2.

Auf der B2 herrschte der Stau. Hauptkommissar Lars Kohlund war versucht, das Blaulicht aufs Autodach zu kleben, aber entschied sich dagegen. Tote hatten keine Eile. Die Kollegen waren vor Ort. Der Kommissar rekapitulierte, was er an Fakten fernmündlich erfahren hatte: Weibliche Leiche im Tagebau. Hatte wahrscheinlich schon wochenlang dort gelegen. Tierfraß und Umwelt hatten am Körper starke Zerstörungen hinterlassen. Aber Knochen und Fleischreste ließen einen toten Menschen vermuten, Kleidung und Tasche auf eine Prostituierte schließen. Diese Fakten legten die Assoziation eines Sexualmordes nah. Mehr Anhaltspunkte gab es dafür aber nicht. Ein Hund hatte sein Herrchen zur Leiche gebellt. Herrchen hatte sofort die Polizei verständigt. Nun war Hauptkommissar Lars Kohlund, Chef der zweiten Leipziger Mordkommission, unterwegs und quälte sich durch Stau, laute Hupsignale und wütende Autofahrer. Im Prinzip wusste er nichts, außer: Leichenfund. Die Meldung hatte ihn im richtigen Moment erreicht. Kohlund war froh, einen Grund zu haben, der Inthronisierung des Kollegen Schmitt nicht länger beiwohnen zu müssen.

Lars Kohlund hatte seinen Abgang aus dieser offiziellen Berufungszeremonie genossen. Das gestand er sich ein. Allein wie Schmitt seine Fassung verlor und fast über die eigenen Füße gestolpert wäre, hatte Kohlund Genuss bereitet. Und er war nicht der Einzige, der das Lächeln nicht unterdrückte. Schmitt war so was von machthungrig und machtbesessen, dass ihm diese Peinlichkeit noch am Tage seiner Demissionierung vor Augen stehen würde. Schni schna schnappi, schnappi schnappi schnapp.

In einem Anfall purer Bosheit hatte seine Tochter Charlotte Kohlund diesen Kinderhit als Klingelton aufs Handy gespielt. Er als Vater hatte darauf bestanden, sein minderjähriges Kind nach der Fete bei Freunden bereits um 23 Uhr wieder daheim begrüßen zu dürfen. Mein Gott, die Dame streikte und sprach kein Wort mehr mit ihm. Er selbst hatte, wenn’s überhaupt möglich gewesen war, nur am Wochenende in die Disko gedurft. Heute feierten die Kids mitten in der Woche vor Testat und Prüfung. Genau das passte dem besorgten Vater nicht und das hatte er auch gesagt. Charlotte hatte abfällig bemerkt: Früher! Ich kann’s nicht mehr hören! Auch er konnte manches nicht hören. Vor allem nicht diesen kotzblöden Schlager. Schni schna schnappi. Das wusste die gesamte Familie Kohlund. Deswegen hatte Charlotte ihm die Melodie im Handy gespeichert. Mit jedem Anruf wurde sie laut.

Zunächst war er darüber sehr wütend gewesen und hatte versucht, mit allen Tastenkombinationen diesen dämlichen Klingelton zu entfernen. Es war ihm nicht gelungen, vielmehr sah Kohlund mit Schrecken ein blinkendes Display und hatte unfreiwillig den SMS-Verkehr auf seinem Handy geblockt. Seiner Frau wollte Lars Kohlund sein mangelndes technisches Wissen nicht eingestehen. Alexia hätte gelacht und Na, typisch! gesagt. Zu Charlotte zu gehen und um Beseitigung des Schadens zu bitten, dazu war der Vater zu stolz. Und Gisbert, der Sohn, war mit Beginn seines Sozialjahres in eine Wohngemeinschaft gezogen. Seitdem machte sich Kohlunds Handy mit Schni schna schnappi bemerkbar. Er hatte sich daran gewöhnt. Und die entgeisterten Reaktionen der Mitmenschen belustigten ihn mittlerweile. Der Kommissar musste lächeln. Hätte nicht der Stadtdezernent schnell reagiert und Thorst Schmitt unter den Arm gegriffen, der neue Kriminaldirektor wäre schon vor seinem Amtsantritt gestürzt.

Nur im Schritttempo schob sich Kohlund im Auto vorwärts. Die Kollegen am Fundort würden sicher schon unruhig. Aber Technik und Gerichtsmedizin hätten die gleichen Anfahrtsprobleme, wenn sie nicht die Verkehrsmeldungen im Radio abgehört hatten. Überhaupt könnte Kohlund ja, den Apparat einschalten, Melodien und Nachrichten verkürzten die Zeit. Syrien, FDP, SPD, Koalition, Euro ... jede Viertelstunde die gleiche Scheiße, und das seit fünf Jahren. Offensichtlich war die Welt stehen geblieben, genauso wie er momentan. Kohlund drückte den Knopf am Sender. Bernhard Brink hatte er schon in seinen Teenie-Jahren gehört. Wie weit willst du gehen? Das Urgestein auf Jubiläumstour! Mein Gott und ein erneuter Suchlauf. Carglas repariert, Carglas tauscht aus! Kohlund konnte sich im ersten Gang zehn Meter fortbewegen. Auf der Nebenspur gab eine Mutter ihrem Baby die Brust und zog tatsächlich eine Gardine vors Fenster, als sie seinen Blick bemerkte. Was es nicht gab – Autos ausgestattet mit Wohnzimmergardinen! Das Martinshorn eines Motorrades fuhr Slalom zwischen den Autos.Das Beste aus den 80ern, 90ern und von heute! Jingle mit Glockengeläut, danach Platz Nummer eins Helene Fischer: Die Hölle morgen früh. Offensichtlich war es bereits einen Tag später. Stau auf der B2 wegen Unfall, Verkehr wird umgeleitet. Das konnte Lars Kohlund nicht betreffen, er saß bereits drin. Vor und hinter ihm bewegte sich nichts. Er stellte entschlossen das Blaulicht aufs Dach und folgte dem Motorrad des Kollegen.

Keine hundert Meter weiter gaffte auch der Kommissar auf die Räder eines Lkws, der auf einem Kleinwagen stand. Dessen Marke war nicht mehr erkennbar. Fünf Zivilisten und ein Uniformierter standen auf der Wiese neben der Leitplanke und starrten auf ein im Gras liegendes Etwas. Die Kollegen würden im Tagebau wahrscheinlich ebenso gucken, denn sie hatten versprochen, am Fundort bis zu seinem Eintreffen nichts zu verändern. Am Ende waren die Reaktionen immer dieselben: Man stand still und weigerte sich, das Unabänderliche zu anzuerkennen.

Abfahrt Zwenkau und freie Straße. Mindestens dreißig Minuten hatte Kohlund dieser Unfall gekostet. Jetzt stellte er fest, dass die andere Strecke um den See, kürzer gewesen wäre. Es folgt Ute Freudenberg: Willkommen im Leben!

Der Kommissar stoppte auf einem improvisierten Parkplatz vor einem Imbiss und gab sich recht, Technik und Arzt hatten ihr Ziel nicht vor ihm erreicht. Er stieg aus und betrachtete die Gegend. Noch war das Tagebau-Restloch kein Naherholungsgebiet. Prospekte versprachen allerdings schon jetzt perfekten Urlaub mit Wellness, Rad, Rafting und goldgelbem Strand. Hier schritt Lars Kohlund über dorniges Gras und dürres Gehölz. Biegsame Birken raschelten leise im Wind. Krähen krächzten auf Erlen und in der Luft. Die Mondlandschaft, die der Bergbau hinterlassen hatte, holte sich die Natur schüchtern zurück. Zweihundert Meter entfernt gingen die Bäume im Flutwasser unter. Ein Anblick der biblischen Sintflut. Auch diese Vegetation vor ihm würde nicht überleben.

In der Luft lag neben Krächzen das Gemurmel von Menschen, die zwischen brusthohen Büschen wohl noch immer um die Leiche standen. Ein Köter verbellte Lars Kohlund. Dahinter wurde ihm mit der Mütze zugewinkt, obwohl Kohlund ja sah, wo der Kollege stand. Unter dem Schuh des Kommissars bewegte sich Abraum, der von den Förderbändern ehedem aufgeschüttet worden war. Die Wege der Maschinenfahrten waren noch gut erkennbar und hatten den Eindruck riesiger Pflugfurchen hinterlassen. Kohlund nickte nur, als er zu Uniformierten und Zeugen trat. Die beiden standen vor einem Häufchen alter Textilien, und wenn er nicht wüsste, was sich darunter verbarg, würde Kohlund Abfall dazu sagen.

„Tach.“

Der Kommissar sah auf den Rest, der von der Toten geblieben war. Fliegen schwirrten, obwohl es eigentlich noch nicht ihre Zeit war. Auf dem Fleisch krabbelten nicht nur weiße und graue Maden, auch Käfer und lila Würmer waren zu sehen. Darüber kreisten Vögel, die sich um ihre Mahlzeit gebracht sahen. Ein Gefühl von Western stellte sich beim Kommissar ein. Und wenn die Geier über dir kreisen ... Nebenher kein Haus, nur trostlose Wüste wohin auch das Auge blicket Moor und Heide nur ringsum. Gleich würde Klaus Kinsky auf sie zu reiten, und Terence Hill würde schießen.

Der Körper lag am Tiefpunkt einer Mulde und schien teilweise vergraben worden zu sein.

„Wir haben Äste und Erde beiseitegeschoben, um festzustellen, ob das überhaupt ein Mensch ist.“ Der Polizist schluckte. Er sah aus wie siebzehn, musste aber wesentlich älter sein. „Eine Frau, natürlicher Tod ist bei dieser Auffindungssituation wohl nicht anzunehmen.“

Das war die Frage. Aber Kohlund schwieg. Er kannte Fälle, wo plötzlich Verstorbene in Panik an andere Orte verbracht worden waren. Er erinnerte sich eines Fremdgängers, den die Geliebte im Auto vor sein Wohnhaus gefahren und ans Steuer gesetzt hatte. Die Familie eines Jägers hatte versucht, dessen Selbstmord mit Gewehr als Unfall zu tarnen und ihn auf einen Hochsitz geschleppt. Und immer wieder wurde von der toten Oma erzählt, die in Polen samt Auto geklaut worden war. Ob die Todesursache hier überhaupt noch festzustellen war, musste der Gerichtsmediziner entscheiden. Dr. Jänicke war noch nicht vor Ort, stand offensichtlich noch immer im Stau.

Über das Alter der Toten war gar nichts zu sagen. Die verbliebene Haut schien straff und nicht runzlig. Die Augenhöhlen leer und verschorft. Knochen lagen blank zwischen Resten von Fleisch und tupften die Einöde weiß. An den Füßen des Körpers waren goldglänzende hochhackige Pumps mit einem Riemchen ums Gelenk geschnallt. Ein Blickfang, in dem sich die untergehende Sonne reflektierte. Das Röckchen war ins Hüftgelenk geschoben und offenbarte kräftige Beine. Die Bluse war ehedem vielleicht weiß gewesen, jetzt zeigte sie Risse und Löcher. Den Rüschenkragen bewegte der Wind. Darunter sah Kohlund das verwesende Fleisch. An den Fingern kein Ring, um den vermuteten Hals kein Kettchen. Möglicherweise ein Raubmord.

„Sie hatten eine Tasche erwähnt?“

„Ja.“

Der Jungpolizist reichte Kohlund eine sehr kleine Lederimitation, wie man sie vor dreißig Jahren ins Gewandhaus getragen hatte. Nicht auf den ersten Blick billig, doch nun konnte man das Kunstleder in Streifen vom Schaumstoff ziehen. Der Henkel war gerissen. Das Schloss schnappte nicht mehr.

„Hinweise auf Identität oder überhaupt irgendwas?“

„Nein.“

Der Kommissar hielt sich das Täschchen vor die Brust, betrachtete drei leere Fächer und fuhr mit der Hand darin herum, obwohl er wusste, dass er nichts finden würde. Ein rostiger Reißverschluss sicherte das kleine Wertbeutelchen. Mit Gefühl und hartem Fingernagel bekam es der Kommissar auf: Drei Büroklammern und ein Groschen der DDR-Zeit, Papier, möglicherweise ein Zellstofftaschentuch. Er gab das Fundstück zurück. Es war fraglich, ob es der Toten gehörte.

„Sichern und der Kriminaltechnik übergeben.“

„Jawohl, Herr Kommissar“, nahm der Polizist den Befehl entgegen. Kohlund fühlte sich an seine Armeezeit erinnert, Sozialdienst wie Gisbert war ihm nicht möglich gewesen.

„Andere Auffälligkeiten?“

„Sie trägt die Haare extrem kurz geschnitten.“

„Mode, oder sie trug gern Perücken.“

„Wir haben keine gefunden“, der junge Kollege hatte kein Gespür für Ironie.

Eine Windböe wirbelte Staub auf, trockene Blätter flogen und zwei Pappbecher rollten über das Gras. Der Hund vom Zeugen versuchte, ihnen nachzujagen. Sein Herrchen hielt ihn zurück. Bislang hatte der Mann ihnen interessiert zugehört. Auch er erschien Kohlund jung. Aber der Kommissar kam in das Alter, wo alle anderen tatsächlich jünger waren als er.

„Mandy, aus! Aus!“ Vergeblich brüllte der Zeuge. Mandy war von der Pappe nicht abzubringen. Das Hundchen war für den Halter eindeutig die falsche Rasse. Zur Person der Leiche hätte es vielleicht gepasst. Herrchen war eindeutig zu wuchtig für das wadenhohe Tierchen, dessen Stimmchen kläglich über die deprimierende Landschaft hallte. Der Pappbecher flog endgültig davon. Mandy war außer sich vor Wut. Herrchen zog ihr die Leine so straff um den Hals, dass Hundchen augenblicklich verstummte. Der Blick des Halters bat den Kommissar um Verzeihung. „Mutti ist zur Kur.“

„Sie haben die Leiche gefunden?“

„Was soll ich sagen?“

Kohlund stutzte. Was war da nicht zu verstehen? Auf Entscheidungsfragen Ja oder Nein, mehr Möglichkeiten gab es da nicht. Hatte er in der Schule gelernt. Aber vielleicht gehörte auch das zum Allgemeinwissen nicht mehr dazu.

„Wie wär’s mit der Wahrheit?“

Das sagte jeder Kommissar, ob in Film oder Realität. Aber Kohlund fand diesen Satz richtig und angebracht. Er war gespannt, was den Zeugen hierher in die Einöde getrieben hatte. Herrchens Schuhe waren gelackt. Der Schnitt des Anzugs offenbarte einen Hang zur teuren Eleganz. Auch Mandy war nicht billig gewesen. Kohlund glaubte sich zu erinnern, dass hippe Girls solch Tiere unterm Mantel spazieren trugen. Herrchen gab Mandy wieder Leine. Die bellte die Pappbecher zurück, die natürlich nicht kamen. Ein blödes Vieh!

„Meiner Mutter macht die Behörde viel Stress wegen Mandy, sie soll gegen das Tierschutzgesetz verstoßen haben, dabei ist das ein persönlicher Rachefeldzug des Dr. Wenzke, weil Mandy immer in seinen Garten ihren Haufen machen soll. Dabei ist Mandy so reinlich, nicht wahr? Ja, Mandy, bist du ’ne Gute?“ Das Tier spitzte die Ohren. „Aber der Wenzke nennt sich nur Tierschutz, dabei ist der der Sadist! Niemals hat Mandy in seinen Garten geschissen. Mutti nimmt Tüten für den Papierkorb. Jedenfalls hat der Skandal um ihren Hund Mutti dermaßen in Rage gebracht, dass ich gesagt hab’, nun ruh’ dich aus und lass alles Weitere auf dich zukommen, bleibe gelassen. Und da ist Mutti zur Kur, die ich ihr bezahle. Bad Kösen, sie wollte nicht allzu weit weg. Ich hätte ja Bad Piermont vorgezogen. War ein Sonderangebot. Aber falls was mit Mandy ist, dann wollte Mutti dabei sein und aus Bad Kösen könnt ich sie holen ... Aber was musste ich reden, dass Mutti überhaupt fährt ... Wissen Sie, sie hat ein schwaches Herz, und sie leidet, meine Mutter, obwohl sie im Leben stets Stärke bewiesen hat. Hat mich allein groß gezogen. Aber ohne Mandy kann sie nicht mehr. Aber das ewige Leben wird Mandy nicht haben, nicht wahr?“ Und Herrchen schaute auf Hundchen, das mit seinem Stummelschwanz wedelte. „Ja, bist eine Gute.“ Dann blickte Herrchen wieder zum Kommissar, ohne dass der Redefluss stockte. Wahrscheinlich der Schock, dachte Kohlund. Der Zeuge sprach wie aufgezogen. Kohlund bedauerte seine Fragen bereits, aber er musste sie stellen. „Wissen Sie, Mandy ist doch ihr Augenstern, wie Mutti immer sagt. Nicht wahr, Mandy, Schatz, bist du Augenstern für die Mutti, ja, bist du?“ Schon wieder wandte sich Herrchen der Töle zu. Fehlte noch, dass der Stöckchen oder Pappbecher warf. „Ja, und da habe ich die Fürsorge für Mandy zeitweise übernommen. Hätt’ ich’s nicht getan, keinen Schritt aus dem Haus getan, hätte Mutti. So hab ich gesagt, Mutti ...“

Kohlund platzte der Kragen. Der Zeuge sprach ja noch blöderes Zeug als der Stadtdezernent bei Schmitts Ernennung. „Vielleicht sagen Sie uns erst mal Ihren Namen?“

„Benjamin Wolter“, wusste der junge Polizist, dessen Name Kohlund auch unbekannt war. Kannte der seinen?

Darauf sprach der Benjamin weiter. „Eigentlich wollte Mutti mich Tristan nennen, aber da erhob Opa Einspruch. Der ist auch schon wieder fünf Jahre unter der Erde. Seitdem hat Mutti die Mandy, als Ersatz sozusagen.“

„Und warum sind Sie nun hier heraus in den See? Sehr gemütlich ist’s ja hier nicht.“ Kohlund blickte sich um, sah aufs Gesträuch und schwarzen Sand. „Und Ihre Mandy wäre vielleicht auch mit der Wiese im Clara-Park zufrieden gewesen.“ Herr Wolter schien sich aufzublasen. Kohlund hielt es nicht aus. Solche Zeugen brauchte er nicht zu befragen. Die Antworten von Benjamin Wolter konnte sich der Kommissar denken.

„Naja, Mandy soll doch merken, dass bei mir ein rauerer Ton herrscht. So verwöhnen wie Mutti tu ich sie nicht. Nicht wahr, bist du böse mit Benny, manchmal. Aber so böse wie dem Herrn vom Tierschutz bist du Benny nicht, nicht wahr, meine Süße? Der Hund brauch auch Auslauf.“ Und der Benny kraulte die Mandy unter der Schnauze. „Ich bin öfter mal hier, der Kiosk da brät echt gute Würste“, und der Zeuge drehte sich zum Imbiss am Horizont. „Na, und dann bin ich hier aus Interesse, um einfach zu schauen. Bald sieht’s völlig anders hier aus. Wer hätte sich vorstellen können, was aus dem Cospudener Dreckloch geworden ist. Vor Jahren glaubte man, hier wäre die Welt untergegangen, bald sieht’s hier ebenso schön aus. Sie sind wohl kein Hiesiger?“

Geflissentlich überhörte Lars Kohlund die Frage, stellte aber überrascht fest, dass selbst der fein betresste Herr Wolter auf seine Herkunft wohl Wert legte. „Und da waren Sie mit Mandy spazieren?“

„Sie muss ja wöchentlich auch mal weiter raus, unsre Mandy, als bloß ums Haus. Und bei meinem Job, wissen Sie? Da habe ich das Tierchen einfach gepackt und bin los. Mir war heute so.“

„Was üben Sie denn für eine Tätigkeit aus?“

„Ich gehöre zu den sogenannten Schlecker-Frauen. Witzig nicht?“ Das Lächeln misslang Benjamin Wolter. „Ich verliere erst Ende des Monats meine Arbeit.“

Oh, nein. Kohlund hatte keine Lust, seine persönliche Meinung zu Massenentlassungen und Politikerversprechen vorm Zeugen kundzutun. Kohlund erinnerte sich, dass zu Beginn der neuen Zeit, ganze Landstriche lahmgelegt wurden, ohne dass es der Presse Meldungen wert gewesen wäre. Wenn Marktwirtschaft herrschte, sollte man deren Gesetze respektieren. Gut, sein Job war nie ernsthaft in Gefahr gewesen, politisch hatte er sich in sozialistischen Zeiten gezwungenermaßen betätigt. Jedenfalls war ihm nichts anderes nachzuweisen. Kaum dreißig war er zur Wende gewesen. Benjamin Wolter dürfte damals keine zehn Jahre alt gewesen sein und stellte ihm heute die Frage: Sie sind wohl kein Hiesiger?

„Wie sind Sie denn auf die Leiche gestoßen?“

„Mandy ist ja so was von wild, wenn die mal rauskommt. Hat auch schon Fett angesetzt, meine Liebe.“ Und wieder der Kniefall zum Hund, der Herrchen ignorierte. „Muss wieder runter der Speck, ja? Werden wir Sport treiben, ich und du. Ja? Kriegt Mutti eine völlig neue Mandy zurück. Sie wird dich nicht wiedererkennen, nicht wahr, strengen wir uns da an? Ja, machen wir der Mutti damit eine Freude? Mutti schafft’s ja nur knapp mit dem Hund vor die Haustür und bindet sie schon mal an den Baum in ihren Garten. Deswegen soll sie ja jetzt in Erzwingungshaft.“

„Die Mandy?“

„Ach, was, meine Mutti. Deswegen habe ich sie auf Kur geschickt. Sie soll erst Mal zur Ruhe kommen. Und falls sie Mutti dann wirklich holen ...“

Kohlund glaubte sich in ein Boulevardstück versetzt. Mutti wegen Hund in Haft. Immer wieder war der Kommissar überrascht, dass es Typen gab, die die aus dem Fernsehen noch toppten. Herr Benjamin Wolter gehörte dazu und entsprach jedem Klischee: Muttisöhnchen, schwatzhaft, tuntig. Zurück zum Thema: „Und dann bellte Mandy hier draußen?“

Benjamin Wolter schien beleidigt, in seiner Geschichte nicht fortfahren zu dürfen. „Nein, der Hund hat am toten Mädchen gar nicht geschnuppert. Mandy wollte nicht mal die Krähen verjagen, die auf ihm saßen. Der Hund hatte Schiss, war leise und lief hinter mir her. Aber das kennt man aus Filmen, wo Krähen im Schwarm hacken, muss etwas liegen. Ich also hin. Und dann diese Bescherung. Ist sicher nicht fein gestorben, das Mädchen. Und so jung, wie die ist. Es könnt einen dauern.“

„Ja.“ Der Tod dauert immer, das gehört zu ihm dazu, und keiner entgeht ihm. Und das ist gerecht, dachte Kohlund. Woher aber wollte Wolter das Alter des Mädchens erkennen? „Ja.“ Der junge Polizist lauschte wortlos ihrem Gespräch. Über ihnen kreisten die Vögel und gaben Laut und Kohlund sagte zum dritten Mal: „Ja.“

„Ist die ermordet worden? Wer stirbt denn an so einer Stelle und in solch Kleidung? Normal ist das nicht.“

„Deswegen haben Sie die Polizei gerufen, Herr Wolter?“

Benjamin Wolter hörte ihm nicht zu, war von seiner Wichtigkeit berauscht, der drohenden Haft seiner Mutter zum Trotz. Wahrscheinlich sprach er sonst nur mit Mutti. Überhaupt, wer drohte alten Damen mit Erzwingungshaft? Kohlund hatte am Fall kein Interesse.

„Die muss ja schon Wochen hier gelegen haben, so wie das aussieht“, fuhr Benjamin Wolter fort. „Ich mag gar nicht hinsehen. Ein Glück, dass Mutti das nicht erlebt hat, wäre die ganze Kur umsonst. Und ich habe fast mein letztes Geld dafür hingegeben. Mutti hat ja nichts, außer dem Hund und einer winzigen Rente.“

„Wann sind Sie auf die Leiche gestoßen?“

„14 Uhr 15 wurden wir alarmiert“, mischte sich der junge Kollege wieder in das Gespräch.

15 Uhr sollte Schmitts Feier beginnen. Die Mordkommission war sehr schnell benachrichtigt worden. Die würden jetzt im Präsidium am Sekt nippen und dem neuen Kriminaldirektor alle die Hand schütteln. Kohlund bedauerte nicht, dass er für den Posten des Kriminaldirektors abgelehnt worden war. Aber die Wahl von Thorst Schmitt war seines Erachtens die denkbar schlechteste Wahl. Kohlund kannte den Kollegen seit Studientagen mit all seinen Launen, schiefen Ansichten und asozialem Verhalten. Wie sollte Thorst Schmitt für die gesamte Leipziger Kriminalpolizei Verantwortung tragen?

„Herr Wolter, haben Sie auch die Tasche gefunden?“

„Nein, das war ich“, sagte der junge Polizist, dessen Namen Lars Kohlund nicht kannte oder wieder vergessen hatte. „Als wir auf Ihr Eintreffen warteten, habe ich mich umgesehen. Die Tasche lag dort am dünnen Strauch.“ Und er wies mit der Hand auf ein Gestrüpp, welches Kohlund botanisch nicht einordnen konnte. „Keine zwei Meter neben der Leiche. Ich dachte vielleicht gehört die Tasche zu ihr.“ Der Jungpolizist vermied den Blick auf die Leiche.

„Sehr aufmerksam.“ Kohlund war sicher, dass die Tasche länger hier lag, als der verwesende Körper. Wenn die Frau wirklich im Gewerbe tätig gewesen war, hätte sie solch veraltetes Modeprodukt nicht getragen. Andrerseits entsprachen auch die Reste ihrer Kleidung nicht den modernen Zeiten, so wie sie Kohlund auf den Straßen und bei seinen Kindern sah. Aber möglich war alles, vielleicht verdiente die Dame mit Retrolook und -gebaren. Berger von der Technik konnte da vielleicht Hinweise liefern. An sich war das Täschchen ein mit Blumen besticktes Dreckding, und Kohlund war versucht, es wegzuwerfen, auf dass es im neuen See unterging.

Plötzlich stürmte die Einsatzbrigade das Feld. Jedenfalls sah es so aus, als würden Bauern im Protest auf sie zurennen. Kohlund erkannte die Experten von der Technik und Berger, ihren Chef. Er sah Dr. Jaenicke, den man jüngst zum Professor berufen hatte. Der trug schwer an seinen Hebammenkoffer in der Hand. Alles wie immer. Alles Routine. Für die Beteiligten würde es erst später anders werden. Wenn die Identität dieses menschlichen Etwas geklärt war, würde der Fund zur privaten Geschichte. Bislang empfand Kohlund nichts als Ekel. Noch mehr, als er auf das Täschchen in seiner Hand sah. Er bat Berger um einen großen Beutel zur Beweissicherung.

„Mindestens drei Monate, würde ich sagen“, vermutete der Professor für Gerichtsmedizin und sagte es auch. „Ob wir die Todesursache erfahren, ist fraglich bei diesem Zustand.“ Und Jaenicke kniete neben der Leiche.

„Wenn Sie den Fotografen noch abwarten könnten, Herr Professor.“ Berger faltete den Beutel samt Täschchen zusammen und hatte die Koordination der technischen Kräfte sofort übernommen. „Auf drei Minuten kommt’s bei der Leiche auch nicht mehr an.“ Jaenicke nickte. Der Fotograf begab sich in lächerliche Positionen und sank auf die Knie, um gute Bilder zu schießen. Sie waren ein eingespieltes Team allesamt. Benjamin Wolter warf sich in Positur, weil er wohl glaubte, seine Modelkarriere hätte begonnen. Ein zweiter Kollege filmte mit Kamera die Auffindsituation. Als diese Maßnahmen beendet waren, nahm der Mediziner den verwesenden Körper in näheren Augenschein.

„Auch wenn’s nicht so aussieht, dieses Mädchen ist ein Mann.“

Kohlund fragte sich, aus welchen Indizien Jaenicke diese Schlussfolgerung zog.

„Nicht möglich“, rief der junge Beamte und entschuldigte sich für sein Versehen.

„Ach, was!“, war auch Benjamin Wolter überrascht. Muttis Mandy bellte und verbiss sich in Jänickes Hebammenkoffer. „Aus, Mandy, aus!“

Der Professor gab Mandy einen Klaps und bestätigte den Fakt nochmals wie bei einer Geburt: „Es ist ein Junge.“