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Aus den geschilderten Umständen wird erkennbar, dass mein Mandant zwar eine Ordnungswidrigkeit, jedoch kein justiziables Verbrechen begangen hat. Etwaige monitäre Strafen wird mein Mandat begleichen. Er ist sich seiner Schuld bewusst. Und natürlich steht mein Mandant, Herr Dr. Gilbert Wöhler, Gesprächen mit Ihrer Behörde zur Verfügung. Bitte gleichen Sie einen Termin mit seinem Büro ab.

Kohlund las das Schreiben zum wiederholten Male, und er hätte zum wiederholten Male kotzen können. Nicht nur wegen dieser Überheblichkeit, aber deswegen auch. Alexia verweigerte seit Wochen das offne Gespräch, und heute am Morgen hatte sie ganz nebenbei bemerkt: Ich habe morgen einen Termin in der Uni-Frauenklinik. Kohlund war der Kaffee in die falsche Kehle geflossen, er hustete das Tischtuch braun und spuckte Tropfen auf den Boden, die aussahen wie Blut. Alexia hatte ohne Worte den Hader genommen und gewischt. Auf all seine Fragen danach schüttelte sie nur den Kopf. Sie legte nicht einen ihrer Entscheidungsgründe dar. Kohlund war sauer und fragte sich, warum er diese Frau liebte und nicht aufhören konnte, sie zu lieben. Ich habe morgen einen Termin in der Uni-Frauenklinik und kein Wort mehr. Verflucht noch mal.

Und im Büro derselbe Scheiß. Dr. Gilbert Wöhler ließ sich verleugnen, sein Anwalt schrieb Briefe. Sehr geehrte Ermittler der Mordkommission, im Überschwang seiner Gefühle und persönlichen Betroffenheit hat Ihnen der Sohn meines Mandanten die Fakten zu emotional und verkürzt geschildert. Tatsache ist, mein Mandant hat die Leiche des Eike Proksch an ihren Auffindungsort im Zwenkauer See transportiert und dort abgelegt. Schuld am Tod dieses Jungen hat weder mein Mandant noch sein Sohn Jean-Claude. Die Verbringung der Leiche war eine Kurzschlussreaktion. Ursächlich trägt am Tod dieses Jungen wohl keiner die Schuld, außer Eike Proksch selbst.

Ursächlich trägt am Tod dieses Jungen wohl keiner die Schuld, außer Eike Proksch selbst. Das, was Dr. Alhaus nun ausführte, stimmte mit den von ihnen ermittelten Tatsachen überein. Aber all das hätte der Kommissar gern aus dem Munde von Gilbert Wöhler erfahren. Um das Gespräch mit ihm hatten die Kommissare wieder und wieder gebeten, doch Wöhlers Sekretariat und sein Anwalt hatten das stets hintertrieben. Mal wurde Dr. Wöhler zu unaufschiebbaren internationalen Wirtschaftsgesprächen erwartet, mal hatte er einen Termin beim OBM und MdB der Stadt. Und wenn die Ermittlungsbehörde Vorladung auf Vorladung schickte, wurden die Schreiben zur Kenntnis genommen und in der Antwort freundlich darauf verwiesen, dass Dr. Gilbert Wöhler just zu der Zeit zu unser aller Bedauern zum vorgeschlagenen Termin leider unabkömmlich sei. Man verwies auf Arbeitsplätze, Kultursponsoring und Unterstützung sozialer Härtefälle. Probleme, für deren Beseitigung und Milderung sich Dr. Wöhler mit ganzer Kraft engagierte. Das beeindruckte nicht nur Medien und Politik. Für die Unterminierung von Ermittlungen und auch für die Strafvereitelung taugten diese Argumente. Merghentin und Kohlund waren wütend und beschimpften sich gegenseitig. Dabei hatte Kollege Merghentin ausgezeichnete Arbeit geleistet. Ohne ihn wäre der Fall vielleicht niemals geklärt worden. Zumindest nicht in dieser Zeit. Der Kollege hatte die Beteiligung des Jungen erspürt und hatte diesen zum Sprechen bringen können. Hut ab! Dem zollte Kohlund Respekt. Er hatte Merghentin wenn nicht zur Beförderung, so doch zur lobenden Erwähnung dem Kriminaldirektor vorgeschlagen.

Kohlund las das Schreiben des Dr. Alhaus wieder und wieder. Dem Herrn Geschäftsführer Dr. Gilbert Wöhler persönlich die Fragen zu stellen, war unmöglich. Die hätten vielleicht weitere und strafbewährte Vergehen dieses Mannes offenbart. Der Anwalt ging in seinem freundlichen Schreiben von bedauerlichen Ordnungswidrigkeiten aus. Er und die Wöhlers bagatellisierten die Aussage ihres Sohnes. Nie lag es in der Absicht meines Mandanten, polizeiliche Ermittlungstätigkeit zu verhindern. Es war eine Kurzschlussreaktion. Als die Familie meines Mandanten aus ihrem verdienten Erholungsurlaub, den sie in Königsleiten/​Österreich verbrachten, heimkehrten, entdeckte mein Mandant in seiner Garage die Leiche des Eike Proksch. In erster, verständlicher Panik beschloss mein Mandant, sie an anderem Ort niederzulegen. Einfach gesprochen, handelte er aus dem Impuls heraus: Die Polizei kommt mir nicht ins Haus. Sicher eine Fehlentscheidung, die mein Mandant im Rückblick tief bedauert. Aber im Anbetracht der damals obwaltenden Umstände vielleicht verständlich wird, 95% der Bevölkerung würden wahrscheinlich in erster Panik genauso wie Dr. Wöhler handeln.

Kohlund hätte nun sagen können: Wer nichts zu verbergen hat, muss polizeiliche Ermittlungen nicht fürchten. Der Kommissar blickte über das Schriftstück hinweg ins Nachbarzimmer, wo Grischa Merghentin den Abschlussbericht verfasste, in dem eines nur fehlte: die Aussage des Hauptbeteiligten. Es blieb dem Chef der Mord zwo unverständlich, warum sich Dr. Wöhler seiner Schuld nicht persönlich stellte. Als Vater konnte Lars Kohlund sehr gut nachvollziehen, dass Wöhler versuchte, seinen Sohn zu schützen. Jean-Claude stand vor dem Reifezeugnis, von diesem hing ab, was Jean-Claude studierte. Die gefragtesten Fächer standen unter dem numerus clausus, dafür musste der Notendurchschnitt des Bewerbers gegen eins Komma null tendieren, sonst wurde er nicht zugelassen. Und als die Wöhlers vom verdienten Erholungsurlaub heimkehrten, fand der Vater im eigenen Haus den toten Klassenkameraden seines Sohnes. Was tun? Wenn mein Mandant die Möglichkeit hätte, würde er die Resultate seiner Handlungen rückgängig machen. Das ist zum Leidwesen meines Mandanten leider unmöglich. Kohlund war zum Aus-dem-Sessel-Springen.

Und in der Uni-Frauenklinik wollte Alexia die Resultate seiner Handlungen rückgängig machen. Als Mann konnte Kohlund sehr schwer die Gründe nachvollziehen, die eine Frau veranlassten abzutreiben. Das ideale Alter für eine Mutter hatte Alexia sicherlich überschritten, kein Zweifel. Es war eine späte Schwangerschaft. Natürlich barg die Risiken. Die wollte Kohlund gar nicht leugnen. Doch dass ihm seine Frau das Gespräch verweigerte, enttäuschte. Enttäuschte ihn sehr. Sein Eheleben hatte einen Riss bekommen, Kohlund sah keine Möglichkeit, diesen zu kitten. Und heute Morgen teilte ihm Alexia nur emotionslos mit: Ich habe morgen einen Termin in der Uni-Frauenklinik. Kohlund lag es fern, Alexias Entscheidung zu beeinflussen, aber seine Argumente hätte er ihr gerne vorgetragen. Er nämlich hatte nichts dagegen, in seinem Alter Vater zu werden.

Wenn Ihnen und Ihrer Behörde durch dieses Fehlverhalten finanzielle Einbußen entstanden, sorgt mein Mandant sofort für deren Ausgleich. Stets glaubten diese Gutsituierten, mit Geld alles regeln zu können. Und wie viel wurde auf diesem Wege geregelt. Erst vorige Woche musste sich die gesamte Kriminalabteilung einem Compliance-Seminar zur Antikorruption unterziehen. Wohlgemerkt, der eignen Bestechlichkeit, nicht, wenn sie bei Ermittlungen drauf stießen. Kohlund empfand das als Aufruf zur Denunziation der Kollegen. Denn wer maß das Grau in den Grauzonen?

Eike Proksch saß in der Garage meines Mandanten auf alten Reifen, sodass Herr Dr. Wöhler zunächst dessen Tod nicht festzustellen vermochte und den Jungen in eine Unterhaltung zog. Als der Junge auf all seine Fragen keine Antwort gab, begab sich mein Mandant zu ihm und fasste Eike Proksch an der Schulter. Daraufhin rutschte dessen Körper zur Seite und fiel auf den betongegossenen Boden seiner Car-Unit. Jetzt erst stellte mein Mandant auch den strengen Geruch fest, der vom Toten auszugehen schien. Zur Identifizierung der Leiche rief Herr Dr. Wöhler seinen Sohn, der erkannte in der Leiche seinen Klassenkameraden Eike Proksch. Auf die Frage, wie dieser Eike Proksch in die Garage ihres Eigenheimes käme, vermied der Sohn Jean-Claude zunächst die Antwort. Nach einfühlsamen Gesprächen gab Jean-Claude schließlich zu, dass er in der Abwesenheit der Eltern Haus und Wohnung für eine Klassenfeier zur Verfügung gestellt hatte. Jener Eike Proksch sei dort erschienen und wieder verschwunden, wohin jedoch, darauf konnte Jean-Claude keine Antwort geben. Mein Mandant sah keinen Grund, an der Aussage seines Sohnes zu zweifeln. Mein Mandant vermutet, dass Eike Proksch zur Minderung der Wirkung von zu viel genossenen Alkoholika in der Garage das Bewusstsein verlor und an dieser Stelle aufgrund von Unterkühlung starb.

… aufgrund von Unterkühlung starb. Dass dies die Todesursache sein konnte, da waren sich die Experten nach Sektion und Auswertung aller Spuren einig. Ein Unfall, der seine Ursache im verwehrten Einlass Eikes zur Party hatte. Nur stellte mein Mandant Dr. Gilbert Wöhler das Verhalten seines Sohnes anders dar. Jean-Claude und Freunde hatten den unliebsamen Gast des Hauses verwiesen. Marisa Schwerdtner hatte dem Jungen aus Mitleid und Anstand den von ihm mitgebrachten Whisky wieder herausgereicht. Vorstellbar war, dass Eike Proksch die Flasche in der Garage bei den Wöhlers leerte. Vielleicht in der Hoffnung, Marisa doch noch heimzuführen, vielleicht aus Frust. Der Alkohol jedenfalls tat seine Wirkung. Erweiterte Gefäße, Hitzegefühl, Bewusstlosigkeit, Frost. Nicht selten sterben Angetrunkene an Unterkühlung. Ein selbstverschuldeter Tod. Nur vermutete Dr. Gilbert Wöhler wahrscheinlich im ersten Moment eine Straftat seines Sohnes und wollte diese verschleiern. Deswegen zogen er und Jean-Claude der Leiche Frauenkleider an. Die Spur sollte in das Milieu führen, in denen Straftaten üblich waren. Ins Haus von Dr. Wöhler sollten ihre polizeiliche Ermittlungen nicht führen. Wohin sie ja bislang auch nicht geführt hatten. Und vielleicht, so Dr. Wöhlers Hoffnung, würde die Leiche Eike Prokschs auch nie gefunden. Im Zwenkauer See vergraben, würde sie in naher Zukunft überspült. Die Flutung des Gewässers hatte längst begonnen. Ein guter Plan, wenn nicht Benjamin Wolters Hündchen die Leiche im Zwenkauer See hervorgebellt hätte.

Genaue Planung und die heimliche Verbringung einer Leiche unterstellte nicht nur Kohlund dem Familienvater. Dr. Wöhler war sich seines ungesetzlichen Tuns bewusst. Er hatte alles Erdenkliche getan, um von sich und seiner Familie abzulenken. Der tote Eike Proksch sollte verschwinden, ohne dass je einer wissen würde, wo er letztlich vergraben worden war. Im Brief von Dr. Alhaus leugnete Dr. Wöhler: Um die Leiche nicht Tierfraß und aller Witterungsunbill auszusetzen, kleidete mein Mandant mit dem, was ihm zur Hand war, den toten Körper. Leider war das Frauenkleidung. Aber dieser Missgriff ist als ein weiteres Indiz für die nervliche Anspannung meines Mandanten zu werten. Dr. Wöhler wusste in jenem Augenblick nicht, was er tat, geschweige denn überblickte er die Folgen seines Handelns. Das waren Ausflüchte, die auch die Polizei Dr. Wöhler nicht widerlegen konnte. Insofern war es Kohlund noch unverständlicher, warum der Unternehmer nicht mit ihnen sprach. So zog sich der Fall noch länger hin, denn der Staatsanwalt bestand auf Wöhlers Einvernehmung. Kohlund hoffte noch immer, dem arroganten Herrn eine Straftat nachweisen zu können. Doch dies war aus Sicht namhafter Juristen ausgeschlossen. Kohlund selbst und viele Kollegen hatten Experten zum Sachverhalt befragt: Schwer, Kohlund, sehr schwer wird das werden, wenn überhaupt ... Dann hatten sie ihm auf die Schulter geklopft, und Dr. Alhaus schrieb im Auftrag seines Mandanten Briefe. Unverschämt.

Nur im Zusammenhang mit der unglückseligen Klassenfeier erwähnte Gilbert Wöhler den Namen seines Sohnes. Der Vater verteidigte seine Nachkommen. Familiären Respekt konnte Kohlund Dr. Wöhler nicht verwehren. Mein Mandant handelte allein, die Auslassungen seines Sohnes Jean-Claude zum Thema sind falsch und werden notfalls von ihm juristisch angefochten. In einem möglicherweise folgenden Verfahren können sie nicht verwendet werden, da sie unter Zwang zu Protokoll gegeben worden sind. Dieser Behauptung widersprach Kommissar Merghentin vehement. Aber Fakt war, Merghentin hatte einen Minderjährigen ohne Einwilligung seiner Familie und ohne juristischen Beistand vernommen. Jean-Claudes Aussagen waren in der Tat nicht verwertbar. Unbefriedigend für die Ermittler. Letztendlich entpuppte sich der Fall Eike Proksch nicht als Kriminalfall, es war eine Verkettung von Umständen, die in ihrer Summe den Anschein eines Verbrechens vermittelten. Die Lösung befriedigte keinen, nicht Kohlund, nicht Schmitt und nicht Schwäblein-Kunz.

„Die Kantine bietet heute Gulasch mit Klößen“, rief Kohlund ins andere Zimmer Merghentin zu. Der wendete seinen Kopf vom Monitor des Computers.

„Wie wär’s mit tschechischem Pils und Knedlički im U Fleku?“

Kohlund fragte sich, woher Merghentin diese Kultkneipe seiner Jugend kannte. Ja, er aß gern Gulasch und und Knedlički. Ja, er trank gern tschechisches Bier. „Wollen Sie mit mir in den Urlaub nach Prag?“

„Warum nicht? Das Protokoll ist geschrieben. Der Fall Eike Proksch ist geklärt.“