31.

Gerlind Hopstock war gefunden! Nach all den Wochen aufopferungsvoller, aber ergebnisloser Recherche hatten sie die alte Frau durch Zufall entdeckt. Gerlind Hopstock war tot. Sie wurde in ihrem Geburtsort Breslau, Polen, ermordet. Die Schuldigen an ihrem gewaltsamen Tod waren schnell gefunden worden. Zwei Jugendliche hatten im Zwang, Geld aufzutreiben, um ihre Drogensucht bezahlen zu können, die alte Frau überfallen, ausgeraubt und dabei zu Tode geprügelt. Die Beute hatte keine zwanzig Euro betragen. Eine geringe Summe und ein Verbrechen, das wenig Schlagzeilen machte. Ungeklärt blieb bei diesem tragischen Fall von Beschaffungskriminalität nur die Identität des Mordopfers. Keiner schien in Wrocław diese Frau zu kennen. Aufrufe in Zeitungen und thematische Sendungen im polnischen TV hatten keinen Erfolg. Letztlich interessierte niemand die unbekannte tote Greisin. Sie war eine Leiche, die keiner vermisste. Auch das gab’s.

Die Mörder von Gerlind Hopstock waren überführt und geständig. Die Beweise erdrückend. Der Fall kam als vorläufig geklärt in die Ablage. Nur im Netz wurde die Namenssuche zum Opfer aufrechterhalten. Auf der Website der Polizei und bei einigen Vereinen, die vermisste Polen suchten, konnte man das Gesicht der unbekannten Toten aus Wrocław betrachten. Dringendere Aufgaben hatten den Fall aus dem Gedächtnis der Breslauer Kripo verdrängt. Bis jetzt. Denn aus Leipzig war diese Anfrage per E-Mail gekommen, sagten die Polizisten vor Ort, und der ganze Fall war ihnen wieder gegenwärtig. Die polnischen Kollegen hatten sich herzlich, wenn nicht euphorisch für die deutsche Amtshilfe und nunmehrige Klärung ihres Falles bedankt. Die Tote hatte endlich einen Namen: Gerlind Hopstock. Auf Fragen antworteten die Kriminalisten in Wrocław: Nein, wir sind nie auf die Idee gekommen, in diesem Fall über die eigenen Landesgrenzen hinaus zu ermitteln. Der Mord schien einfach und war gelöst, wenn auch der Name des Opfers unbekannt blieb. Dass er jetzt geklärt werden konnte, sei Zufall, Freude und ein Zeichen eines immer enger miteinander agierenden Europas. Die Presse würde positive Schlagzeilen haben.

Kommissarin Agnes Schabowski war dieser plötzliche Ermittlungserfolg Strapaze. Sie hatte zur Auffindung der Vermissten wenig oder nichts persönlich beigetragen. Der entscheidende Hinweis wurde anonym gegeben. Michalk hatte die Übereinstimmung der Gesichter festgestellt und die notwendigen Maßnahmen eingeleitet. Ihr als Chefin gebührte kein Lob und keine Sonderprämie. Beides hatte sie vor versammelten Publikum erhalten. Den Glückwunsch vom Stadtdezernenten Schwäblein-Kunz ertrug sie stoisch. Der Händedruck von Thorst Schmitt war ihr zuwider.

Der Fall Gerlind Hopstock und seine unerwartete Auflösung wurden Schabowski immer mehr zum Rätsel. Natürlich blieben manche Details der polizeilichen Arbeit auf ewig ungelöst, aber das waren meist Nebensächlichkeiten, die nicht wirklich interessierten und auf die staatsanwaltliche Beweisführung keinen Einfluss hatten. Aber in diesem vertrackten Fall schienen sich die Unverständlichkeiten stetig zu vermehren. Wer, verdammt noch mal, hatte ihnen diesen Brief geschrieben, der sie in Wrocław auf die Spur ihrer Vermissten brachte? Wie war der anonyme Schreiber auf diese Idee gekommen, die sie selbst nie hatten? Nein, eine verschwundene demente alte Frau war in ihrer häuslichen Umgebung zu suchen und wurde nicht zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Auch die Polen hatten bei der Toten nie im Nachbarland Deutschland ermittelt. Warum auch? Und was überhaupt wollte Gerlind Hopstock in ihrer Geburtsstadt, deren Sprache sie nicht mehr verstand? Und vor allem, wie war sie dorthin gekommen? Nach übereinstimmenden Aussagen der Verwandtschaft war sie kaum fähig gewesen, mehr als einen halben Kilometer selbstständig zu laufen. Die Strecke Wrocław – Leipzig schätzte Schabowski auf mindestens vierhundert Kilometer. Ihre Recherche ergab 372 km, aber das war reine Fahrstrecke. Beim Wandern musste man Umwege in Kauf nehmen. Und wer lief zu Fuß nach Wrocław, wenn nicht auf einer Pilgerreise? Ich bin dann mal weg konnte Gerlind Hopstock nicht sagen, weil sie geistig nicht mehr zurechnungsfähig gewesen ist. Wer hatte sie nach Polen und in ihren Tod gefahren? Eine Zugkarte für diese internationale Verbindung war nachweislich in Leipzig an diesem Tage nicht verkauft worden. Ein Flug dahin war ausgeschlossen, Schabowskis Mord eins hatte alle Passagierlisten geprüft und abgeglichen. Die demente Gerlind Hopstock musste von Leipzig nach Wrocław von jemandem gebracht worden sein. Anders war der Weg für sie nicht zu bewältigen. Aber von wem? Wer wollte, dass sie aus Leipzig verschwand? Wer? Die Gelegenheit, das unauffällig geschehen zu lassen, hatten nicht viele. Im Grunde nur einer: Toralf Fischer. Er hatte ein Motiv, und er hatte alle Möglichkeiten. Das hatte Bastian Michalk dem Verdächtigen längst nachgewiesen. Nur warum hatte Toralf Fischer seine Schwiegermutter nach Polen entführt? Wollte er sie im Ausland entsorgen, vertraute er, dass sie dort keine Fragen nach ihrer Herkunft würde beantworten können? Hoffte er, dass sie in einem polnischen Heim anonym ihren Lebensabend verbrachte? Fuhr Toralf Fischer in der Absicht, sie zu töten über die Grenze, weil dort alle Fragen keine Antwort bringen konnten? Hatte er die beiden Täter gar beauftragt? War es der Plan eines genialen Mörders?

Schabowski stöhnte. Sie lächelte Kollegen Michalk über die Schreibtische hinweg zu. „Wir müssen mit Toralf Fischer reden. Ich habe keinen Zweifel, er ist der Mann, der Gerlind Hopstock nach Polen brachte.“

„Dass Fischer die Schuld am Verschwinden der alten Dame trägt, davon war ich immer überzeugt“, sagte Michalk, und es hörte sich so abwertend an, als hätte Schabowski in ihrer Ermittlungstätigkeit versagt. Ihr Lächeln erstarrte.

Die Chefin der ersten Mordkommission wäre bereit gewesen, den Großteil dieses Fahndungserfolgs Bastian Michalk zuzugestehen. Sie tat es nicht. Schabowski war zu kurz in dieser verantwortungsvollen Position, um ihre engsten Mitarbeiter als Rivalen aufzubauen. Ja, vielleicht hätte sie auch offiziell auf Michalks entscheidenden Anteil an der Aufklärung verwiesen, wenn der sich ihr gegenüber kollegial verhalten hätte. Aber Michalk bastelte an seiner Karriere nicht ganz im Verborgenen und war ihr nach seinen grandiosen Fehlleistungen bereits wieder zu selbstbewusst. So einer würde wie Toralf Fischer für ein bequemes Leben über Leichen gehen.

„Bringen wir den Fall zu Ende, Michalk. Fahren wir!“

Bastian Michalk sprang eilfertig auf. „Einen Wagen habe ich schon kommen lassen.“

Der Karrierist hatte doch, weiß Gott, ihre Aufgaben bereits übernommen. „Sehr vorausschauend, Herr Kollege, herzlichen Dank.“

Michalk hielt seiner Chefin dienstbeflissen die Tür, nur auf eine Verbeugung verzichtete er. Schabowski würde es nicht einfach haben, den übereifrigen Kollegen wieder in die Befehlsstrukturen zurückzuweisen. Michalk fühlte sich zu Höherem berufen. Sie würde ihm den Weg dorthin ab sofort noch schwerer machen. Wer kochte denn am Morgen im Büro eigentlich den Kaffee?

Die Straße vorm Haus der Familie Fischer glich einer Baustelle. Container voller Schutt und Müll standen am Bordstein. Riesige Gruben gähnten im Garten. Eine Kreissäge sah Schabowski, die die gefällten Bäume wohl in handliche Scheite zerkleinern sollte. Die Maschine stand still. Kein Mensch war zu sehen. Die Kriminalisten stiegen aus ihrem Wagen. Der Strecke zur Haustür war erdig, die Gehwegplatten hatte man ordentlich neben dem Treppchen zum Eingang gestapelt. Ihre Mordkommission und Bastian Michalk waren für dieses Chaos verantwortlich, die Chefin verdrängte ihr schlechtes Gewissen. Mit solcher Wucht und zerstörendem Einsatz hätte die Ermittlung nicht stattfinden dürfen. Das Eigenheim der Fischers war keine Wohnstätte mehr, es war ein fast unbewohnbares Provisorium. Der Anwalt der Familie hatte das Beschwerdeschreiben bereits an den Kriminaldirektor gesandt. Offiziell hatte sich bei den Fischers noch keiner aus dem Präsidium für den Einsatz entschuldigt.

Schabowski klingelte. Michalk bezog hinter seiner Chefin Aufstellung und sah sich um, als müsse er gleich eine Waffe ziehen, um den flüchtigen Täter zu stellen.

Die Tür schob sich langsam auf, und aus dem Spalt illerten zwei unstete Augen. Dann wurde die Tür wieder geschlossen. Schabowski hatte Beate Fischer erkannt und klopfte sacht gegen die Scheibe. „Hallo, Frau Fischer. Kommissarin Schabowski. Ich möchte Sie sprechen.“ Die Kommissarin hörte nur Stille im Haus.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Toralf Fischer stand wie der Koloss von Rhodos im Rahmen. Eine Lederschürze um den Bauch gebunden, Handschuhe ließen seine Hände riesig erscheinen. Wahrscheinlich wollte der Hausherr zurück an die Säge. Sein Ton machte sehr deutlich, dass er die Polizisten nicht willkommen hieß.

„Haben Sie nicht genug angerichtet?“ Das war keine Frage. So klangen Wut, Hass und Machtlosigkeit.

„Haben Sie uns nicht seit dem Verschwinden Ihrer Schwiegermutter immer wieder belogen?“

Toralf Fischer erstarrte. Keine Regung, in keinem Muskel. Nur die Bewegung des Kieferknochens ließ vermuten, dass Fischers Zähne mahlten.

„Sie haben Oma gefunden?“ Beate Fischer trat vor ihren Mann. Ihr Gesicht lächelte, sie schob sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn. Die Frau war glücklich und voller Hoffnung. Die Kommissarin musste diese Hoffnung endgültig zerstören.

„Wir haben Ihre Mutter gefunden.“

„Wo war Sie? Wann kommt sie wieder?“ Voller Lachen drehte sich Beate Fischer um und gab ihrem Mann einen Kuss. „Ich wusste, es wird alles gut.“

„Frau Fischer, Ihre Mutter ist tot.“ Michalks Stimme klang wie aus der Gruft. Schabowski war über die Einmischung des Kollegen ins Gespräch nicht unfroh, denn so musste sie diese furchtbare Wahrheit nicht persönlich mitteilen, trotzdem bedachte sie ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Michalk murmelte wohl eine Entschuldigung.

„Oh, nein! Das ist nicht wahr. Oma kann nicht ... sie war so lebensfroh, so gut beieinander.“ Beate Fischer weigerte sich zu begreifen.

„Sie war nicht gut beieinander. Sie war krank.“ Toralf Fischer sprach emotionslos. Seine Frau blickte erschrocken zum Gatten, als könne sie ihm nicht glauben. „Es ist gut. Es hat ein Ende“, sagte der.

„Das kannst du doch nicht wirklich ernst meinen, Toralf! Hast du vergessen, was Oma alles für uns getan hat? Sie liebte das Leben!“

„Nichts habe ich vergessen. Aber die letzten Jahre waren eine Qual, die du nicht wahrhaben willst.“ Noch immer zeigte sein Gesicht keine Regung. „Wo hat man denn Oma gefunden?“

„Vielleicht könnten wir unser Gespräch drinnen fortsetzen?“, forderte die Kommissarin.

Beate Fischer trat bereitwillig zur Seite, ihr Mann machte nur schwerfällig Platz. „Sagen Sie, wo wir sie abholen können.“

Schabowski stand Auge in Auge vor Toralf Fischer. „In Polen.“ Seine Lider klappten nur ganz kurz aufeinander, sein Blick war stahlgrau und klar.

„In Polen“, wiederholte Toralf Fischer, dann gab er endgültig den Weg in sein Wohnzimmer frei.

Schabowski sah durch die Küchentür Beate Fischer auf der Eckbank sitzen und weinen. Ihr Mann ging zu ihr, nahm sie in seinen Arm und führte sie ins Wohnzimmer auf das große geblümte Sofa unter dem Fenster, auf dem ein Kaktus rot blühte. Fischer schob die Fernbedienungen für Fernseher und Recorder beiseite und bot den Kommissaren Platz an. „Einen Kaffee?“

„Solange werden wir uns nicht aufhalten müssen, Herr Fischer.“ Schabowskis Ton zerschnitt die abgestandene Luft, in der sie Zementstaub zu riechen vermeinte. „Nur ein paar kurze Fragen an Ihre Gattin.“

Toralf Fischer schien erleichtert und setzte sich auf die Sofalehne neben seine Beate.

„Können Sie sich vorstellen, was Ihre Mutter in Breslau wollte, Frau Fischer?“

„Sagen Sie mir, wie ist sie gestorben. Sie wollte nicht leiden.“

„Ihr Tod kam schnell“, sagte die Kommissarin.

„Sie wurde ermordet“, sagte Michalk, und zerstörte die mühsam errungene emotionslose Atmosphäre.

„Ermordet!“ Sowohl Herr als auch Frau Fischer sprangen in Überraschung von ihren Plätzen. „Ermordet?“, fragten sie nochmals im Chor.

Schabowski zögerte, dann sagte sie: „Ihre Mutter fiel einem Raubmord zum Opfer. Die Täter sind verhaftet und erwarten ihr Urteil.“ Die Kommissarin setzte die Pause danach bewusst und suchte erneut den Augenkontakt zu Toralf Fischer. „Können Sie sich vorstellen, was Gerlind Hopstock in Breslau wollte?“

Offensichtlich konnte Beate Fischer in den Tatsachen keinen Zusammenhang erkennen oder die Endgültigkeit des Todes hatte sie noch nicht begriffen. „Was wollte denn Oma in Breslau? Dort kannte sie keinen. Ihr Haus steht nicht mehr, das haben wir vor Jahren schon feststellen müssen. Ihre Schule ist noch immer Gymnasium. Aber sonst hatte Oma in ihrer Heimat nichts, wonach sie sich sehnte.“

„Vielleicht wollte sie in Breslau begraben sein?“, stellte Toralf Fischers die Frage. Sie stand wie ein Betonbrocken im Raum.

„In Breslau sterben, was soll denn der Blödsinn? Oma hatte weder Verwandte noch Beziehungen dahin. Wir sind doch mehrmals mit Oma dort unten gewesen und haben nach ihren Erinnerungen gesucht.“ Beate Fischer schüttelte ihren Kopf. „Was sollte Oma da wollen? Sterben, welch Schwachsinn? Wer will denn dort sterben? In Polen!“ Beate Fischer schob ihren Zeigefinger zur Kommissarin. „Wie überhaupt ist Oma denn nach Breslau gekommen? Gelaufen wird sie nicht sein, oder?“

„Das ist die Frage, Frau Fischer, wie und mit wem ist Ihre Mutter nach Breslau gekommen.“

Toralf Fischer hielt seinen Blick auf den Teppich gesenkt. „Ich wollte nicht, dass Oma dort stirbt.“ Er sah bittend zu seiner Frau, die noch immer gar nichts begriff. „Ich wollte einmal nur ein paar Stunden Ruhe. Kann denn das keiner verstehen?“

„Du redest ein Zeug“, sagte Beate Fischer.

„Packen Sie Ihre Sachen“, sagte die Kommissarin.

Vielleicht schien Beate Fischer jetzt die Erkenntnis zu dämmern. Ihr Gesicht wurde zu Stein. Ihre Augen zwangen den Gatten, aus dem Fenster zu blicken. „Dass du Oma das antun konntest! Mit welchem Schwein habe ich Jahrzehnte Seite an Seite gelebt!“ Beate Fischers Hand knallte mit einer schallenden Ohrfeige auf die Wange ihres Mannes. Und dann unter Tränen: „Du hast Oma ermordet! Ich hasse dich. Ich könnte dich umbringen. Du Mörder! Du Mörder!“ Damit trommelten ihre kleinen Fäuste gegen den kräftigen Körper von Toralf Fischer. Der ertrug diese Schläge ohne jegliche Regung und sah weiter aus dem Fenster auf die menschenleere Straße, auf Container und zersägte Bäume.

„Wir müssen Sie mitnehmen, Herr Fischer, packen Sie ein paar Sachen zusammen“, sagte Schabowski.

„Ja“, sagte Toralf Fischer, „ich gehe sie holen.“ Er stieg in Begleitung von Michalk die Treppe nach oben.

„Damit ist alles vorbei. Oma ist tot, und mein Mann ist ihr Mörder“, sagte Beate und begann krampfartig zu schluchzen.

Schabowski fehlten die Worte.