3.

Schabowski hatte den Eindruck, als würde Thorst Schmitt sie mit seinem Blick durchbohren. Augenfarbe stahlgrau und kalt würde sie ins Protokoll schreiben, wenn sie eins schreiben müsste. Schmitt schien all seine Worte nur für sie zu sprechen. Er lächelte ihr anzüglich zu und zwinkerte ständig. Das tat Schmitt nicht aus Nervosität, Schabowski erinnerte sich mit Schrecken seiner vorangegangenen Annäherungsversuche. Rein optisch hatte sie am neuen Kriminaldirektor nichts auszusetzen. Für Mitte fünfzig war der Mann in bester körperlicher Verfassung. Gut, seine Haare wurden licht, aber das glich Schmitt mit Rasur und wohlgeformten Schädel wieder aus. Schabowski fragte sich, wer den neuen Direktor modisch beraten hatte, denn dass der neue Kriminaldirektor selbst diese Kleiderwahl getroffen hatte, traute die Kommissarin ihm einfach nicht zu. Es wäre Schmitt sehr zu wünschen, dass er in feste weibliche Hände gelangte. Aber erst recht nach dem Verlust seiner Frau, deren Sterben ihm trotz Streit und Trennung näher ging als er je zugeben würde, war Thorst Schmitt für Schabowski ein Soziopath und gefährlich.

„Ich bedanke mich für das Vertrauen, dass Sie in mich setzen ...“ Jetzt machte Schmitt eine Geste, die den ganzen Saal umfassen sollte und tat ganz bescheiden. Schabowski war sich sicher, dass der Schauspielunterricht genommen hatte. So theatralisch hatte sie den Kollegen noch niemals erlebt. „ ... ich hoffe, Sie nicht zu enttäuschen. Jedenfalls versuche ich alles, unsere Zusammenarbeit friedlich, effektiv und erfolgreich zu gestalten.“ Der sprach wie Politiker, wenn sie nichts sagen wollten. Schabowski ekelte sich und schob sich durch die erstarrten Menschenmassen dem Klo zu. Dieses Geseiere hielt sie nicht länger aus. Und dann Schmitts Blicke, die sie verfolgten, unheimlich und gnadenlos, und die Augen schienen sie jetzt zurückhalten zu wollen. Schabowski brachte die Kraft auf, weiterzugehen. „Aufgaben liegen vor uns, die nur im Zusammenwirken gelöst werden können. Wir müssen einander zuhören und verstehen und verzeihen können.“ Sie bezweifelte, dass Schmitt wusste, wovon er sprach. Auch diese Worte kamen Schabowski fremdbestimmt vor. So gewählt hatte sich Schmitt noch nie ausdrücken können. Und diese Floskeln schienen verinnerlicht. Der hatte seine Rede auswendig gelernt, war Schabowski sich sicher. „Ich weiß, liebe Kollegen und Freunde, ich habe nicht immer mit feiner Klinge gefochten, viele, die sich von mir genervt und abgestraft fühlten. Dafür bitte ich um Entschuldigung und auch im Voraus entschuldige ich mich, denn ohne Konflikte wird unsere gemeinsame Arbeit nicht erfolgreich sein können. Wir müssen streiten um Strategien, Methoden und Budget. Herausforderungen stehen ins Haus.“ Schmitt hörte sich an, als hätte er ein Leben lang schon auf solchen Bühnen gestanden. Und so, wie der auftrat, hatte er tatsächlich Voraussetzungen für diesen Job als Direktor. Bislang hatte ihm Schabowski alle Leitungsqualitäten abgesprochen. Schmitt belehrte sie momentan eines Besseren. „Lieber Herr Schwäblein-Kunz“, damit fixierte Schmitt endlich nicht mehr sie, sondern den Stadtdezernenten, der neben ihm stand. „Die Stadt hat Vorstellungen von einer effizienteren Gestaltung von Polizeiarbeit und Verwaltung. So, wie Sie meinen, wird das nicht zu bewerkstelligen sein.“ Und nun griff der neue Direktor doch in seine Jacketttasche und holte die obligatorischen Spickzettel hervor. Er machte das so nonchalant wie der Gottschalk vor großem Publikum, vor kleinem hatte auch der Showmaster kläglich versagt. Dann schaute Schmitt kurz aufs Papier, dann hielten seine Augen wieder Schabowski gefangen. „Über die Arbeitskräftesituation ist mit mir nicht zu streiten. Die Stadt expandiert, das bedingt, dass zwangsläufig die Rate der Straftaten steigt. Insofern darf beim Polizeipersonal nicht gekürzt werden, wie es in Ihrem Entwurf steht, Herr Schwäblein-Kunz. Hat nicht gerade der Bürgermeister über die Argumente für mehr Sicherheit seinen Wahlkampf bestritten. Ich nehme an, Ihr Dezernat hat ihm die Zahlen geliefert, lieber Herr Schwäblein-Kunz.“ Schmitt hatte es nicht als Frage formuliert, aber erneut sein Blick zum Politiker, der sich nervös mit der Hand übers Gesicht fuhr. Für Schmitts Rede hatte Schwäblein-Kunz garantiert keine Recherche geleistet. So wie der Dezernent schaute, war er von Schmitt und seinen Worten sehr überrascht. „Vor allem bei IT- und Wirtschaftskriminalität haben sich die Bedingungen geändert. Die Mordkommission wurde nicht nur durch die Pensionierung von Bruno Ehrlicher geschwächt.“ Und Schmitt hob die Hand um den legendären Kommissar zuzuwinken. Ehrlicher winkte nicht zurück, behielt die Hände in den Hosentaschen. Schmitt war nur kurz irritiert und fuhr fort: „Mit dem derzeitigen Personalbestand ist kaum erfolgreich Arbeit zu leisten. Und, verehrter Herr Schwäblein-Kunz, auch in Ihrem Rathaus und dessen outgesourcten Unternehmen muss Ermittlungsarbeit geleistet werden, dort läuft ebenfalls nicht alles nach Recht und Gesetz.“

„Bravo!“, rief ’s aus den Reihen des Publikums. Erschrocken schaute jeder jedem ins Gesicht. Der Ruf jedoch wurde nicht wiederholt. Vielleicht schämte man sich.

Agnes Schabowski gelangte immer mehr zur Überzeugung, dass die Veranstaltung einer festgelegten Dramaturgie folgte. Der Dezernent hätte nach Schmitts Kritik nicht mehr nicken und lächeln dürfen. Der hatte doch im Stadtparlament soeben die Kürzungen im Haushalt beschlossen. Jetzt gab sich Schwäblein-Kunz den Anschein, der Argumentation des neuen Kriminaldirektors zu folgen. Nächstes Jahr wählte man in der Stadt den Bürgermeister neu, wahrscheinlich wähnte sich der Dezernent bereits im Wahlkampf. Es war kaum zu ertragen. Schabowski wollte zur Toilette, um sich wenigstens zu erfrischen. Derweil hallten vom Podium die ewig gleichen Worte.

„Kollegen, ich werde mich für eure, unsre Belange einsetzen. Ich werde gegen finanziellen und personellen Abbau streiten. Ich bin einer von euch, ich bin hier geboren, bin hier zur Schule gegangen, hier wohne ich, und ich werde Leipzig nie verlassen. Leipzig ist meine Heimat!“

Erneutes „Bravo!“. Schabowski fühlte sich wie auf einer Gewerkschaftsversammlung, wenn Obrigkeiten einflogen, die zum wirklichen Leben keine Verbindung mehr hatten. Sie musste raus!

„Bravo!“ Der Ruf kam vom Buffet. Konstantin Miersch klatschte begeistert und hob die Hände im Pack seinem Nachfolger im Amt zu. Das war unbegreiflich. Der Alte hatte seinen Direktorposten urplötzlich verlassen. Dieser Abgang hatte nicht nur im Präsidium überrascht, auch Stadtverwaltung und Parlament hatten damit nicht gerechnet. Vielleicht war auch nur so Thorst Schmitts Wahl zu begründen: Schnell, komplikationslos und widerspruchsfrei sollte sie sein. Wer konnte gegen einen in Leipzig geborenen Kriminaldirektor ernstliche Argumente anführen? Heimatverbundenheit galt in Sachsen meist mehr als Qualifikation. Auch aus diesem Grund hatte es Konstantin Miersch aus Bayern stets sehr schwer.

„Ich bin einer von euch!“, schrie Schmitt von der Kanzel und winkte den Jüngern. Beifall brandete auf. Agnes Schabowski spürte einen Würgreiz. Raus, dachte sie, einfach nur raus. Die frenetischen Jubler Bastian Michalk und Dominic Bleicher versperrten ihr den Weg. Die zwei sahen sicher die Karriere voraus, die sie unter Schmitt machen würden. Schabowski schob sich zwischen den beiden hindurch. In hässlichen Gedanken stolperte sie über Grischa Merghentins Rollstuhl.

„Na, na, liebe Kollegin, so eilig?“

„Halt’s Maul!“ Schabowski selbst war über ihren Tonfall erschrocken, beugte sich zu Merghentin und hauchte ihm einen Kuss an die Wange. „Tschuldigung. Ich halt’s länger nicht aus. Ein Schauspiel ohnegleichen.“

„Emotionen soll das Theater auslösen, dazu ist es da. Hat schon der Schiller gesagt und ist zur Klassik geworden.“

„Hast ja recht, Grischa. Aber ich muss ehrlich erst mal verschwinden.“ Damit schob sie sich an ihm vorbei und bedauerte, kein weiteres Wort für den nettesten aller Kollegen übrigzuhaben. Am Waschbecken schmiss sie sich immer wieder Hände voll Wasser übers Gesicht. Im Spiegel glaubte sie Wut und Enttäuschung und neue Falten zu sehen. Warum, fragte sich Schabowski, warum nahm sie Thorst Schmitts Ernennung so persönlich, bislang hatte sie dieser Mann doch auch kaum gestört. Ja, Kohlund hätte sie sich auf dem Posten vorstellen können. Grischa Merghentin wäre der ideale Kandidat, hatte sich aber gar nicht beworben. Doch Merghentin hätte aber weder Lobby noch Chance gehabt. Außerdem war er einfach zu jung. Vielleicht, befürchtete Schabowski insgeheim, enthob sie Schmitt ihres Chefpostens der Mordkommission eins wieder. Dass Kommissar Ehrlichers Nachfolge ihr übertragen wurde, hatte viele aufgeregt, denn auch auf diesen Posten hatte nicht nur Schmitt spekuliert. Jetzt war dieses Arschloch in der Hierarchie über sie aufgestiegen. Agnes Schabowski misstraute der Zukunft. Es würde ihr noch schwerer fallen, sich zu bewähren. Und solch müder Fall wie eine entlaufene demenzkranke Greisin stellte keine Anforderungen an ihren Intellekt und ihre Chefqualitäten. Ihr Stellvertreter Michalk widmete sich alten Akten, die anderen Mitglieder ihrer Mordkommission stellten seit Monaten den gleichen Leuten die gleichen Fragen. Ein neuer Fall müsste her, aber zu dem hatte die Zentrale soeben Lars Kohlund gerufen. Der hatte Bereitschaft, nicht sie.

Als Agnes Schabowski wieder den Festsaal betrat, waren die großen Reden geschwungen. Stadtdezernent Schwäblein-Kunz plauderte mit dem neuen Kriminaldirektor und scherzte. Beider Lachen füllte den Saal. Selbst wenn er nicht schaute, fühlte sich Schabowski unter Thorst Schmitts Beobachtung. Sie verspürte eine stetig wachsende Phobie. Der Schmitt nämlich schaute nicht zu ihr hin, er war im Gespräch mit Miersch, dem Dezernenten und der schönen Manderley. Die hatten Spaß, ließ deren erneut schallendes Gelächter vermuten. Schabowski suchte den Merghentin, der im Gewühl nicht mehr auszumachen war. Schade, sie hätte sich gern bei ihm entschuldigt und abgelästert.

Die dicke Frau vom Buffet empfahl Schabowski den Kartoffelsalat in der grünen Schüssel. Mit Magerjoghurt, ohne Mayonnaise. Die Kommissarin griff in den Teller mit Salznüssen und Pringle.

„Darf ich Ihnen, Verehrteste, ein Glas Sekt reichen?“

Schabowski hatte keine Wahl. Schmitt stand plötzlich lächelnd vor ihr und hielt das perlende Gesöff vor die Objektive der Kameras.

„Sie sind die einzige vorzeigbare Frau weit und breit. Bitte, tun Sie mir den Gefallen“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Die Journalisten waren mit sich selber beschäftigt, schoben und brüllten: „Hier, bitte hierher gucken und lächeln, Herr Direktor. Sie wollen doch ein gutes Bild machen. Bitte nach rechts, zu uns haben Sie noch gar nicht geschaut.“

Es hatte einen Hauch von billigem Hollywood, und Agnes Schabowski fühlte sich unwohl neben all den Dilettanten, die mit aufs Bild wollten. Im Hintergrund grinste Dominic Bleicher, der eloquente Pressechef. Sicherlich hatte sie diese Attacke seinem Management zu verdanken. Mein Gott, hoffentlich würden die Zeitungen nicht mit ihrem Konterfei aufmachen. Die Biederstedt, Bild, machte sich eifrig Notizen. Alexander Grunow vom TV lächelte milde.

„Wenn all der Trouble vorbei, würden Sie mir ein wenig Ihrer Zeit opfern?“, flüsterte Schmitt. Jetzt berührte er sogar ihre Hand. Der legte es wirklich darauf an, sie ins Bett zu bekommen. Schabowski brach der Schweiß aus. Machte sie tatsächlich den Eindruck, dass sie jeden Schwanz nötig hatte? Schmitt hatte schon immer Salz in diese Wunde gestreut. Ja, in stillen Stunden gestand sie es sich ein: Sie litt. Litt daran, keinen Mann halten zu können. Litt, weil sie zu wenig Zeit für Sohn Paul aufbringen konnte. Litt, weil sie den Eindruck einer emanzipierten Frau vermittelte, die sie nicht sein mochte. Sie sehnte sich nach der Normalität, die ihre Eltern gelebt hatten. So stellte sie sich Familienglück vor: Vati, Mutti und zwei Kinder. Ein Reihenhäuschen in stiller Lage, nicht allzu weit von der City entfernt. Leipzig hatte da einige Quartiere, die ihr gefallen könnten. Manchmal an dienstfreien Tagen spazierte sie durch die Eigenheimsiedlungen und sah sich selbst dort wohnen. Schabowski wischte sich mit dem Blusenärmel übers Gesicht und ging leicht widerstrebend und unsicher auf Schmitts Avancen ein. Sie konnte den neuen Direktor doch nicht in seinen ersten Minuten im Amt schon brüskieren.

„Ragna, Sie sind einzigartig.“

Ragna! Sie würde gleich auf Schmitts blankgeputzte Schuhe kotzen. „Ich weiß.“ Was sollte sie anderes sagen? Schmitt hielt sich für unwiderstehlich wie ein Schweighöfer, Pocher oder all die, die die Schlagzeilen machten, die keiner je lesen wollte. Da renn ich im Schlüpper durchs Brandenburger Tor! Für wie blöd hielten die einen denn? Und die Pressemeute fuhr voll darauf ab. Ekelhaft!

„Herr Schmitt, haben Sie noch mehr so attraktive Kolleginnen in Ihrem Team?“

„Ich bin zur attraktivsten gegangen, damit Sie schöne Bilder für morgen haben. Sonst kommt die Polizei ja eher grau in den Medien daher.“

Die Journalisten lachten pflichtschuldigst. Er lächelte sie an, als wollten sie Angelina Jolie und Brad Pitt Konkurrenz machen, legte den Arm um ihre Schultern. Mein Gott! Nunmehr würgte es Schabowski wirklich. Nüsse und Pringle standen ihr im Schlund und machten zusammen mit der Magensäure einen sehr schlechten Geschmack.

„Darf man Ihren Namen erfahren, gnädige Frau?“

„Nein! Sie dürfen nicht!“

Damit ließ Schabowski das Sektglas fallen und drängte durch die Wand der Fotografen.

„Sie ist so bescheiden und hat’s gar nicht nötig. Hoffentlich bringt sie mich jetzt nicht um. Meine charmante Kollegin heißt Agnés Ragna Schabowski und ist eine meiner besten Pferde im Stall.“

Stute hätte er da wohl sagen müssen! Stünde Schabowski noch neben Schmitt, sie hätte ihm eine gescheuert. Für wen hielt der sich denn? Und fortan war dieses Arschloch ihr weisungsberechtigt. Sie – sein bestes Pferd im Stall? Allein solch Vergleich dürfte nicht mit weniger als drei Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Doch Schmitt lächelte und musste keine Konsequenzen befürchten. Ein Elend.

„Agnes, Agnes, was ist mit dir los?“

Grischa Merghentin war ihr erneut in den Weg gerollt.

„Warum bist du nicht mit deinem Chef bei der Leiche?“

„Weil ich im Rollstuhl schlecht über Sand und Grasbatzen fahr’.“

„Entschuldige, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Alles hängt mir zum Hals raus: die Arbeit, die Liebe, das Leben.“

„Ein Glück, dass du es nicht ernst meinst.“

Merghentin blickte sie an, und Schabowski hatte alles Vertrauen der Welt. Wie der Kerl mit seiner Behinderung lebte, nötigte ihr allen Respekt ab. Schabowski hatte nie wirklich den Eindruck gehabt, dass Grischa Merghentin an seinem Schicksal verzweifelte. Sie hatten öfter im Kollegenkreis darüber gesprochen, ob Merghentin ihnen allen nur den Sunnyboy spielte. Fast einhellig waren sie der Meinung gewesen, der Merghentin genoss sein Leben trotz aller Beschränkungen, die er hatte, oder gerade deshalb. Unvorstellbar, dass sie so leicht die Schwierigkeiten meisterte. Schabowski konnte ja nicht mal mit der Behinderung ihres Sohnes leben. Paul war im Heim. Sie könnte heulen und heulen und heulen und lächelte Merghentin an.

„Natürlich meine ich es nicht ernst.“

„Du kommst im Fall Hopstock nicht weiter.“

Unglaublich, wie schnell der Mann sie durchschaute. Wäre der Merghentin nicht schwul, Schabowski hätte keine Hemmungen, ihm einen Heiratsantrag zu machen.

„Der Schmitt muss doch denken, wir seien seine Statisten und er kann uns wie Schachfiguren verschieben. Ich hoffe, der scheitert in seiner neuen Funktion und zwar schnell. Der Mann ist unerträglich.“

„Du wirst ihn aushalten, Agnes. Du hast ihn schon viele Jahre ertragen. Und ein guter Kriminalist ist er, keine Frage.“

„Aber jetzt ist der Chef!“

Merghentin hob sein Saftglas dem Schmitt zu, der langsam zum Buffet schritt, im Schlepptau die Biederstedt, Bild, und Dominic Bleicher. Andere warteten in gehörigem Abstand, um bei ihm Audienz zu erhalten. Mein Gott, Schabowski hätte nicht herkommen sollen. Ein Fotograf bat sie, das schönste Gesicht des Präsidiums, noch mal solo für ihn zu posieren, und sie hatte das Sektglas schon Schmitt vor die Füße geworfen.

„Verpiss dich!“ Sie sagte es so leise, dass der Reporter sie nicht verstanden haben konnte. Aber er ließ trotzdem von ihr ab. Merghentin setzte das Gespräch einfach fort.

„Neue Spuren im Fall?“

„Nein, und das macht mich wütend. Irgendjemand muss doch die alte Frau gesehen haben. Menschen verschwinden doch niemals spurlos, selbst bei Demenz sind sie auf Kontakt angewiesen. Gerlind Hopstock muss irgendwo sein.“

„Nur dass sie selber nicht weiß, wo sie ist.“

„Wir haben tausendmal darüber diskutiert, alle Möglichkeiten besprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand eine demente Frau ins Haus holt, ohne etwas davon zu sagen. Außerdem kann er sie doch nicht im Zimmer oder Keller einsperren. Und vor allem warum? Hat die Familie die Oma getötet und die Leiche perfekt versteckt? Dieser Fall ist mir unbegreiflich, Grischa, unbegreiflich ist mir der Fall.“

„Eingesperrte hat es immer wieder gegeben: Fritzl, Kampusch, Garrido und und und ...

„Ja aber, das waren Mädchen im Keller oder Stall, keine alte Frau, die nicht weiß, wer sie ist.“

„Nicht aufgeben, Agnes. Tote finden wir jeden Tag. Die Frau taucht wieder auf, glaube mir.“

„Vielleicht ...“ Sie glaubte nicht wirklich an den Erfolg. „Allein, wenn ich dran denke, dass mir dieser Schmitt nun im Nacken hängt, könnte ich kotzen. Ich habe keine Anhaltspunkte, keine Idee, keine Lösung, genau dafür aber werd’ ich bezahlt.“

„Selbst wenn der Fall ungeklärt bliebe, liegt das doch nicht an deiner Arbeit.“

„Wahrscheinlich ist’s die Midlifecrisis.“

„Bist du so alt?“

Agnes Schabowski musste laut lachen. „Du bist ein unverbesserlicher Charmeur.“

„Ich bin ein Wrack, impotent und humorlos. Und hole dir jetzt ein Glas Wein, das hast du nötig.“ Damit rollte Grischa Merghentin unter die Menschen und war verschwunden. Schabowski wusste nicht, wann und ob er wiederauftauchen würde. Und dann sah sie ihn: Emile Fraconard, der natürlich nicht Emile Fraconard hieß, sondern Hainar Krumpholz. Ein Rechtsanwalt, dessen Geschäftspartner einem hinterhältigen Mord zum Opfer gefallen war. Krumpholz hatte ihr nicht imponiert, eher das Gegenteil, aber er entsprach fast aufs Haar dem Bild, das sie sich von ihrer Jugendliebe gemacht hatte. Emile Fraconard liebte sie einen Sommer, dann waren Frankreich, Strand und Gefühl verschwunden gewesen. Bis sie diesem Hainar Krumpholz begegnete. Und jetzt traf Schabowski ihn wieder. Das konnte kein Zufall sein.

„Hallo, der Herr!“

„Guten Abend.“

„Es könnt’ einer werden.“