Er war enttäuscht. Seine Amtseinführung hatte er sich feierlicher vorgestellt. Mit Fanfaren links, rechts, und er in der Mitte bekam den Blumenstrauß von der attraktivsten Kollegin in die Hände gedrückt. Danach Küsschen auf beide Wangen, wie es bei der Tour de France üblich war. Und das Publikum applaudierte und wollte gar nicht mehr aufhören in die Hände zu klatschen. Hochrufe wären zu hören. Die attraktivste Kollegin hieß seiner Meinung nach Manderley und hatte angolanische Vorfahren. Aber als sich der neu berufene Kriminaldirektor im Raum umsah, entdeckte er weder Manderley noch den Oberbürgermeister noch die Fanfaren. Vereinzelt standen Menschen im Saal und grüßten ihn schüchtern. Aber noch hatte die Zeremonie nicht begonnen. Thorst Schmitt hatte Hoffnung.
Im großen Besprechungsraum waren die Stühle zur Seite geräumt worden. Stehtische hatte man aufgestellt und mit weißen Laken umspannt. Das Sonnenlicht machte den Staub in der Luft kenntlich. Wahrscheinlich hatte die Reinigungsfirma gerade über die Auslegware gesaugt. Ein schmuckloses Buffet war unter den Fenstern aufgebaut worden. Darauf lagen Ananasscheiben und gegrillte Hühnerflügel. Dahinter stand die dicke Frau aus der Kantine in der blauweiß karierten Schürze, die über ihrer Brust spannte. Sie nickte ihm zu und hob einen Deckel vom Topf. Darin dampfte Bockwurst. Kartoffelsalat stand in drei großen Schüsseln daneben. Ein handgeschriebener Zettel pries: hausgemacht. Die wenigen bisher erschienen Gäste hatten von Thorst Schmitts Auftritt kaum Notiz genommen. Dominic Bleicher, der Pressesprecher hielt diskreten Abstand, als wolle er Schmitt unter Kontrolle behalten. Der Stadtdezernent für Inneres musste sich räuspern, es klang, als würde er kotzen. Dann reichte er ihm die Hand. Das brachte kurzzeitige Aufmerksamkeit der Anwesenden und wohlwollendes Lächeln.
Oberkommissarin Agnes Schabowski drehte sich ihm zu, und Thorst Schmitt war erneut fasziniert von ihren unregelmäßigen Zügen. Seit die Schabowski zur Leiterin der Mord eins berufen worden war, zeigte sie sich ihm gegenüber viel aufgeschlossener als ehedem, wo sie ihm für seine Avancen die Glasnudeln vom Vietnamesen vor die Füße geschmissen hatte. Aber jetzt, wo er auf der Stelle des Kriminaldirektors saß, änderte sich vielleicht ihr Verhalten grundlegend ihm gegenüber. Denn auf Dauer war das mit der Oksana ja nichts für einen Mann seiner Position, auch wenn ihm die zweihundert Euro nicht ans Bein gebunden waren. Bei der Gehaltssteigerung könnte er Oksanas Service jetzt sogar noch öfter nutzen. Aber Geld unnütz zum Fenster rausschmeißen, musste er nicht, und falls ihn einer beim Gang ins Bordell beobachtete, wäre es nunmehr ein Skandal und die Schlagzeilen wert: Sachsensumpf. Agnes Schabowski lächelte ausgesprochen freundlich, empfand er und nickte gnädig zurück. Thorst Schmitt spürte die Attraktivität der Macht, und die würde ihm Sex auch ohne Bezahlung gestatten. Doch sicher war er sich da nicht.
Lars Kohlund, sein ehemaliger Vorgesetzter, lehnte am Rahmen der Ausgangstür und hielt ein Glas Wasser in seinen Händen. Diese Feier hatte sich der Kollege sicher anders vorgestellt. Auch Kohlund hatte sich auf den Posten des Kriminaldirektors beworben. Jetzt aber war endlich einmal er dran: Thorst Schmitt. Jahrelang hatte er Kohlunds Befehle empfangen, jetzt war er Kohlunds Chef. Kohlund hob ihm sein Glas entgegen, es schien mit Blei gefüllt und Kohlunds Lächeln wirkte erzwungen. Schmitt lief forschen Schrittes auf den Kollegen zu.
„Schön, dass du die Zeit erübrigen konntest, Lars.“ Den Triumph in seiner Stimme konnte Schmitt nicht verbergen.
„Doch selbstverständlich.“
Oh, wie schwer dem Kohlund diese Worte fielen. Wie er die Silben zog, den Blick nach unten wandte. Vorgesetzte und Verwaltung hatten sich für ihn, Thorst Schmitt, entschieden, gegen Lars Kohlund, seinen Chef aus der Mordkommission Leipzig zwei. Jahrzehntelang hatte Schmitt im Schatten des eloquenteren und jüngeren Kollegen gestanden. Im Studium schon war Lars Kohlund ihm stets eine Note voraus gewesen. Allein beim Schießen erlangte Schmitt bis heute bessere Quoten. Obwohl er einige Monate mehr Dienst in der Polizei tat und der Rangfolge nach dran war, hatten die Chefs damals Kohlund zum Leiter der Mord zwo befördert. Vielleicht war Schmitts Wut darüber letztendlich der Beginn seiner Entfremdung von Ehefrau, den Kindern und den Kollegen gewesen. Nein, Thorst Schmitt war seit diesem Affront nie mehr er selbst gewesen. Er fühlte sich unterfordert, missverstanden und milde belächelt. Aus purer Wut hatte er sich um die freigewordene Stelle des Direktors beworben. Wider alle Erwartungen hatten die Entscheidungsträger ihm dieses Amt übertragen. Logisch, dass der nette Lars darüber enttäuscht war. Der erste Stopp auf seiner Karriereleiter, und er war der Grund: Thorst Schmitt. Er stieß mit Kohlund an. Aus seinem Glas schwappte der Rotkäppchen-Sekt.
„Auf dein Wohl, Lars!“
„Glückwunsch, Thorst, du hast es verdient.“
Lüge! So wie der guckte, konnte es Kohlund nicht ehrlich meinen. Thorst Schmitt musste lächeln.
„Auf gute Zusammenarbeit.“
Eine Scheißfloskel, aber angemessen. Thorst Schmitt war nicht bereit, auf vergangene gemeinsame Arbeit und Sympathien Rücksicht zu nehmen. Nun war er der Direktor. Er trug fortan die Verantwortung für die Arbeit der Leipziger Kriminalpolizei. Da konnten private Beziehungen nur schaden. Wenn allerdings Hauptkommissarin Agnes Schabowski ihre Zurückhaltung aufgab, würde er sich sicher nicht sklavisch an sein Regelwerk halten. Kohlund nippte am Sekt. Die angolanische Manderley nahm sich grade ein Glas grazil vom Tablett. Woher war dieses Klasseweib so plötzlich gekommen? Übersehen konnte Thorst Schmitt sie nicht haben. Manderleys Augen blitzten ihm zu. Er hoffte, sein Blick blitzte zurück. Als er sich zu ihr begeben wollte, entdeckte Schmitt Konstantin Miersch.
„Bis später!“, meinte er schnell zu Kohlund, neben dem er noch immer stand. Der nickte und trank sein Wasserglas leer. Schmitt machte sich auf den Weg, Pressechef Dominic Bleicher im Schlepptau.
Miersch, der gewesene Direktor, plauderte erfrischend locker mit der dicken Frau hinterm Buffet. Der Alte sah aus, als wäre er Dauerurlauber. Seine Haut war sonnengebräunt, sein Lächeln wirkte in die Wangen getackert. So entspannt hatte der nie auf seinem Chefsessel gesessen. Miersch schien wie neugeboren. Wenn man ihn daraufhin ansprach, behauptete er, man habe ihn im Präsidium all die Jahre absichtlich verkannt. Er sei von Haus aus eine Ulknudel, Fetensau und der beste Kumpel, den man sich vorstellen könne. Keiner der ihm Unterstellten hatte diese Seite am Kriminaldirektor je bemerkt. Miersch hatte sie keinem gezeigt. Jetzt munkelte man, sei er ins Gaststättengewerbe eingestiegen und das sei sein Traumjob schon immer gewesen. Andere meinten, es sei die Liebe in der Provinz, denn Miersch war aufs Land gezogen. Thorst Schmitt nahm forsche Schritte auf seinen ehemaligen Chef zu. Der schien sich ehrlich zu freuen und haute seinem Nachfolger im Amt die Pranke auf die Schulter.
„Noch können Sie lachen, Schmitt, das wird sich ändern!“
„Wäre gelacht.“
„Gott erhalte Ihnen Ihren Humor. Sie werden ihn brauchen.“
Die Kunst des Smalltalks hatte Schmitt nie gelegen, und über Gott fiel ihm augenblicklich kein Bonmot ein. Schmitt suchte nach Themen, die Miersch und ihm Peinlichkeit sparten. Wie geht’s der Gattin? wäre ein Ansatz. Doch Schmitt glaubte gehört zu haben, der Direktor a. D. lebe in Scheidung oder zumindest bei einer anderen Frau. Da verbot sich das Fragen. Ob der Alte Kinder hatte, wusste Schmitt nicht. Über zehn Jahre hatte er unter Mierschs Befehlen gestanden, von der Person kannte Schmitt weniger Fakten als von jedem, der im Verhör vor ihm gesessen hatte. Konstantin Miersch hatte in Bayern um seine Versetzung gebeten, wahrscheinlich war in der Heimat seine Karriere zu Ende gewesen, deswegen hatte er die Herausforderung Osten gern angenommen. Die Privatperson Miersch kannte keiner. Thorst Schmitt überlegte, was die Kollegen über sein eigenes Privatleben wussten. Er hoffte, dass er niemals zu viel davon preisgegeben hatte. Vor Zeiten war er mit Kohlund befreundet gewesen, bis der beschloss, Karriere zu machen. Sicher hatte Kohlund einige persönliche Anekdoten gespeichert, die Schmitt heute unangenehm wären. Aber solange sich der Kollege damit nicht der Presse offenbarte, schlief Schmitt beruhigt. Dass seine eigene Tochter mit Enthüllungsjournalismus Geld verdiente, verdrängte der künftige Kriminaldirektor. Es konnte gut sein, dass Annika fortan bereit war, diese familiären Kontakte zu nutzen. Aber Thorst Schmitt hatte keine Ahnung, womit sich Annika gerade beschäftigte. Er wusste nicht mal, wo sie wohnte. Sicherlich nicht in dem Kaff Leipzig, wie sie ihre Heimatstadt nannte. Die jüngere Claire hatte er seit dem Tod der Mutter gar nicht mehr gesehen. Schmitt war ein Scheißvater. Die plötzliche Erkenntnis belastete ihn jedoch nicht.
„Jetzt genießen Sie Ihre Pension?“
Der Alte lächelte und schwieg, schaute sich unter den wenigen Anwesenden um. Schmitt fühlte sich ignoriert und ließ den Direktor a. D. einfach stehen. Stoffel! Konstantin Miersch hatte sich überhaupt nicht geändert, nur entspannt sah er aus. Doch Miersch hielt Schmitt am Jackettärmel zurück. Der zum Anlass neu gekaufte Anzug würde hoffentlich keine Knitter bekommen.
„Sie werden zwischen allen Stühlen sitzen, verehrter Kollege. Wie Sie auch entscheiden, einigen kann es nicht recht sein. Sie brauchen Fingerspitzengefühl, dass ich leider niemals gehabt habe.“
Schmitt war versucht anzumerken, dass Karriereristen aus den alten Bundesländern bei ihm aus Prinzip ungelitten waren, von Oberbürgermeister bis LVB-Chef. Die nahmen den Job hier im Osten als Sprungbrett in Politik und auf Managerposten und sahnten nach vollbrachter Tat bei den Pensionen auch noch gewaltig ab. Am Ende hinterließen diese Westimporte mehr Chaos als je vordem gewesen war. Planwirtschaft und Parteidoktrin zum Trotz. Schmitt hatte sich vorgenommen, zukünftig vorurteilslos auf die Kollegen zu blicken, sie streng nach ihrer Arbeitsleistung einzuschätzen, nicht nach Herkunft und Diplom. Aber er wusste, dass er das nicht durchhalten würde. Die Schabowski hatte auf seiner Werteskala wesentlich mehr Sympathiepunkte als Kohlund, und die kam nun aus der alten Bundesrepublik.
Schmitt zeigte Miersch seine Hände.
„Die können streicheln und kratzen.“
„Sie müssen nur wissen, wen und wann.“
Da lachte der Alte, so wie ihn Kohlund noch nie lachen gehört hatte. Alle im Saal blickten zu ihnen. Schmitt hatte das Gefühl, Miersch mache sich über ihn lustig. Und prompt haute der ihm noch mal seine Pranke auf die Schulter, sodass Schmitt der Sekt aufs Jackett schwappte. Daraufhin wischte ihm Miersch über die Brust. Mensch, der Anzug war für den Anlass teuer erkauft! Nun sah der vor dem offiziellen Teil schon wie vom Billiganbieter aus. Die Dicke vom Buffet hielt sich die Hand vor den Mund. Ihre Gesichtshaut dahinter war rot. Schmitt ärgerte sich. Miersch lachte noch immer.
„Sie werden das Kind schon schaukeln. Das Zeug haben Sie zu.“
„Werd mich bemühen.“
Mit Diener und Rückwärtsschritten entfernte sich Schmitt und glaubte, dass ihn Konstantin Miersch soeben vorgeführt hatte, und vermeinte dessen unterdrücktes Prusten zu hören.
„Ich drück alle Daumen. Toi, toi, toi.“
Und der Alte hob die Hände zum Himmel, seine Daumengelenke wurden weiß. Die Umstehenden barsten vor Sympathie und leisem Seufzen. Selbst Dominic Bleichers Mundwinkel rutschten nach oben. Es war wie im Theater vor der großen Premiere, und er war der Hauptheld und hatte kein Lampenfieber. Zumindest redete sich Thorst Schmitt das ein.
„Sie können sich auf mich verlassen.“
Schmitt schritt der Bühne zu. Auf dem Weg konnte er dem Impuls, wie der Papst seine verschränkten Hände übers Volk zu halten und jedem zuzunicken, nur knapp widerstehen. Wahrscheinlich gehörten manche Gesten einfach zum Amt. Und er wollte nicht wie die Parteibonzen Frank-Walter Steinmeier, Holger Zastrow oder Philipp Rösler wirken, die Niederlagen als Siege verkauften. Er hielt seine Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Als Thorst Schmitt durch das Spalier der Gäste lief, stand ihm plötzlich Agnes Schabowski im Weg. Die spröde Kollegin trug seit ihrer Beförderung offiziell ein R. zwischen ihren Namen: Agnes R. Schabowski. Vermutlich versprach sie sich vom R. mehr Respekt. Schmitt lächelte, weil er es wollte.
„Die Aufregung steigt.“ Sie schien ihn zu fragen.
„Meine, nicht Ihre“, gab sich Schmitt locker.
„Ich wünsche Ihnen von Herzen Erfolg“, flötete Agnes R., „und ganz viel Glück, und alles, alles Gute.“
Thorst Schmitt müsste sich sehr täuschen, wenn das nicht nach mehr klang. Die Kollegin spielte nach den üblichen Regeln, aber sie spielte schneller als die anderen. Er freute sich schon auf ihre außerdienstlichen Gespräche. Die Schabowski reichte ihm beide Hände. Er ergriff sie. So viel Intimität war Schmitt fast peinlich. Er kam sofort zum Dienstlichen.
„Sind Sie im Fall der Vermissten weitergekommen?“
Die Schabowski zuckte zurück, als hätte er ihr beim Tanz einen unsittlichen Antrag gemacht. Schmitt war ja bereit, mit ihr persönliche Beziehungen zu knüpfen, aber vor all den erschienen Gästen musste die private Annäherung scheitern. Agnes R. hatte verstanden und fiel auch sofort wieder in ihren dienstlichen Ton.
„Keine Anhaltspunkte. Wie vom Erdboden verschluckt.“
„In diesem Alter.“
Dass die verschwundene Dame verstorben war, lag nah. Seit gut einem halben Jahr suchte die Schabowski mit ihrer Mord eins Gerlind Hopstock, eine 79-jährige, demente Frau. Deren Familie befürchtete nunmehr das Schlimmste. Was eigentlich auch Schmitt und die ermittelnden Kollegen annehmen mussten. Gerlind Hopstock hatte einen Moment der Unachtsamkeit genutzt und war der Familienidylle im Einfamilienhäuschen entflohen. Die Tochter verzehrte sich in bitteren Vorwürfen, ihre Mutter alleingelassen zu haben, obwohl sie um deren Zustand wusste. Der Schwiegersohn sah die Sache entspannter und rational. Dass geistig Verwirrte ihren Betreuern weglaufen, kommt stets wieder vor. Meist findet man sie nach wenigen Stunden verlassen in Parks, auf Bahnhöfen, oder sie kommen von selbst zurück. Gerlind Hopstock wurde bislang nicht gefunden. In keinem Krankenhaus lag sie als Verletzte eines Unfalls. Unbekannte Tote oder Opfer andrer Gewalt waren nicht angezeigt worden. Die unbekannte Leiche im Keller der Riemannstraße war männlich und keine dreißig. Einen Selbstmord schlossen sie nicht aus, aber mit ihrem Geisteszustand wusste Gerlind Hopstock nicht, was sie tat. Dass sie ihren Tod geplant und vorbereitet hatte, war zumindest unwahrscheinlich. Und an den bevorzugten Orten für Suizide hatte man keine Gerlind Hopstock gefunden.
„Auch aus den angrenzenden Regierungsbezirken erlangten wir keine Hinweise, die im Zusammenhang mit unserer Vermissten stehen könnten. Wir weiten unsere Suche aus. Aber ein erster Blick in die deutschlandweite Datenbank erbrachte ebenfalls kein Resultat. Bleibt der Zufall, der uns weiterbringt. Hoffe ich. Hoffen wir.“
„Frau Kollegin, nicht so pessimistisch.“ Und prompt schlug Schmitt der Schabowski auf die Schulter, genauso wie es Miersch bei ihm soeben getan hatte. Offensichtlich gab es einen Zusammenhang zwischen Gesten und Amt. Schmitt war im Zweifel, ob er das gutfinden sollte. „Manche Fälle klären sich unerwartet und schnell.“
„Eine demente Greisin interessiert keinen. Außer der Familie natürlich.“
„Manchmal ist diese froh, wenn das Problem gelöst ist.“
Da sprach Thorst Schmitt aus eigener Erfahrung. Monatelang hatte seine Geschiedene auf der Intensivstation im Koma gelegen. Stunde über Stunde hatte er an ihrem Bett gesessen. Die Ärzte waren einstimmig zur Diagnose gekommen, dass Gabrieles Gehirn tot war und nie wieder anspringen würde. Sie hatten sich zusammengesetzt, er, die Kinder, der Lover, die Ärzte, und sie hatten beraten und geweint und beschlossen, auf die lebenserhaltenden Maßnahmen zu verzichten. Er würde seine Gabriele nie wieder zurückerhalten. Alle standen ums Bett, als der Schalter ausgedrückt wurde und Gabriele ihr Leben im Beisein der Familie aushauchte. Vielleicht hatte Gerlind Hopstocks Krankheit ihre Familie an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Vielleicht hatte einer der Verwandtschaft dieser unerträglichen Situation ein Ende gemacht.
„Die Familie leidet. Noch mehr, weil sie nicht wissen, was mit ihrer Oma passiert ist.“
„Kollegin Schabowski, Sie werden den Fall klären, bin ich mir sicher.“ Schmitt mochte sich selbst nicht hören. Er sprach wie der Alte, genauso. Dabei wollte er auf dem Posten fast alles anders gestalten. Mitreden sollten die Kollegen können. Kritik würde er aushalten, ja, sich über sie freuen. Soweit sie berechtigt war, keine Frage. Genauso wollte er es in seiner Antrittsrede sagen. Genauso. Thorst Schmitt fühlte in seiner Jackettasche die Karteikärtchen, auf denen er seine Dankesworte notiert hatte. Er würde sie zu gegebenen Zeitpunkt lässig hervorziehen und wie der Gottschalk mal draufschielen und frei von der Leber weg reden. Apropo. „Darf ich Ihnen noch ein Gläschen Piccolo reichen, Frau Kollegin?“
Allein ihr Blick war die Sünde wert.
„Ja.“
Agnes R. Schabowski hauchte, sodass nur er sie verstand. Thorst Schmitt eilte zur dicken Kantinenfrau und ließ sich zwei Sektkelche reichen. Die rote Farbe war aus dem Gesicht der Buffetteuse gewichen. Sie gab sich betont sachlich.
Diese Kantinenfrau hatte sich eindeutig mit zu viel Kölnisch Wasser besprüht, sie roch aufdringlich und billig. Oder hatte sie es erst nach ihrem Lachanfall vorhin über sich gegossen, um den Schweißgeruch zu verdecken? Schmitt griff nach den Gläsern. Die waren aus Plaste und landeten nach dem Fest auf dem Müll.
„Bitte.“ Schmitt schob Agnes R. den Sekt in Hand. Die Schabowski schaute, als wäre er der Prinz von Monaco. Ein bisschen so fühlte sich Thorst Schmitt auch. „Halten Sie mich auf dem Laufenden? Ich sage meiner Sekretärin Bescheid: Sie haben unbeschränkten Zutritt. Denn so einfach kommen Sie zu mir nicht mehr durch.“
„Ja, natürlich.“
So in Amt und Würden fühlte sich Schmitt herzlich wohl und bedauerte, nicht eher befördert worden zu sein. Er suchte die Augen Lars Kohlunds. Die beiden Kommissare fixierten einander und hoben die Gläser. Die Schabowski drängte dazwischen.
„Vielleicht können Sie mir wirklich raten, Herr Hauptkommissar.“
„Meine Freunde nennen mich Thorst.“
„Ich weiß nicht, ob ich diese Ehre annehmen darf?“
„Sie dürfen, Agnés, Sie dürfen.“ Und Thorst Schmitt sprach den Namen französisch, weil er so seiner Meinung nach mehr Sex-Appeal hatte. Die Schabowski guckte erschrocken. Schmitt blieb eiskalt: „Wenn ich angelegentlich fragen darf, was verbirgt sich denn hinter dem R?“
„Bitte?“
Die Schabowski war eindeutig überfordert. Sie schien ihn tatsächlich nicht verstanden zu haben.
„Das R. in Ihrem Namen, was bedeutet es?“
„Na, dann können Sie mir Ihren Zweitnamen doch sagen oder muss ich erst in die Personalakte schauen?“
„Er ist kein Geheimnis. Ragna. Ein Teil meiner Familie hat isländische Wurzeln.“
„Was!“ Schmitt glaubte, sich verhört zu haben. „Wie eine Brunhilde sehen Sie gar nicht aus.“
„Sie haben mich ja auch noch nicht kennengelernt.“
„Stimmt.“
Also, wenn das kein offensiver Flirt war, dann hatte Thorst Schmitt noch nie Frauen verstanden. Und er hatte selten etwas anbrennen lassen. Kohlund, der Spielverderber, hatte ihm ehedem immer wieder ins Gewissen geredet. Gabriele würde leiden und die Familie. Schmitt sah das anders. Bis sich dann Gabriele von ihm getrennt hatte und fortan nicht mehr litt. Mit einem aus Arabien hatte sich seine Ex eingelassen: Nasreddin El Atassi. Dazu sagte Schmitt nichts. Aber die Schabowski eröffnete ihm heute Abend Perspektiven, auf die er nie zu hoffen gewagt hätte. „Ich würde dich gern Ragna nennen.“
Die Schabowski blickte ihn verächtlich an, als ob er ihr mit diesen Worten einen unsittlichen Antrag gemacht hätte. „Wir bleiben beim Sie, Chef. Wäre mir lieber.“ Die tat ja grad so, als wäre ihr Vorname gar nicht gefallen. Mensch, die Schabowski hatte doch um seine Hilfe gebeten. Jetzt war Schmitt, als wären noch einmal die Glasnudeln auf seinen Füßen gelandet. Aber die Schuhe blitzten noch immer. Auch sie waren extra zum Anlass gekauft. Er hatte sie sich im Laden noch blank putzen lassen.
Und so stand Schmitt neben Agnes Ragna Schabowski, und die hatte mit einem Mal weder Fragen noch Antworten. Dominic Bleicher nickte seinem neuen Vorgesetzten zu und ging der improvisierten Bühne entgegen. Der Vorhang wurde geöffnet. Denn im Moment klopfte der Dezernent für Inneres gegen das Mikro. Bässe dröhnten durch unregulierte Boxen. Die Dicke am Buffet hielt sich die Ohren.
„Meine Damen, meine Herren. Liebe Kollegen, liebe Freunde, liebe Vertreter der Presse. Es ist mir eine große Ehre ...“
Thorst Schmitt nahm Haltung an. Diese Worte galten ihm, dem neuen Kriminaldirektor. Die Augen der Anwesenden wandten sich ihm und der Bühne zu. Man lächelte. Ein Kameramann schob sich Publikum aus dem Weg, sodass er ihn voll im Bild hatte. Thorst Schmitt schritt wacklige Stufen nach oben. Die Gäste hatten ein Spalier gebildet und verteilten sich nun wieder zwanglos. Der Saal war voll. Mit einem Mal schien das ganze Präsidium versammelt. Schmitt nickte Bruno Ehrlicher zu. Neben dem stand der Kain und grüßte ihn. Der ehemalige Innenminister sprach mit der Dicken am Buffet und wandte ihm sein Gesicht zu und winkte. Der Oberbürgermeister schritt durch die Tür, umringt von Bodyguards. Und Schmitt sah die Kommissare Arndt und Fuchs und Jürgen Frohriep, Schimanski und sogar die Intendantin vom MDR. Die reichte ihm eine Grußadresse des Ministerpräsidenten oder gar von Angela Merkel. Schmitt hielt das Papier wie eine Monstranz und wagte nicht, die Zeilen zu lesen. Er schritt würdevoll aus und nahm den Weg zu Stadtdezernent und Mikrofon. Das Spektakel hatte begonnen. Er gehörte zum Establishment.
Schni schna schnappi, schnappi schnappi schnapp. Unverschämt! Die grässliche Melodie hallte als Handyklingeln durch den Saal. Die Gesellschaft war wie erstarrt. Thorst Schmitt hielt im Schreiten inne und blickte sich genervt im Saal um. Schni schna schnappi, schnappi schnappi schnapp. Natürlich: Lars Kohlund suchte in Taschen von Jackett und Hose und holte seinen Telefonapparat aus einem knallpinken Wollbeutel, den er um den Hals hängen hatte. Wer hatte ihm den denn gestrickt? Furchtbar! Die feierliche Atmosphäre geriet zum Kindergeburtstag. Mit entschuldigendem Blick drückte Kohlund auf Empfang. Dann hallte seine Stimme lauter als die des Stadtdezernenten durch den Saal.
„Leiche im Zwenkauer See. Sexualverbrechen wahrscheinlich.“
Kohlund, der Arsch, hatte diesen Anruf bestellt. Der gönnte ihm nicht diesen Auftritt. Thorst Schmitt war wütend. Kohlund verschwand. Der Stadtdezernent räusperte sich.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist mir eine Genugtuung und Ehre ...“