22
Das Leben am großen Hang ließ sich aushalten und manchmal sogar mehr als nur aushalten, denn der menschliche Geist vermag aus einem Maulwurfshügel des Glücks einen Berg zu machen.
In der gewaltigen und schrecklichen Landschaft, in die es die Menschen verschlagen hatte, kamen sie sich klein und bedeutungslos vor. Die Pastorale der Erde und das Drama des Wetters spielten sich ab, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Zwischen Hang und Wolke, inmitten von Schlamm und Schnee, verbrachten sie ihr bescheidenes Leben.
Tag und Nacht zeigten schon lange nicht mehr das Verstreichen der Zeit an, doch es ließ sich an anderen Ereignissen ablesen. Die Unwetter nahmen zu, während die Temperatur fiel; manchmal war der Regen eiskalt, manchmal sengend heiß, sodass sie sich schreiend in den Schutz ihrer Höhlen flüchteten.
Gren wurde immer mürrischer, je mehr die Morchel seinen Willen unter ihre Kontrolle brachte. Da sie sich bewusst war, dass ihre Intelligenz sie in eine Sackgasse geführt hatte, verfiel sie zunehmend ins Grübeln; unter dem Druck der Notwendigkeit, sich zu vermehren, schnitt sie Gren von der Kommunikation mit seinen Artgenossen ab.
Ein drittes Ereignis markierte das unabänderliche Verstreichen der Zeit. Während eines Gewitters brachte Yattmur einen Sohn zur Welt.
Er wurde ihr Daseinszweck. Sie nannten ihn Laren und war zufrieden.
An einem einsamen Berghang auf dem Planeten Erde barg Yattmur ihr Kind in den Armen und sang ihm etwas vor, obwohl es schlief.
Oben waren die Hänge in die Strahlen des ewigen Sonnenuntergangs getaucht, unten verloren sie sich in der Nacht. Diese ganze wild übereinandergeworfene Landschaft gehörte der Dunkelheit und wurde nur von rötlichen Leuchtfeuern erhellt, wo Berge sich in der steinernen Nachahmung von Lebewesen emporwarfen, um das Licht zu erreichen.
Selbst die tiefste Dunkelheit war nicht absolut. Ebenso wenig absolut wie der Tod – denn die Bausteine des Lebens setzen sich neu zusammen, um neues Leben zu bilden – , ließ sich die Dunkelheit eher als geringerer Helligkeitsgrad wahrnehmen, als ein Reich, in dem Kreaturen herumschlichen, die aus den helleren und stärker bevölkerten Regionen vertrieben worden waren.
Zu diesen Exilanten gehörten die Lederfedern, und ein Paar zog gerade über dem Kopf der Mutter dahin und genoss seinen akrobatischen Flug; die Pflanzvögel stürzten mit zusammengelegten Flügeln abwärts oder breiteten sie aus, um auf einer wärmeren Luftströmung nach oben zu segeln. Das Kind erwachte, und die Mutter zeigte ihm die fliegenden Kreaturen.
»Da sausen sie, Laren, huiii, runter ins Tal und – schau, da sind sie! – wieder rauf in die Sonne, ganz weit oben.«
Ihr Sohn tat ihr den Gefallen und zog die Nase kraus. Die ledrigen Flieger zogen ihre Bahnen, blitzten im Licht auf, bevor sie in einem Schattengeflecht verschwanden, nur um erneut aufzusteigen wie aus dem Meer, und manchmal flogen sie bis hinauf zur niedrigen Wolkendecke. Die Wolken waren bronzeumkränzt und ebenso sehr ein Bestandteil der Landschaft wie die Berge; sie warfen das Licht über die dunkle Welt unten; ihre Konturen verstreuten es wie Regenschauer, bis die unwirtlichen Landschaften mit Gelb und flüchtigem Gold gefleckt waren.
Mitten zwischen dieser Kreuzschraffur aus Helligkeit und Sonnenuntergang rasten die Lederfedern dahin und ernährten sich von den Sporen, die selbst hier dicht trieben, herangetragen von dem gewaltigen Verbreitungsmechanismus, der sich über die sonnenhelle Seite des Planeten erstreckte. Der kleine Laren gurgelte selig und streckte die Hände aus; die Mutter Yattmur gurgelte ebenfalls, voller Freude über jede Handlung ihres Kindes.
Eine Lederfeder ging jetzt in einen steilen Sturzflug. Yattmur sah verblüfft zu und begriff, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Sie trudelte abwärts, und ihre Artgenossin kurvte kraftvoll hinterher. Einen Moment lang glaubte Yattmur noch, dass sie wieder die Kurve kriegen würde: Dann knallte sie hörbar in die Bergflanke!
Yattmur stand auf. Sie konnte die Lederfeder sehen, ein regloser Haufen, über dem die beraubte Partnerpflanze flatterte.
Den fatalen Sturzflug hatte sie nicht als Einzige mitbekommen. Weiter drüben am großen Hang rannte ein Bauchmann los und rief seine beiden Gefährten herbei. Sie hörte seine Worte klar in der klaren Luft, »Kommt und schauguckt euch den runtergefallenen Flügelvogel mit den Augen an!«, sie hörte das Klatschen seiner Fußsohlen, als er den Hang hinuntertapste. Wie das Sinnbild einer Mutter stand sie da, drückte Laren an sich und bedauerte jedes Ereignis, das ihren Frieden störte.
Noch andere wollten zu dem abgestürzten Vogel. Yattmur entdeckte weiter unten am Berg eine Gruppe von Gestalten, die rasch hinter einem Felsgrat hervorkamen. Acht Stück zählte sie, weißpelzige Gestalten, die sich deutlich von der dunkelblauen Düsternis eines Tals abhoben. Sie hatten vorgestülpte Schnauzen und große Ohren und zogen einen Schlitten hinter sich her.
Gren und sie nannten diese Wesen Bergohren, und sie hielt wachsam nach ihnen Ausschau, denn die Kreaturen waren schnell und gut bewaffnet, wobei sie den Menschen nie auch nur ein Haar gekrümmt hatten.
Einen Moment lang blieb die Szene so: Drei Bauchmänner trotteten hinab, acht Bergohren bewegten sich hinauf, und oben kreiste der überlebende Vogel, der nicht wusste, ob er trauern oder fliehen sollte. Die Bergohren waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet; klein, aber deutlich hoben sie in der Ferne die Waffen, und plötzlich hatte Yattmur große Angst um die drei plumpen Dummerchen, mit denen sie so weit gereist war. Laren an die Brust gepresst stand sie da und rief nach ihnen.
»He, ihr Bäuche! Kommt zurück!«
Noch während sie das rief, feuerte das erste böse Bergohr seinen Pfeil ab. Flink und zielgenau flog er dahin – und die überlebende Lederfeder trudelte abwärts. Unmittelbar darunter duckte sich kreischend der vorderste Bauchmann. Der fallende Vogel, der noch immer schwach mit den Flügeln schlug, erwischte ihn zwischen den Schulterblättern. Er taumelte, schlug hin, und der Vogel flatterte kläglich auf ihm.
Die Gruppen der Bauchmänner und der Bergohren trafen aufeinander.
Yattmur wandte sich um und rannte los. Sie platzte in die verrauchte Höhle, in der sie mit Gren und dem Baby wohnte.
»Gren! Bitte komm! Sonst sterben die Bauchmänner. Solche schrecklichen weißen Bergohren greifen sie an. Was sollen wir tun?«
Gren lag an eine Felssäule gelehnt da und hatte die Hände über dem Bauch verschränkt. Als Yattmur eintrat, fixierte er sie mit toten Augen, dann ließ er den Blick wieder sinken. Sein Gesicht war bleich, ein scharfer Kontrast zu dem Leberbraun, das auf seinem Kopf und an seinem Hals glitzerte und sein Gesicht mit klebrigen Falten umrahmte.
»Machst du jetzt mal irgendwas?«, herrschte sie ihn an. »Was ist in letzter Zeit nur los mit dir?«
»Die Dickbäuche nutzen uns nichts«, sagte Gren. Trotzdem stand er auf. Sie hielt ihm eine Hand hin, die er lustlos ergriff, und zog ihn zum Höhlenausgang.
»Ich habe diese armen Wesen lieb gewonnen«, sagte sie fast im Selbstgespräch.
Sie spähten den steilen Hang hinab zu der Stelle, wo sich Gestalten vor einem Hintergrund aus dunstigen Schatten bewegten.
Die drei Bauchmänner kamen gerade den Hang herauf und zerrten eine Lederfeder hinter sich her. Neben ihnen gingen die Bergohren und zogen ihren Schlitten, auf dem die andere Lederfeder lag. Die beiden Gruppen gingen friedlich nebeneinander her und unterhielten sich unter reichlichem Gestikulieren vonseiten der Bauchmänner.
»Was sagt man dazu?«, rief Yattmur.
Es war eine merkwürdige Prozession. Die Bergohren hatten vorgestülpte Schnauzen; sie bewegten sich auf ungleichmäßige Weise und ließen sich manchmal nach vorn fallen, um den Aufstieg auf allen vieren zu bewältigen. Ihre Sprechweise hatte für Yattmur etwas Bellendes; allerdings waren sie noch so weit weg, dass sie nichts verstand – falls sie überhaupt verständlich redeten.
»Was sagst du dazu, Gren?«, fragte sie.
Er sagte gar nichts, sondern starrte nur zu der kleinen Horde hinunter, die nun eindeutig auf die Höhle zuhielt, die er den Bauchmännern zum Wohnen zugewiesen hatte. Als sie unterhalb des Langbeinhains vorbeikamen, zeigten sie in seine Richtung und lachten. Er winkte nicht.
Yattmur sah ihn an und hatte unversehens Mitleid, weil eine solche Veränderung von ihm Besitz ergriffen hatte.
»Du sagst so wenig, und du siehst so krank aus, Liebster. Wir sind zusammen so weit gekommen, du und ich, und hatten nur einander, doch nun ist es, als hättest du mich verlassen. Aus meinem Herzen fließt nur Liebe zu dir, von meinen Lippen nur Freundlichkeit. Aber Liebe und Freundlichkeit sind dir jetzt fremd, o Gren; o mein Gren!«
Sie legte ihren freien Arm um ihn und spürte doch nur, wie er sich entzog. Dann aber sprach er, als kämen die Worte einzeln in Eis gehüllt heraus. »Hilf mir, Yattmur. Hab Geduld. Ich bin krank.«
Nun beschäftigte Yattmur wieder die andere Sache.
»Bald geht es dir wieder besser. Aber was machen diese wilden Bergohren da? Kann es sein, dass sie freundlich sind?«
»Geh besser nachsehen«, sagte Gren noch immer mit seiner düsteren Stimme. Er ließ ihre Hand los, ging zurück in die Höhle und legte sich wieder hin, in derselben Position wie vorhin, die Hände über dem Bauch gefaltet. Yattmur setzte sich unschlüssig in den Höhleneingang. Die Bauchmänner und die Bergohren waren in der anderen Höhle verschwunden. Die Frau blieb hilflos, wo sie war, während sich der Himmel bezog. Bald fing es an zu regnen, aus Regen wurde Schnee. Laren weinte und bekam die Brust.
Allmählich wuchsen die Gedanken der Frau ins Äußere und ließen den Regen verschwinden. Undeutliche Bilder hingen vor ihr in der Luft, Bilder, denen es an Logik mangelte, die aber ihre Art zu denken waren. Yattmurs sichere Tage bei den Hirten wurden von einer kleinen roten Blume verkörpert, die auch, mit nur der allerwinzigsten Veränderung der Perspektive, sie selbst sein konnte, denn ihre sicheren Tage waren zugleich auch sie gewesen: Sie hatte sich nicht als ein Phänomen wahrgenommen, das von den Phänomenen um sie herum getrennt gewesen war. Und als sie jetzt versuchte, sich so wahrzunehmen, sah sie sich nur aus der Distanz zwischen anderen Körpern oder als Teil eines Tanzes oder als ein Mädchen, das an der Reihe war, die Eimer zum Langwasser zu tragen.
Nun waren die Rotblumentage vorbei, bis auf eine Knospe an ihrer Brust, die Blätter ausbildete. Die vielen anderen Körper waren verschwunden und mit ihnen auch das Symbol des gelben Schals. Der schöne Schal! Die ewige Sonne wie ein heißes Bad, unschuldige Gliedmaßen, eine Glückseligkeit, die von sich selbst nichts wusste – das waren die Fäden des gelben Schals, den sie sich vorstellte. Deutlich sah sie vor sich, wie sie ihn wegwarf, um dem Wanderer zu folgen, dessen Vorzug darin bestand, dass er das Unbekannte verkörperte.
Das Unbekannte war ein großes, verwelktes Blatt, in dem etwas kauerte. Sie hatte dem Blatt folgen müssen – ihre winzige Gestalt wurde größer und irgendwie stacheliger – , während Schal und rote Blütenblätter munter im Wind der Zeit davonwirbelten. Nun wurde das Blatt Fleisch und wogte mit ihr. Sie wurde ein großer Leib mit viel Verkehr, ein Land, wo Milch und Honig über nicht gerade intime Bereiche flossen. Und in der roten Blume war keine Musik wie die Musik des fleischigen Blatts gewesen.
Doch all das verblasste. Der Berg kam heranmarschiert. Berg und Blume waren Gegensätze. Der Berg rollte ewig weiter, ein steiler Hang, der weder Talgrund noch Gipfel besaß, wobei der Grund in schwarzem Nebel ruhte und der Gipfel in schwarzer Wolke. Nebel- und Wolkenschwarz erstreckten sich überall durch Yattmurs Tagtraum, lang gezogene Kurzschrift für das Böse; während durch eine andere winzige Verschiebung der Perspektive der Hang nicht mehr nur ihr gegenwärtiges, sondern ihr ganzes Leben war. Im Geist gibt es keine Widersprüche, nur Momente; und im Moment des Hangs schien es all die leuchtenden Blumen und Schals und das Fleisch nie gegeben zu haben.
Donner schnaubte über dem wirklichen Berg, zerbrach Yattmurs Bilder und riss sie aus ihrem Tagtraum.
Sie sah in die Höhle zu Gren. Er rührte sich nicht. Er sah sie nicht an. Ihr Tagtraum brachte ihr das nötige Verständnis, und sie sagte sich: »Das liegt an der magischen Morchel, die hat uns diesen Ärger eingebrockt. Laren und ich sind ebenso ihre Opfer wie der arme Gren. Weil sie ihn ausplündert, ist er krank. Sie ist auf seinem Kopf und in seinem Kopf. Irgendwie muss ich wohl einen Weg finden, mit ihr fertigzuwerden.«
Verständnis war nicht dasselbe wie Trost. Sie nahm das Baby hoch, packte ihre Brust weg und stand auf.
»Ich gehe rüber zur Höhle der Bauchmenschen«, sagte sie, ohne mit einer Reaktion zu rechnen.
Gren antwortete ihr.
»Du kannst Laren doch nicht durch den strömenden Regen tragen. Gib ihn mir, ich pass auf ihn auf.«
Sie ging zu ihm. Trotz des schlechten Lichts hatte sie den Eindruck, dass der Pilz in seinem Haar und an seinem Hals dunkler aussah als sonst. Er war definitiv gewachsen und ragte weiter über seine Stirn hinaus als je zuvor. Plötzlicher Ekel ließ sie innehalten, gerade als sie Gren das Baby geben wollte.
Er sah sie von unter der Morchel aus mit einem Blick an, den sie nicht als den seinen erkannte; darin lag die fatale Mischung von Dummheit und Schläue, die am Grund alles Bösen lauert. Instinktiv riss sie ihr Kind zurück.
»Gib ihn mir. Ihm passiert schon nichts«, sagte Gren. »Einem jungen Menschen lässt sich so viel beibringen.«
Obwohl seine Bewegungen meist lethargisch waren, sprang er voller Flinkheit auf. Yattmur machte einen Satz nach hinten, fauchte ihn zornig an und zog ihr Messer, Angst in allen Fasern. Sie zeigte ihm die Zähne wie ein Tier.
»Bleib bloß weg.«
Laren fing an zu weinen.
»Gib mir das Baby«, sagte Gren erneut.
»Du bist nicht du selbst. Ich habe Angst vor dir, Gren. Setz dich wieder hin! Komm bloß nicht näher!«
Doch er näherte sich ihr auf merkwürdig schlaffe Weise trotzdem, als müsste sein Nervensystem zwei rivalisierenden Schaltzentralen gehorchen. Sie hob ihr Messer, aber er registrierte es nicht einmal. In seinen Augen hing ein blinder Ausdruck wie ein Schleier.
Im letzten Moment gab Yattmur sich einen Ruck. Sie ließ ihr Messer sinken, wandte sich um und rannte aus der Höhle, das Baby fest an sich gedrückt.
Donner rollte den Berg herunter auf sie zu. Blitze zuckten und trafen den Faden eines großen Querernetzes, der sich von einer Stelle ganz in der Nähe hinauf zum Himmel erstreckte. Der Faden flammte auf und fauchte, bis der Regen ihn löschte. Yattmur lief zur Höhle der Bauchmänner und wagte es nicht, nach hinten zu sehen.
Erst als sie dort ankam, begriff sie, wie unsicher sie sich über ihren Empfang war. Da war es zum Zögern zu spät. Als sie aus dem Regen hineinplatzte, sprangen die Bauchmänner und Bergohren auf und liefen ihr entgegen.