Ihr war, als wäre sie schon einmal in dieser Straße gewesen, aber da hatten die Häuser andere Fassaden gezeigt und die Automobile waren ganz alt. Sie sah Gudrun Holzapfel Huppekästel springen, und vor Jürgen Kleinschmidt riss sie aus, der war der Schwarze Mann. Heute kannte sie keinen Menschen, und sie verstand kein Wort. Sie versuchte zu lächeln, doch es grüßte keiner zurück. Alle Menschen schienen in Eile. Sie wollten vor den Sirenen zu Hause sein. Die Frau schaute zum Himmel. Kein Flugzeug. Die Sonne stach. Ihre Augen tränten.

Bei diesem Wetter würde es keinen Alarm geben. Die alte Frau vergaß ihre Angst. Sie lief weiter über das holprige Pflaster. Stocherte mit der Schuhspitze Zementbröckchen aus den Ritzen zwischen den Steinen. Die Buslinie trug heuer eine zweistellige Nummer. Die Bäume waren hoch und streichelten die ziehenden Wolken. Der Supermarkt hinter der Ecke des roten Hauses musste erst kürzlich fertig gestellt worden sein, sie kannte ihn nicht, obwohl sie seit Jahrzehnten im Viertel wohnte. Die Meißner hatte ihr gar nicht erzählt, dass die Quitten im Angebot hatten. Moritz liebte doch Quittengelee, sie würde für ihn welches kochen. Beate trank den Saft gern. Aber nur, wenn sie die Krumseln herausgeseiht hatte. Die alte Frau sammelte die schönsten Früchte in ihren Korb. Sie leuchteten gelb wie die Sonne. Dann betrat sie mit einem Lächeln den Laden.

Drinnen roch’s wie bei Oma. Jahrzehnte hatte sie nicht mehr bei ihr am Tisch gesessen. Das Brot fand die alte Frau versteckt zwischen Kartoffeln und flüssiger Seife. Sie drückte am Fläschchen, vom Geruch wurde ihr übel. Mutters Bettwäsche hatte nach Frühling geduftet und auf dem Laken blühte die Wiese. Federbetten hatte Mutsch sogar im Sommer überzogen. Dann hatte Oma sich aufs Bett gesetzt und ihr die Geschichte vom Rübezahl erzählt, dem Mann mit dem unendlich langen Bart. Zwischen den Klüften der oft und matt besungenen Sudeten, dem Parnaß der Schlesier, hauset in friedlicher Eintracht neben Apollo und seinen neun Musen der berufene Berggeist Rübezahl genannt, der das Riesengebirge traun berühmter gemacht hat als die schlesischen Dichter allzumal. Oma lächelte und strich ihr über die Haare. Und nun schlaf gut, mein Kind. Die Frau mit den Quitten fand im Supermarkt einen Stuhl neben der Fleischtheke, dort saßen andere Alte und aßen die schnell gekochten Menüs. Aus Edelstahlschüsseln dampfte es. Die Scheiben über der Auslage beschlugen. Sie kochte besser. So wie das Gemüse hier aussah, hatte es zu lange gegart. Sicher fehlte auch Salz. Das Mädchen hinter der Theke könnte selbst einen Teller vertragen. Von dem Wellfleisch zum Beispiel. Das daneben sah aus wie Flecke. Die alte Frau wusste, dass dieser Geruch sie an Oma erinnerte. Flecke – überhaupt, sie müsste Beate mal sagen, dass sie darauf Appetit hätte. Beate kochte immer nur null acht fuffzehn. Oma hatte die Flecke bereitet, mein Gott! Der Frau lief das Wasser im Munde zusammen. Sie würde sich eine Portion holen und stellte sich an.

„Prosze?“

„Flecke.“

Das dünne Mädchen verstand nichts. Die alte Frau wiederholte.

„Flecke.“

Die Alte musste darauf zeigen. Das Mädchen stach mit einer Gabel darein und lächelte um Verständnis. Die Frau nickte huldvoll. Sicherlich ein Aushilfsjob, der von einer Ausländerin besetzt worden war. Die kannte Flecke nicht mal, obwohl sie die im Angebot hatte. Die Frau seufzte und schüttelte ihren Kopf. Beate sagte immer, dass sie damit aufhören solle mit ihrem Lächeln, es mache sie wütend. Dabei lächelte die Frau gar nicht. Sie hatte bei Beate nichts zu lachen, und Flecke konnte die gar nicht kochen. Und hier hatten sie die am Imbiss ausliegen. Warum war sie noch nicht eher hierher zum Essen gegangen? Sie musste erneut mit dem Kopf schütteln und seufzen. Die Leute sahen sich nach ihr um. Sie lächelte und grüßte zurück.

„Trzej pięćdziesiąt.“

„Bitte?“

„Trzej pięćdziesiąt.“

Die alte Frau verstand kein Wort und reichte dem Mädchen einfach ihr Portemonnaie über die Theke. Das Mädchen stocherte mit dem Finger im Kleingeld und nahm dann einen Fünf-Euroschein aus dem Geldfach. Dann zeigte sie der alten Frau das Kleingeld und ließ es in die Geldbörse fallen. Die Alte schlurfte mit Flecke auf ihrem Teller zurück an den Tisch. Das Mädchen rief ihr hinterher und winkte mit dem Portemonnaie. Beate hätte geschimpft. Die alte Frau war froh, dass ihre Tochter nirgends zu sehen war. Was meckerte die, wo sie doch gar nichts falsch gemacht haben konnte. Beate behandelte sie wie ein Kleinkind, dabei war sie die Mutter. Zumindest gewesen. Wann hatte Beate das Elternhaus verlassen? Da hatte Heinz noch gelebt, und der lag doch schon gut zwanzig Jahre unter der Erde. Sie musste mal fragen, ob Beate das Grab pflegte. Sie konnte ja nicht mehr, seit ihr die Knie so schmerzten. Aber im Rollstuhl sitzen, das wollte sie nicht. Sie hatte sich immer zu helfen gewusst. Rollstuhl, wie hieß die Freundin von der Heidi aus den Alpen, die dann wieder laufen lernte. Marie?

Nein, wie die Flecke von Oma schmeckten die nicht. Waren das überhaupt Flecke? Die alte Frau zog mit der Gabel das Fleisch über den Teller, dann hob sie ihn sich unter die Nase. Ein paar Tropfen Soße liefen über die Knopfleiste der guten Bluse. Beate würde sie schimpfen, wenn sie den Dreck wieder rauswaschen müsste. Die Alte verrieb ihn. Es war fast nichts mehr vom kleinen Missgeschick zu sehen. Und wenn Beate was sagte, würde sie ihr entgegenhalten, wie oft sie für sie die Hemden gebügelt hatte. Hieß deren Mann Manuel oder war das der aus dem Hotel jeden Nachmittag? Klara! Ja, Klara hieß Heidis Freundin im Rollstuhl. Aber sie selbst würde niemals in einen Rollstuhl steigen. Außerdem taten ihr die Knie heut gar nicht weh. Aber Beate schleppte sie von einem Arzt zu dem nächsten. Manchmal glaubte sie, Beate sei gar nicht ihre Tochter.

Als sie kaute, war sie sicher, Omas Kochkunst doch auf der Zunge zu haben. Ja, doch, doch, so hatten die Flecke bei Oma immer geschmeckt. Sie sah den verrußten Herd in der Küchenecke. Der musste mit Holz heiß gemacht werden. Heute nannten sie die Platten Ceranfeld. Auf Felder war sie nach dem Kriege stoppeln gegangen. Jetzt lagen Quitten in ihrem Korb. Moritz hatte sie das Gelee versprochen. Hoffentlich war der nicht wütend, weil sie noch Mittag gegessen hatte. Aber Moritz war ihr immer viel lieber als Beate gewesen. Die hatte manchmal einen Ton an sich! Früher hätte sie kurz mit der Hand ausgeholt und zugeschlagen. Aber seit das mit den Knien passiert war, hatte sie nicht mal mehr dazu die Kraft. Aber die Flecke, tiptop. Oma hatte beste Kochkunst bewiesen. Sie stellte sich an der Theke an und reichte dem dünnen Mädchen den Teller zum Nachschlag.

Dann musste sie endlich nach Hause. Die Schule war sicher längst aus, und Moritz würde das Schulessen nicht geschmeckt haben. Sie würde sich den Rest Flecke einpacken lassen. Auch Moritz würden sie schmecken, denn Freund Rübezahl ist geartet wie ein Kraftgenie, launisch, ungestüm, sonderbar; bengelhaft, roh, unbescheiden; stolz, eitel, wankelmütig, heute der wärmste Freund, morgen fremd und kalt. Vor Beate und Rübezahl hatte sie Angst, die würden auf sie warten und ihr Vorwürfe machen. Das dünne Mädchen hinter der Theke gab Omas Flecke in ein Styropor-Schächtelchen, das musste die alte Frau vorsichtig tragen, damit die Soße nicht an den Seiten herauslief.

Die Frau von der Kasse stellte sich ihr in den Weg.

„Proszę Pani, zapłacić!“

Ja, sie hatte doch gar nicht vor, Seife und Quitten zu stehlen. Die alte Frau hielt der Kassiererin einen Fünfzigeuroschein entgegen. Wenn die jetzt nicht wechseln kann, fange ich an zu schreien, dachte die Alte. Aber die Kassiererin hatte schnell die Posten getippt und reichte ihr das Wechselgeld. Ein paar Pfenge rutschten ihr neben das Fach. Ein junger Mann bückte sich. Moritz. Warum hatte der denn nicht gesagt, dass er mit ihr einkaufen wollte? Nein, diese Kinder! Auch er trug ein Styropor-Kästchen. Hatte der sich seine Flecke selber gekauft?

„Ich hab doch schon welche.“

Die Alte hob ihren Beutel, um sie Moritz zu zeigen. Doch der Junge drückte sich an ihr vorbei, ohne zu sagen, wohin er noch wollte. Sicher hatte er schon wieder eine neue Freundin und keine Zeit mehr für Mutter. Jugend, seufzte die Alte und griff Seife und Quitten. Aber wo war der Beutel? Sie hatte ihn doch noch in die Manteltasche gesteckt. Dort fand sie jetzt den Lottoschein von voriger Woche. Beate hatte einen Dreier gehabt. Oder hatte ihr das Gudrun Holzapfel erzählt? Die hatte die Fehler ihrer Diktate angekreuzt und gewonnen. Hut ab!

Die Alte steckte Quitten und Flecke in ihren Mantel. Dass Soße herauslief, bemerkte sie nicht. Sie pfiff, als sie sich auf den Heimweg machte. Dort im Haus hatte der Brunner die Schuhe geflickt. Macht heute gar keiner mehr, kauft man neu. Da konnte sie Beate noch so sehr ins Gewissen reden, die schmiss das Geld zum Fenster raus. Wäre sie so sorglos gewesen, ihre Mutter hätte sie achtkantig, wo doch der Vater im Krieg war. Und die Bäume waren gewachsen. Mal sehen, ob das Herz von Jürgen Kleinschmidt noch in der Platane zu sehen war. Der war in sie so was von verliebt gewesen und hatte täglich Blumen gebracht. Aber Mutter hatte gesagt: Der verdient dich nicht! Den Kleinschmidt hatten sie ja dann auch verhaftet. Der sollte mit Kindern, ... schrecklich, ganz schrecklich.

Da kam ihr der Kleinschmidt entgegen und hatte so ein böses Gesicht wie Peter Lorre. Die alte Frau konnte nicht schreien. Ein Zweiter hielt ihr von hinten seine Hand auf den Mund. Die Quitten fielen ihr aus dem Mantel und rollten über die Straße in das Huppekästel von Gudrun Holzapfel. Die alte Frau fiel. Jetzt schmerzten die Knie. Aber die Fußtritte in ihren Bauch taten mehr weh. Dann traf sie Kleinschmidts Stiefel frontal ins Gesicht. Ihr Gebiss brach und rutschte zwischen den Lippen aufs Pflaster. Sie hörte Beate schreien, oder sie war es selbst. Der Kleinschmidt mit seinem Kumpan droschen weiter auf sie ein und durchsuchten den Mantel. Dabei hatte sie die fünfzig Euro gerade gewechselt. Sie hielt ihnen das Fläschchen mit Seife entgegen, wenn sie das haben wollten, bitte. Sie konnte neue kaufen, gab sie jetzt ja in zig Kombinationen Holunder-Mango, Erdbeer-Vanille, Krokant mit Schokosplittern. Lecker. Die Jungen übersahen die Seife und fingerten an ihrem Hals. Die Luft blieb ihr weg. Das Goldkettchen riss unter ihren Händen. Das einzige, was ihr von Oma geblieben war. Und die Flecke würde der Moritz gar nicht mehr essen können, die lagen im Dreck. Sie spürte die Brocken in ihrem Mund. Dann traf sie von hinten der Absatz vom Stiefel. Die alte Frau verlor das Bewusstsein. Die Jungen hörten erst auf, als ihr Blut die Löcher vom Gulli im Rinnstein erreicht hatte.