorn. Der Kopf ohne Helm. Der Kommissar fühlte sich schuldig an Wöhlers Verletzungen, die er ohne Zweifel davontragen würde. Der Junge konnte nicht wissen, wer da Jagd auf ihn machte. Frankie ging gemessenen Schrittes auf Jean zu, ganz John Wayne oder Gary Cooper. Wöhler stand mühsam auf und klopfte sich Dreck von der Hose. Sie standen sich gegenüber wie Rivalen im Wilden Westen. Einer würde den Colt schneller ziehen. Und plötzlich griff Frankie dem Jungen hart in den Nacken und schob ihn vor sich her zum Badestrand zurück. Die Fahrräder mit den anderen folgten. Nur das Motorrad stand noch in der Prärie.
Nach was für Zeit waren sie am Imbiss angekommen. Noch immer schien Jean-Claude Wöhler nicht zu wissen, was ihm geschah. Ein gebrochener Held. „Sie?“, schrie er in Überraschung, als er an Merghentins Tisch stand. Dann schluckte der Junge, und Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. „Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen, ihr Bullen seid Schweine!“ Er spuckte aus. Die Aule landete knapp neben den Speichen des Rollstuhls.
Jean-Claude Wöhler sah abgekämpft aus, wie er jetzt schmal und in zerrissenen Kleidern schwer atmend, im Gesicht blutend vor Merghentin stand. Hinter dem Jungen hatten seine Verfolger Aufstellung genommen und vermittelten den Eindruck eines Hollywoodfilms, in der die erfolgreichen Krieger den Anführer ihrer Feinde zum Häuptling brachten, um dessen weises Urteil abzuwarten. Der Kommissar kam sich angesichts des verängstigten Jünglings vor diesen kräftigen Männern sehr schäbig vor, wie ein Verräter. Merghentin unterdrückte den Impuls, als Imperator zu winken, dass diese Zuschauermenge verschwand. Doch hatten diese Männer ihm geholfen, dass er Jean-Claude Wöhler überhaupt sprechen konnte. Frankie und seine Gäste hatten ein Recht, das weitere Geschehen zu verfolgen. Aber der Junge würde vor diesen Menschen nichts sagen.
„Willst du mir nicht sagen, was du weißt?“
„Ich weiß nichts“, sagte Jean mit dünner Stimme.
„Ich glaube nicht, dass du ein Mörder bist, Jean.“
„Ich bin kein Mörder.“
„Vielleicht kocht dir Frankie erst mal einen heißen Tee?“
Der Chef vom Imbiss hatte verstanden. Als Frankie zu seiner Küche schritt, gingen auch die anderen Gäste wieder zu ihren Plätzen. Plötzlich schien es, Flucht und Verfolgung gar nicht gegeben zu haben. Der Wind trieb nur Staub und Müll vor sich her.
„Woher wusstest du, dass Eike hier vergraben worden ist?“
„Ich sage gar nichts.“
„Du wirst es sagen müssen, Jean.“
Der Kommissar strich dem Jungen sacht über die feuchten Haare.
Jean wich Merghentins Berührung nichts aus.