35.

Es hätte auch der Sommer 1997 sein können. An einem Morgen in der zweiten Maihälfte hätte es wahrscheinlich genauso ausgesehen. Die Sonne würde noch nicht wärmen. Die Straßen wären von einem leichten Sprühregen abgewaschen, und in dem schwarz glänzenden Asphalt hätten sich wie rote und grüne Spritzer die Ampeln gespiegelt. Trotz des Regens wäre die Luft lind und wohlriechend, wie sie nur ein Frühlingstag kennt. Der Duft von sattem Grün, vermengt mit der rastlosen Großstadt, dem Geruch hastender Menschen und den Abgasen der Automobile, Lkws und Busse.

Die Mode wäre natürlich eine andere: Damenblusen wären transparent und zeigten BH, bevor er gänzlich abgelegt werden würde. Die Frauen liefen in plumpen Schuhen auf hohem Plateau. Die Sakkos der Männer wären asymmetrisch und weit. Mäntel, Hosen und Blousons verzichteten auf jedes unnötige Detail. Die D-Mark wäre stabil. Rafael-Engelchen klebten an allen Fenstern. Plakate zeigten Cindy Crawford, Men in Black und Das kleine Arschloch. Der englische Patient hatte Merghentins Lover zum Heulen gebracht. Er selbst hätte das nie zugegeben. In Hörsälen hätte der Student gesessen und wäre jeden Morgen mit einem anderen Mann an seiner Seite aufgewacht. Die 100-Meter würde er in 11,2 Sekunden sprinten. Die Kugel keine acht Meter weit stoßen. Bis auf kleine Details würde es keine Unterschiede zum Jahre 1997 geben. Außer das Alter. Aber das interessierte Grischa Merghentin nicht. Die Kurven während der Fahrt jedenfalls hätte Merghentin auch schon 1997 so geschnitten wie heute. Aber da fuhr er den Citroën seiner Mutter. Heute saß er bequemer.

Am Morgen war der Kommissar zwischen seinen zwei Lovern munter geworden. Es hatte keine Zärtlichkeiten vorm Aufstehen gegeben. Heute war der Tag, dem sie seit Wochen entgegenfieberten. Von nichts anderem wurde letzter Zeit mehr gesprochen und die Siegeschancen abgewogen. Selbst Benjamins Mutter hatte mehrmals den Vorbereitungen beigewohnt und ihre Angst zu beherrschen gelernt.

Heute würde im Landratsamt eine Entscheidung fallen. Beide Seiten würden das Schlusswort der Mediatorin akzeptieren. Das hatten sie zumindest bislang behauptet. Wenn denn Gerechtigkeit geübt werden sollte. Die Haftandrohung für Benjamins Mutter musste vom Tisch. Gutwilliges Aufeinanderzugehen hatten sich die Parteien versprochen. Dem voraus war ein reger Briefwechsel der juristisch Beauftragten gegangen. Benjamins Anwalt Hainar Krumpholz würde sie vorm Amt erwarten, und natürlich würden Mutti samt Mandy dort stehen. Merghentin war sich nicht sicher, ob der süße Hund als Beweismittel vorgeführt werden sollte. Die Leine war als Corpus Delicti gesichert.

Sowohl Benjamin als auch Kilian waren noch vor dem Weckerklingeln aus dem Bett gesprungen und hatten es eilig. Brötchen wurden in den Backofen geschmissen, der Kaffee türkisch gebrüht. Das Radio sprach von zähfließendem Verkehr in der Leipziger Innenstadt.

„Wir müssen eher los, als geplant“, hatte Benjamin bemerkt, „zu spät will ich nicht kommen. Was macht denn das für einen Eindruck“.

Merghentin hatte sich bereit erklärt, die Freunde zum Amt zu fahren. Selber ans Lenkrad wollten sich weder Benjamin noch Kilian setzen. Wahrscheinlich spekulierten sie auf einen Sieg und planten, den danach zünftig zu begießen. Auch bei alternativem Ausgang würden sie eine Kneipe aufsuchen und trinken, vermutete Merghentin. Kilian schmiss sich in Schale und zwinkerte Benjamin zu. In letzter Zeit hatte sich der Freund mehr und mehr für Benjamin interessiert, statt für den strittigen Rechtsfall Mutti und Mandy. Mergenthin hatte Grund für Eifersucht und verdrängte ihn. Benjamin war schließlich nur seinetwegen oft bei ihnen Gast, Kilian hätte ihn nie kennengelernt. Vielleicht fand es sein Partner auch einfach nur spannend, mit einem seiner ehemaligen Lover zu schlafen. Und dass er mit zur Verhandlung fuhr, war reines Interesse. Und Kilian hatte manchmal sehr spezielle Interessen. Vielleicht wollte er auch nur seinem Job und den Depressionen entkommen. Die Geschäftsleitung von Kilians Betrieb erwog die Insolvenz. Dann stünde der Aquisiteur von Reklamepostkarten arbeitslos auf der Straße. Aber bereits jetzt wurden Kilian Weiß nur noch zweiundsiebzig Prozent des vereinbarten Lohnes gezahlt. Für die Erhaltung seines Arbeitsplatzes hatte der Freund dieser Gehaltskürzung zugestimmt. Merghentin konnte das nicht begreifen. Aber Merghentin hätte gut Reden, sagten Kilian und Benjamin unisono: Er war im öffentlichen Dienst tätig, da müsse sich keiner um seinen Job sorgen selbst bei Rollstuhl oder plötzlicher Blindheit. Ein Staat geht nicht pleite. Die Schlagzeilen behaupteten gerade das Gegenteil.

Aber weder Herr Weiß noch Herr Wolter hätten Merghentins Job tun wollen. Den Stress tat sich keiner der beiden an. Kriminaldirektor Thorst Schmitt hatte sich zwar bei seinen Mordkommissionen eins und zwei für die Aufklärung der Fälle Proksch und Hopstock bedankt. Doch zufrieden schienen weder er noch die politisch verantwortlichen Stellen zu sein. Merghentin fragte sich, was Schwäblein-Kunz und die Beigeordneten erwartet hatten. Die präsentierten Täter entsprachen offensichtlich nicht ihren Vorstellungen. Aber Realität kollidierte manches Mal mit politischer Hoffnung. So blieb es beim offiziellen Händedruck und kurzen Worten. Kohlund und Schabowski waren sichtbar beleidigt. Aber vielleicht hatte Merghentin deren Gesichtsausdruck nur fehlinterpretiert. Passierte manchmal. Wenn er Kilian und Benjamin so betrachtete, könnte er auch auf böse Gedanken kommen. Lief da etwas zwischen denen, von dem Merghentin nichts wusste?

Merghentin wäre gern mit zum Showdown im amtlichen Sitzungssaal gegangen. Schon aus rein privatem Interesse. Doch sein Chef Lars Kohlund hatte heute einen Urlaubstag genommen. Wegen privater Dinge hatte er Merghentin nur hingeworfen. So konnte er nur mutmaßen, was die privaten Dinge seines Chefs nun waren.

Fast eine Stunde vor der vereinbarten Uhrzeit standen Kilian und Benjamin verhandlungsfertig im Flur und traten auf der Stelle. Merghentin hatte somit länger keine Ruhe und startete das Auto. Er nahm zum Zielort Nebenstraßen und umging damit die angekündigten Staus. Vorm Landratsamt entstiegen seine Männer wie Diplomaten dem Wagen.

„Tschüss und viel Erfolg.“

Benjamin nickte Merghentin sehr ernst zu. Kilian klopfte einen kleinen Rhythmus aufs Dach. Dann schritten die beiden Herren in gut sitzenden Anzügen dem Eingang zu, als wären sie die Hauptpersonen in einem Jahrhundertprozess. Keiner von ihnen tat einen Blick zu Merghentin zurück. Kilian und Benjamin waren im angeregten Gespräch und winkten der Mutti, die mit Mandy im Schlepp grad um die Ecke bog. Ein lautes Hallo und Umarmungen, als hätte man sie ein Jahrhundert nicht gesehen. Mandy hetzte fröhlich bellend um die Gesellschaft. Dann flüsterte Kilian Benjamin etwas ins Ohr. Dann lachten sie beide, umarmten einander und küssten sich auf die Wangen. Den Kommissar im Auto befielen ernsthafte Zweifel.

Merghentin legte seine Stirn auf die Hände am Lenkrad. Es war nicht das Jahr 1997 und so einfach wie damals würde er weder Sexualpartner noch neue Freunde finden. Regen fiel in winzigen Tropfen vom Himmel. Merghentin schaltete die erste Stufe am Scheibenwischer. Die Blätter verursachten ein unangenehmes Geräusch.