32.

Wie er da vor seiner Chefin saß, war Toralf Fischer eine lächerliche Person. Abgefallen das großkotzige Gehabe, verschwunden das süffisante Lächeln, die Augen starr, die Sätze voller Selbstmitleid. Die Mord eins hatten den Verdächtigen endlich dort, wo sie ihn schon immer haben wollte: beim Geständnis. Einzig die Situation missfiel Bastian Michalk. Denn Hauptkommissarin Schabowski hatte die Leitung übernommen. Er war draußen, hatte Dienst am Kameraauge, durfte zusehen, wie sie den feinen Herrn fertigmachte. Michalk zeichnete die Vernehmung auf, zoomte auf Fischers Gesicht, schwenkte auf Fischers Hände, und über ein Mikrofon bestand die Möglichkeit, der Kollegin wichtige Stichpunkte ins Ohr zu flüstern. Was sich die Schabowski aber strikt verbeten hatte. Sie hatte den Knopf samt Leitung demonstrativ vor sich auf den Tisch gelegt. Sie wollte mit ihm keinen Kontakt. Eine missliche Arbeitssituation, aber Michalk war Befehlsempfänger, nicht der Chef.

Die Schabowski beugte sich über den Tisch, der zwischen ihr und Fischer stand. Ihr Busen verschob die Lage des Kopfhörers. Michalk spürte das Kratzen im Ohr als körperlichen Schmerz seines Ausgeschlossenseins. Knallhart musste man solche Typen anfassen, knallhart. Die Fakten auf den Tisch und all ihre Ermittlungsergebnisse, sodass der Verbrecher keine Chance besaß zu leugnen. Michalk war sich sicher, Fischer hätte ihm innerhalb von drei, vier Minuten seine Tat gestanden. Die Schabowski aber zeigte Mitgefühl, ließ ihn gewähren. Der Mörder hatte Zeit, sich eine Lüge nach der anderen zu überlegen. Der würde bei solcher Verhörstrategie nie gestehen. Warum auch? Bei dem war Druck vonnöten, kein Verständnis.

„Sie haben Ihre Schwiegermutter ins Auto gesetzt und sind mit ihr einfach so nach Breslau gefahren?“

„Ja.“

„Es gab keinen Plan?“

„Nein. Oma sprach ständig von ihrem kleinen Peter, von der Schule, vom Baden im Oderstrom. Kein gutes Wort hatte sie für ihre eigene Tochter, die immer weniger sie selbst war. Beate wurde bespuckt und geschlagen, weil Oma nichts, gar nichts passte. Alles fand die Alte scheiße. Kein Essen war ihr gut genug. Saft und Wasser spuckte sie über unsre neu gewaschenen Hemden und Betten. Die Waschmaschine lief täglich. Mal wollte Gerlind zu ihrer Mutter, mal zu ihren Freunden, mal zu ihren Geschwistern. Hier kenne sie keinen, bei Wildfremden müsse sie hausen. Sie wollte heim und heim und nur noch heim.“

„Und da haben Sie gesagt: Ich fahre.“

„Wenn in Breslau alles besser ist! Soll sie doch sehen, wie’s in ihrer geliebten Heimat zugeht, habe ich mir gedacht und bin mit der Alten dorthin gefahren. Sie freute sich und dachte, wir fahren zu ihrer Konfirmation ...“ Er blickte auf. „Meine Frau lebte doch nicht mehr ihr eignes Leben, seit Oma bei uns war. Ständig hatte die was zu meckern und zu puzzeln und zu pissen. Die Gardinen hat sie abgeschnitten, weil der Schleier für ihr Brautkleid zu lang war. Russischen Zupfkuchen wollte sie backen und ließ den Ofen vier Stunden lang brennen. Nachbarn haben die Feuerwehr rufen müssen. Dann lief sie weg und suchte ihren Ehemann. Der Heinz ist seit neunzehnhundertfünfundachtzig tot. Mit Honolulu hat sie telefoniert und Abonnements mit zig Zeitungen abgeschlossen ... alles auf unsere Kosten. Ich hätte sie manches Mal umbringen können.“

„Und haben Sie es getan?“

„Nein.“

„Sie wussten, dass Ihre Schwiegermutter an Altersdemenz litt?“

„Ich wusste, dass Oma an Altersdemenz litt, ja, und trotzdem fällt das Verständnis einem dafür sehr, sehr schwer. Diese Menschen sind nicht mehr sie selbst. Haben Sie so etwas am eigenen Leibe erlebt?“

Schabowski war erschrocken: „Nein!“

„Ich wünsch’s Ihnen nicht. Ehrlich.“ Dann schwieg Fischer und knetete seine Hände. Sein Blick war auf die Tür gerichtet, die sich so bald nicht öffnen würde. Michalk zoomte mit der Kamera auf Fischers Finger und stellte fest, dass dem Verhörtem der Dreck unter den Nägeln saß und die Haut drum herum kleine Wunden aufwies. Fischer war Handwerker und brachte sein Haus wieder in Ordnung. Auf Michalk machte der Mann einen sehr ungepflegten Eindruck. Und Fischer verschränkte seine Finger und riss sie auseinander, und er verschränkte sie wieder und dann legte er die Fingerspitzen aneinander und schien hindurch zu pfeifen. Die Schabowski stellte ihm keine weiteren Fragen. Mensch, der war doch kurz vorm Zusammenbrechen, lange konnte der seine Fassade nicht mehr aufrechterhalten. Sieht die das denn nicht? Der Fischer hatte die Alte auf dem Gewissen. Der hatte die Mörder bestellt und bezahlt, dumm nur, dass die der Polizei sofort in die Hände gelaufen waren. Mord im Ausland und eine Leiche, die keiner kannte. Fischer war das Verbrechen schwer nachzuweisen. Und doch hätte Michalk diesen Täter mit einem Handkantenschlag zur Strecke gebracht. Die Schabowski aber schwieg. Was war das für eine Kriminalistin!

„Und Ihre Schwiegermutter ist einfach so in Ihr Auto gestiegen?“

„Ja. Das hatte ich nicht vermutet. Frau Kommissarin, Sie dürfen nicht annehmen, dass diese Fahrt nach Breslau geplant war. Ich kam einfach vorbei, als sie am Straßenrand stand, und wollte sie nach Hause bringen. Aber da fing die wieder an dumm zu quatschen von Heimat und Mutti und Kinderchen lieben und außerdem müsse sie jetzt zu ihrer Konfirmation, der Pfarrer tät warten. Da bin ich eben losgefahren, egal wohin, mit diesem Ausgang konnt’ ich nicht rechnen. Und offiziell war ich beim Modellbau, wo wir im Vorkampf schon rausgeflogen waren. Ich hatte Zeit, so habe ich Oma eben zu ihrer Konfirmation nach Breslau in die Kirche gefahren.“ Fischer seufzte, es wirkte beinahe echt. Und dann wieder das Greinen und das nervöse Zucken und das Blinzeln und Kratzen. Ein trainiertes Schauspiel, Michalk durchschaute es immer mehr. „Ich kann nachts nicht mehr schlafen. Gerlind ist tot, und ich bin schuld. Glauben Sie mir, das habe ich nicht gewollt!“

Glauben Sie mir, ich habe das nicht gewollt! Das sagen sie alle. Grandios, wie dieser Held jetzt die Tränen verdrückte. Unglaublich! Kein Stallone und kein Tommy Lee Jones und kein Till Schweiger hat das so drauf. Bei dem muss die Schabowski aber härtres Geschütz ins Verhör fahren. So kommt die dem Verbrecher doch nie bei. Es sah ganz so aus, als ließe die Chefin sich von dem Typen und seiner ach so traurigen Geschichte noch einlullen. Es war nicht zu fassen. Michalk zoomte auf Fischers Gesicht, als wäre er Kameramann bei QVC und würde gerade Anti-Aging-Produkte verkaufen. Er sah die großen Poren und die Schweißtropfen auf Fischers Stirn. Fast könnte er glauben, Fischer erzähle die Wahrheit. Michalk stöhnte und hätte gern eine Zigarette geraucht.

„Als Gerlind im Auto neben mir saß, schwärmte sie mir etwas vor von wegen dem alten Schlitten, den ich fahre. Ja, ihr Heinz, der hatte Wagen ... Saparoshez, mit einem Trabant kein Vergleich ... Mensch, Wartburg war der gefahren, ich fahre VW, wenn auch schon zehn Jahre alt. Und dann erzählte sie wieder von Jürgen Kleinschmidt und Gertrud Holzapfel, die immer Huppekästel gehüpft war, und überhaupt hätte ich Beate niemals verdient. Wobei eigentlich der Moritz ihr Lieblingssohn war, aber der musste ja arbeiten, während die Beate sie Tag für Tag quäle ...“

Begriff diese Kuh denn dem Fischer gegenüber nicht, dass der hier eine gut getimte Show vor ihr abzog. Der machte auf gedemütigten Gatten, der unter einer bösen Schwiegermutter litt und immer nur das Beste für alle gewollt hatte. Und diese Schabowski starrte den an und glaubte den Scheiß. Jedenfalls stellte die keine Gegenfrage. Schade, dass Michalk ihr Gesicht nicht in den Fokus nehmen konnte. Damit hätte er der Chefin ihre Inkompetenz nachweisen können, jetzt würde die sicher von psychologischem Einfühlungsvermögen sprechen und guten Nerven, dass sie diesen Mörder zum Geständnis gebracht hatte. Mein Gott, Michalk musste mit Direktor Schmitt reden, diese Frau war untragbar. Er, Kriminaloberkommissar Bastian Michalk, hatte die Leiche der Alten in Polen entdeckt. Ihn hatte dieser Mörder von Anfang an nicht zu täuschen vermocht. Er, Kriminaloberkommissar Bastian Michalk, hatte seit Ermittlungsbeginn den richtigen Riecher gehabt. Jetzt heulte der Fischer seiner Chefin was vor. Und die glaubte ihm jedes Wort, da war Michalk sich sicher. So würden sie diesen herzlosen Täter nie überführen. Kurz und schmerzlos hätte er, Kriminaloberkommissar Bastian Michalk, dieses Verhör hinter sich gebracht und Fischer säß schon längst hinter Gittern. Und hier ging es in dieser Vernehmung endlos so weiter. Nicht auszuhalten war das! Ich habe das nicht gewollt! Mensch, der Fischer hatte den Tod seiner Schwiegermutter eiskalt geplant! Von wegen: Ich habe das nicht gewollt! Das war eiskalt geplanter Mord.

„Ja, und als Oma wieder von Breslau und ihrer ach so schönen Konfirmation erzählte, da dachte ich: Fahr sie doch hin, wenn die Konfirmation in Breslau so schön ist.“

Der Fischer sprach immer schneller und fuhr sich mit seiner Hand durch die Haare. Die Schabowski hatte sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt, hatte die Hände unter der Brust verschränkt und war offensichtlich ganz Ohr. Merkte die nicht, dass der Mann sie verarschte? Michalk hielt es auf seinem Kameraposten kaum aus. Er musste da rein. Er musste seiner Chefin helfen, wenn die mit dem Typen da drin nicht zurechtkam. Welch eine Farce!

„Und als wir da in Breslau waren, war Oma so voller Freude, ist ausgestiegen und hat getanzt. Das war mir peinlich. Ich saß im Auto und beobachtete sie. Sie kam sofort mit Passanten ins Gespräch, und die haben gelacht, und Oma schien endlich mal glücklich – und da dachte ich, was kann schon passieren? Ich lass sie hier einfach in ihrer Heimat. Die wird schon sagen, wenn sie wieder nach Haus will. Und für meine Frau hab ich’s getan, hatte Beate endlich mal paar Stunden Ruhe, nicht immer dieses Geschnalze und Gemeckere und keine ruhige Minute.“

„Und dann sind Sie einfach so zurück nach Leipzig gefahren?“

Mein Gott, festnageln musst du den Alten, ihm seine Schuld glasklar an den Kopp knallen: Mörder! Mörder! Nichts weiter war der. Der hatte den Tod seiner Schwiegermutter geplant und die Mörder bezahlt. Mensch, Schabowski stell’ doch endlich die Frage nach seinen Komplizen. Diese Jungen sind doch nicht einfach so aufgetaucht. Das Ding lief ab wie ein Uhrwerk. Eiskalt ist der Mann, eiskalt. Dieser Mörder würde Schlagzeilen machen. Fast wäre dem Fischer das perfekte Verbrechen gelungen. Er, Kriminaloberkommissar Bastian Michalk, hatte ihn überführt. Aber nein, die Schabowski: Dann sind Sie einfach so zurück nach Leipzig gefahren?

„Dann bin ich einfach so zurück nach Leipzig gefahren und hätte gern alles sofort rückgängig gemacht. In Görlitz schon wollte ich umkehren. Aber Oma hätte doch sowieso nicht mehr an der gleichen Stelle gestanden. Also heim. Meine Frau war zu Hause, als ich da ankam, schon mit ihren Nerven am Ende. Oma ist weg. Keine halbe Stunde war ich beim Frisör. Oma! Oma! Immer nur: Oma! Und geweint hat meine Beate und sich gesorgt, und ich konnt’ ihr nicht sagen, wo Oma grad war. Nein, ich hab’s einfach nicht fertiggebracht.“

„Sie fühlten sich schuldig?“

„Ja klar war ich schuld. Aber ich hab’ doch gedacht, irgendeiner wird Oma in Breslau zur Polizei bringen, und dann wird sich der Fall klären und dann kommt sie wieder zu uns. Und Beate war bis dahin mal ohne den Stress. Falsch habe ich da gedacht. Zum Stress ist bei ihr noch die Angst hinzugekommen. Und ich hatte Angst, dass Beate mich verlässt, wenn ich ihr die Wahrheit gestehe. Ich bin ja schuld, dass ihre Mutter in der halben Stunde, wo sie beim Frisör war, verschwand. Ich konnte Beate nicht trösten und mache mir Vorwürfe immer wieder. Furchtbar. Mir ist jetzt auch ganz schlecht.“

„Warum haben Sie uns davon nichts erzählt?“

„Hätten Sie mir geglaubt?“

„Nein, mein Herr, dir glauben wir nicht?“, schrie Bastian Michalk gegen die Scheibe seines Kabuffs. „Kein Wort glaube ich dir von dieser herzzerreißenden Story.“ Die Schabowski wendete ihm kurz ihren Kopf zu, Michalk war versucht, ihr zu winken. Hatte er in seinem Eifer gegen die Scheibe geklopft?

„Aber Oma kam und kam nicht wieder. In bangen Minuten hab’ ich an Schlimmstes gedacht. Und dann dacht’ ich wieder, vielleicht hat sie den Kleinschmidt oder die Gertrud Holzapfel getroffen, und die sitzen jetzt zusammen beim Kaffee und erzählen sich Schwänke aus ihrer Jugend. Ich weiß, das klingt blöd, aber man denkt manchmal so. Aber wie konnte ich ahnen, dass zwei Junkies unserer Oma den Kopf einschlagen wegen dem Geld? Ich habe all die Monate, wo Oma weg war, gehofft und gebangt und keine Ruhe gefunden. Furchtbare Bilder habe ich vor mir gesehen. Aber die waren nichts im Vergleich mit der Wahrheit.“

„Sie hatten diese Fahrt nach Breslau nicht geplant?“ Offensichtlich hatte die blöde Schabowski doch Zweifel an der Aufrichtigkeit dieses Herrn.

„So was kann ich nicht planen.“

Aber nein! Diese Kuh von Schabowski nickte schon wieder, nickte diesem Mörder noch zu, als könnte sie sein Handeln verstehen. Mein Gott! Verhaften das Schwein. Verhaften und einen Mordprozess führen. Dieser Fischer ist einer der ganz großen Mörder unsres Jahrhunderts und glaubt, seine Tat wäre ihm niemals nachzuweisen. Irrtum. Ein Irrtum! Der stellt sich nur als der gestresste Schwiegersohn dar.

„Ich weiß, dass Sie mich jetzt festnehmen müssen.“

„Ja. Ich stelle Sie dem Haftrichter vor.“

Das war die erste richtige Entscheidung, die die Frau Hauptkommissarin in diesem Verhör traf. Michalk beglückwünschte sie. Der Haftrichter würde die Konsequenzen ziehen. Aus war’s mit dieser Mitleidsmasche. Er, Kriminaloberkommissar Bastian Michalk, hatte gewonnen.

„Ich glaube nicht, dass Sie in Haft bleiben müssen. Ein Verbrechen haben Sie nicht geplant und begangen. Fluchtgefahr scheint keine gegeben. Ich denke, Sie sind schnell bei Ihrer Frau wieder zu Haus. Sie wird Sie brauchen.“

„Meinen Sie?“

Der Mörder begann zaghaft zu lächeln. Michalk verstand die Welt nicht mehr und schaltete seine Kamera aus.