Wie Agnes Schabowski vermutet hatte: Der verantwortliche Richter sah keinen Grund, Toralf Fischer in Haft zu nehmen. In diesem Fall der Aussetzung einer Schutzbefohlenen war in seinen Augen Untersuchungshaft nicht notwendig. Fluchtgefahr sei beim Beschuldigten ausgeschlossen. Familienverhältnisse intakt. Sozial war Toralf Fischer abgesichert. Auch Beugungshaft war nicht anzuordnen. Der Richter lächelte, schloss die Akte Gerlind Hopstock und drehte den Kugelschreiber in seinen Händen. Schabowski schien, dass Michalk in der kurzen Verhandlung vor Wut fast das Bewusstsein verloren hätte. Der Kollege argumentierte mit einer genau geplanten Tat von Toralf Fischer, gedungenen Mördern, Erbe und Unerträglichkeit des Seins gemeinsam mit der senilen Schwiegermutter in einer Wohnung. Ein genialer Täter, der sich hier den Anschein von Mitmenschlichkeit gibt. Der Richter musste mehrmals Michalks Zwischenrufe ahnden, am Ende hatte er ihn des Raumes verwiesen.
Toralf Fischer stand auf wackligen Beinen und bedankte sich herzlich beim Haftrichter. Er war innerhalb weniger Stunden zum gebrochenen Mann geworden. Die Schultern waren ihm nach vorn gerutscht. Seine Hände zitterten. Der Mund schloss sich nicht mehr. Die Unterlippe hing. Als hätte sein Geständnis die Fassade der eigenen Wohlanständigkeit restlos zerstört. Immer wieder kratzte er sich an Brust und Armen, setzte zum Sprechen an und sagte kein Wort. Sie verließen den hellgrün gestrichenen Raum. Fischer ließ der Kommissarin nicht höflich den Vortritt. Sein Heldenstatus war gelöscht.
Auf dem Gang vorm Verhandlungszimmer hatte Michalk auf einer harten Holzbank gewartet. Als sie aus der Tür traten, stürzte er auf Schabowski zu. Sie beantwortete die Frage, bevor der Kollege sie stellte. „Der Richter sieht keinen Haftgrund bis zur Verhandlung.“
„Unsere Ermittlungsergebnisse sprechen eine andere Sprache.“
„Der Richter teilt Ihre Überzeugungen nicht“, sagte Schabowski und hätte noch anfügen können: Ich übrigens auch nicht, Kollege Michalk.
Michalk schien das zu spüren und machte auf dem Absatz kehrt. Während er im langen Gang davonlief, sah sich Bastian Michalk um und zeigte mit dem Finger auf Fischer: „Ich kriege Sie, Fischer, mich werden Sie nicht mehr los. Ich lasse einen Mörder wie Sie nicht frei in meiner Stadt herumlaufen. Sie entgehen Ihrer Strafe nicht!“
Schabowski schwieg, auch Fischer. Die Kommissarin hatte das Bedürfnis, den älteren Herren unterzufassen. Nur machte das keinen guten Eindruck, wenn Ermittlerin und geständiger Täter in trauter Zweisamkeit gesichtet wurden. Hönig oder die Biederstedt, Bild, hätten Material für wunderbare Schlagzeilen: Kommissarin auf Du und Du mit einem Mörder. Killer als Schwiegersohn. In Polen fällt das Morden leichter. Toralf Fischer würde noch einiges aushalten müssen. Nicht alle waren der Meinung wie sie und der Richter. Siehe Bastian Michalk: Ich lasse einen Mörder wie Sie nicht frei in meiner Stadt herumlaufen!
Schabowski öffnete die schwere Tür des Gebäudes. Auf der Straße musste sich Toralf Fischer erst orientieren, schaute nach links und rechts und wandte sich dann Hilfe suchend an die Kommissarin: „Ich weiß nicht einmal, wo sich eine Haltestelle der Straßenbahn befindet. Ich saß immer selbst hinterm Steuer. Linie 9 fährt, glaub ich, in meine Richtung.“
Schabowski überkam Mitleid, das sie selbst nicht zu deuten vermochte. Sie sah auf ihre Uhr. Der Gang nach Hause würde sich bis zur Verabredung mit Hainar kaum lohnen. Sie hätte nur Zeit für eine Dusche gehabt. So musste sie der Geliebte eben leicht riechend in seine Arme nehmen. „Mein Auto steht auf dem Parkplatz gleich nebenan.“
Berufsverkehr ließ die Autos auf dem Ring stauen. Die Baustellen schienen stetig zu wachsen. Arbeiter hatten wohl bereits Feierabend. Kein Werktätiger war zu sehen. Radfahrer zwängten sich zwischen die Stoßstangen. Hupen wurden gedrückt, Stinkefinger gezeigt. Fischer saß neben der Kommissarin und hing Gedanken nach. Auch Schabowski fand kein Thema, über das sie mit diesem Mann sprechen wollte. Sie bedauerte, den Vorschlag gemacht zu haben, ihn nach Hause zu fahren.
„Ich habe seit Monaten in einer Parallelwelt gelebt“, sagte Toralf Fischer. Schabowski wusste nichts zu entgegnen. „Ich habe gespürt, dass Oma Schreckliches passiert sein musste. An ihren Tod habe ich nicht zu denken gewagt. Beate war immer so voller Hoffnung. Als Oma verschwunden blieb, hatte Beate all das Schreckliche vergessen. Die vollgeschissenen Windeln, die schlaflosen Nächte, das Geschimpfe, die Sorgen, alles. Oma war auf einmal das Einzige, wofür es sich in ihren Augen zu leben lohnte. Nur weil Oma nicht mehr da war, empfand Beate es so. Das ist doch absurd. Denn wenn Oma sich mal danebenbenahm, was konnte sie schimpfen, meine Beate. Aber am Ende war Omas Leben nichts wert, wie eine räudige Katze haben sie sie totgeschlagen. Kein Ende, das man seinen Eltern wünscht. Und ich trage daran die Schuld. Wissen Sie, jeden Tag mache ich mir schlimmste Vorwürfe und kann nachts nicht schlafen.“
Und Toralf Fischer schaute die Kommissarin an, als würde alle Last der Welt auf seinen Schultern liegen. „Sie konnten nicht ahnen, was in Breslau geschah. Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, Herr Fischer.“
„Aber ich kriege sie nicht aus dem Kopf. Ständig muss ich dran denken. Ich, ich allein bin schuld, dass Beate ihre Mutter verlor. Hätte ich doch diese unglückselige Fahrt nach Breslau nur unterlassen. Rückgängig machen kann ich sie nicht. Beate wird mich fortan als Muttermörder betrachten. Ich habe es in ihren Augen gesehen, als wir gingen. Sie waren kalt, hart, ohne Liebe. Ich habe meine Beate verloren, und niemand wird sie mir zurückbringen können. Beate wird nicht begreifen, dass ich das nur für sie getan habe. Ich liebe meine Frau, müssen Sie wissen.“
„Daran habe ich nie Zweifel gehabt.“
Fischer schaute sie von der Seite her an, die Kommissarin erwiderte seinen Blick, sie standen an einer Ampel, deren nächste zehn Grünphasen sie würden abwarten müssen.
„Ich hätte es nicht tun dürfen. Ich habe nicht nachgedacht. Ich habe es einfach so getan. Unbegreiflich.“
„Manchmal tun Menschen unbegreifliche Dinge.“
Schabowski sah Hainar Krumpholz und ihr Gehabe, ihm zu gefallen. Sie hatte nie geahnt, zu was für irren Sachen sie sich hinreißen ließ, nur um diesen Mann zu gefallen. Sie wollte ihn nicht verlieren. Hainar hatte bereits an die gemeinsame Zukunft gedacht. Paul wollte er eine Familie geben. Mutti. Vati. Kind. Nur dass es eine richtige Familie nie sein würde. Paul würde nie begreifen, was eine Familie ist. Schabowski hatte es gut gefunden, dass ihr Sohn endlich Aufnahme in einem Heim gefunden hatte. Und jetzt dachte sie tatsächlich darüber nach, den schwerbehinderten Paul zu sich zu nehmen, nur weil es ihr Mann sich vorstellen konnte. Hainar Krumpholz hatte ihr Leben geändert. Manchmal wusste Schabowski nicht, ob zum Positiven.
Sie schoben sich zentimeterweise heraus aus dem Verkehr der Innenstadt. Schabowski fuhr an der Grenze zur Höchstgeschwindigkeit. Sie ertrug den Mann neben sich nicht mehr. Diese Gewissensbisse. Diese Zweifel. Vielleicht hatte Michalk ja doch recht, und dieser Mann war ein eiskalter Mörder und spielte ihnen allen nur etwas vor. Sie versuchte, in Fischers Augen etwas zu erkennen, doch die standen voll Tränen.
Das Einfamilienhaus der Fischers lag im Dunkel. Müllcontainer und Baugerät warfen bizarre Schatten. Ein Windspiel gab seltsame Töne. In den Fenstern der Nachbarhäuser brannte heimeliges Licht. Die Fernseher liefen. Dort war die Welt in Ordnung.
„Würden Sie vielleicht kurz mit reinkommen? Vielleicht können Sie meiner Frau alles besser erklären ...“
Fischer sprach bittend wie ein Kind zu den Eltern vorm Direktorenverweis. Selbst Schuld hätte die Kommissarin zu ihm sagen wollen und nickte. Toralf Fischer schloss an der Tür. Sie schwang auf. Nirgendwo Licht und Geräusche im Haus. Durchs matte Glas der Küchentüre fiel rotes Licht und schien sich zu bewegen. Fischer drückte den Schalter. Die Helligkeit blendete.
„Beate?!“, rief Fischer und bewegte sich tastend voran. „Beate?!“
Vielleicht erwartete Fischer, dass seine Frau mit einem Hammer zuschlagen würde. Sich nach hinten sichernd tat er vorsichtig Schritt für Schritt. Schabowski übernahm die Initiative, ging ins Wohnzimmer voraus und tastete nach dem Lampenschalter. Als sich den Raum erhellte, sahen sie Beate Fischer. Sie hing unter der Lampe, die eigenartige Schatten auf Körper und das verquollene Gesicht warf. Die Zunge hing Beate Fischer blau und schräg aus dem Mund, als wollte sie die Schulter lecken. Die gute Bluse war aus dem graublauem Rock gezogen. Sie hatte sich wie für ein Konzert fein gekleidet. Eine goldene Kette baumelte Beate Fischer am Hals. Ringe glänzten an mehreren Fingern. Eine Fußbank lag umgestürzt unter den Füßen der Leiche. Ein Schuh war danebengefallen. Der Nylonstrumpf zuppelte um die Zehen. Unter dem hängenden Körper war ein feuchter Fleck vom Urin.
Fischer umkrampfte die Schultern Schabowskis wie ein mittelalterliches Foltergerät. „Oh, nein, mein Gott, oh, nein.“ Seine Stimme hatte keinen Ton. „Ich hab es gewusst, es ist alles zu Ende.“ Das glaubte Schabowski verstanden zu haben.
Toralf Fischer setzte sich auf das Sofa und weinte lautlos. Die Kommissarin zog ihr Handy aus der Hosentasche und drückte die Nummer des Notrufs. „Leichenfund. Selbstmord wahrscheinlich“, meldete sie emotionslos.
Wieder kein Abend, den Schabowski mit Hainar Krumpholz verbrachte. Scheißjob. Scheißleben. Scheißliebe.