18

Hand in Hand standen sie da, während er mit wirren Worten versuchte, ihr von seinen Erfahrungen in der Höhle zu erzählen.

»Ich bin froh, dass du wieder da bist«, sagte sie sanft.

Er schüttelte seinen schuldigen Kopf und dachte daran, wie schön und seltsam die Erfahrung gewesen war. Erschöpfung machte sich in ihm breit. Bei der Vorstellung, dass sie sich wieder aufs Meer hinauswagen mussten, grauste es ihn, doch auf dieser Insel konnten sie offensichtlich nicht bleiben.

»Dann leg los«, sagte die Morchel in seinem Kopf. »Du bist so träge wie ein Bauchmann.«

Mit Yattmur an der Hand wandte er sich um, und sie trotteten langsam wieder den Strand entlang. Ein kalter Wind wehte und trug den Regen aufs Meer hinaus. Die vier Dickbäuche standen dort zusammengekauert, wo sie hatten warten sollen. Sie warfen sich in Selbsterniedrigung in den Sand, als Gren und Yattmur näher kamen.

»Damit könnt ihr aufhören«, sagte er humorlos. »Es gibt viel zu tun, und ihr müsst euren Anteil leisten.«

Er scheuchte sie mit Klapsen auf die Fettpolster zum Boot.

Eine Brise so hell und klar wie Glas strich über den Ozean.

Für die gelegentlichen Querer, die weit oben dahinzogen, sah das Boot mit seinen sechs Passagieren nicht viel anders aus als ein treibender Baumstamm. Es trieb jetzt weit von der Insel mit der hohen Klippe entfernt.

Die Segel aus großen, grob zusammengenähten Blättern hingen an einem improvisierten Mast, doch Gegenwinde hatten es längst zerrissen und seines Nutzens beraubt. Folglich bewegte sich das Boot jetzt, ohne gesteuert werden zu können, und wurde von einer starken Warmströmung ostwärts getragen.

Die Menschen sahen, je nach Veranlagung, mit Apathie oder Besorgnis zu, wie sie dahinglitten. Sie hatten mehrmals gegessen und viel geschlafen, seit sie von der Insel mit der hohen Klippe weggesegelt waren.

Zu beiden Seiten gab es viel zu sehen, wenn sie sich die Mühe machten. Backbord verlief eine lange bewaldete Küstenlinie, die sich über zahllose Wachzeiten hinweg kaum veränderte. Wenn im Landesinneren Berge auftauchten, was zunehmend öfter geschah, waren sie von Wald bedeckt.

Gelegentlich tauchten zwischen Küste und Boot kleine Inseln auf. Auf diesen wuchs eine Vielzahl Pflanzen, die es auf dem Festland nicht gab; manche waren von Bäumen gekrönt oder wimmelten von seltsamen Blumen, andere waren kaum mehr als kahle Felshaufen. Manchmal schien es, als würde das Boot in den Untiefen, die diese Inseln umgaben, auf Grund laufen: Bisher jedoch war es stets im letzten Moment hinübergetragen worden.

Steuerbord erstreckte sich der endlose Ozean. Der Horizont war jetzt von unheilvoll aussehenden Umrissen unterbrochen, auf deren Natur sich Gren und Yattmur noch keinen Reim machen konnten.

Ihre Hilflosigkeit und ihre unklare Lage belasteten die Menschen, obwohl sie es gewöhnt waren, in der Welt eine untergeordnete Position einzunehmen. Nun kam zu allem Überfluss Nebel auf, der sich um ihr Boot schloss und ihnen jegliche Orientierung nahm.

»Einen so dichten Nebel habe ich noch nie erlebt«, sagte Yattmur, als sie mit ihrem Mann an der Bootswand stand.

»Einen so kalten auch nicht«, sagte Gren. »Ist dir aufgefallen, was mit der Sonne passiert?«

Inzwischen konnten sie nur noch das Meer unmittelbar um das Boot herum erkennen und eine große rote Sonne, die in der Richtung, aus der sie kamen, tief über dem Wasser hing und ein Schwert aus Licht über die Wellen legte.

Yattmur presste sich dichter an Gren.

»Die Sonne stand immer hoch über uns«, sagte sie. »Nun droht die Wasserwelt, sie zu verschlucken.«

»Morchel, was geschieht, wenn die Sonne weg ist?«, fragte Gren.

»Wenn die Sonne ganz verschwindet, wird es dunkel«, harfte die Morchel und fügte mit leiser Ironie hinzu: »Wie du dir vielleicht schon gedacht hast. Wir sind im Reich des ewigen Sonnenuntergangs angelangt, und die Strömung trägt uns immer weiter hin-

ein.«

Sie äußerte sich zurückhaltend, und dennoch ließ ihn die Angst vor dem Unbekannten erschaudern. Er drückte Yattmur fester an sich, während sie gebannt auf die Sonne starrten, die durch die feuchtigkeitsgesättigte Luft matt und riesig wirkte. Einer der gespenstischen Schatten, die sie steuerbord beobachtet hatten, glitt vor die Sonne und biss ein großes Stück heraus. Fast im selben Moment wurde der Nebel noch dichter, und die Sonne war nicht mehr zu sehen.

»O weh! Ach!« Kaum war die Sonne verschwunden, stieg ein Schreckensschrei von den Bauchmännern auf. Sie hatten sich im Heck auf einem Haufen welker Blätter zusammengekauert. Nun zockelten sie nach vorn und suchten Grens und Yattmurs Hände.

»O mächtiger Herr, o Drückedame!«, riefen sie. »All dieses Segeln durch die mächtige Wasserwelt ist zu schlimm, viel zu schlimm, denn wir sind fortgesegelt und haben die Welt verloren. Die Welt ist durch schlimmes Segeln verloren gegangen, und wir müssen schnell gut segeln und sie zurückbekommen.«

Ihre langen Haare glitzerten vor Feuchtigkeit, ihre Augen rollten in schönem Wahnsinn. Sie hüpften auf und ab und klagten ihr Leid.

»Etwas hat die Sonne gefressen, o großer Hirte!«

»Hört mit eurem dummen Geschrei auf«, sagte Yattmur. »Wir haben genauso viel Angst wie ihr.«

»Haben wir nicht«, rief Gren zornig und schlug die klammen Hände der Bauchmänner weg. »So viel Angst wie die kann man gar nicht haben, denn sie haben ständig Angst. Zurück mit euch, ihr blubbernden Dickbäuche! Sobald der Nebel sich auflöst, kommt die Sonne wieder raus.«

»Du mutiger grausamer Hirte«, rief eines der Wesen. »Du hast die Sonne versteckt, um uns Angst zu machen, weil du uns nicht mehr lieb hast, dabei genießen wir selig deine schönen Schläge und herzensguten schlimmen Worte! Du …«

Gren schlug nach dem Mann und war heilfroh über die Gelegenheit, sich abzureagieren. Der arme Kerl taumelte mit einem Aufschrei nach hinten. Prompt stürzten sich seine Gefährten auf ihn und knufften ihn dafür, dass er die mächtigen Schmerzen nicht genoss, mit denen sein Herr ihn beehrte. Gren riss sie weg.

Als Yattmur ihm zu Hilfe kam, ließ ein Stoß sie allesamt taumeln. Das Deck neigte sich jäh, und sie fielen übereinander, zu sechst auf einem Haufen. Scharfkantige, durchsichtige Splitter prasselten auf sie herab.

Yattmur hob einen Splitter auf und betrachtete ihn. Die Scherbe veränderte sich vor ihren Augen, schrumpfte zusammen und hinterließ nur eine kleine Wasserpfütze in ihrer Hand. Verblüfft starrte sie darauf. Eine Wand aus dieser glasartigen Substanz ragte vor dem Boot auf.

»Na so was!«, sagte sie langsam, als ihr klar wurde, dass sie einen jener geisterhaften Umrisse gerammt hatten, die ihnen ringsum aufgefallen waren. »Ein Berg aus Nebel hat uns erwischt.«

Gren sprang auf und brachte die laut protestierenden Bauchmänner zum Schweigen. Am Bug war ein Riss entstanden, durch den Wasser rieselte. Gren stieg auf die Bootswand und sah sich um.

Die warme Strömung hatte sie gegen einen großen, glasartigen Berg getragen, der offenbar auf dem Meer schwamm. Der Berg war auf Wasserhöhe erodiert und bildete dort eine abschüssige Fläche; auf diesen eisigen Strand waren sie gefahren, und dadurch blieb ihr beschädigter Bug teilweise über dem Wasser.

»Fürs Erste sinken wir nicht«, sagte Gren zu Yattmur, »denn unter uns ist ein Vorsprung. Aber das Boot ist nicht mehr zu gebrauchen; wenn es von dem Vorsprung rutscht, geht es unter.«

In der Tat füllte es sich langsam mit Wasser, wie das Klagen der Bauchmänner bestätigte.

»Was können wir tun?«, fragte Yattmur. »Vielleicht hätten wir auf der Insel mit der hohen Klippe bleiben sollen.«

Gren sah sich zweifelnd um. Eine große Reihe von Zapfen, die an lange, scharfe Zähne erinnerten, hingen über dem Deck, als wollten sie das Schiff mittendurch beißen. Eiskalte Speicheltropfen fielen von ihnen herab und klatschten auf die Menschen. Sie waren direkt in das Maul dieses Glasmonsters hineingesegelt!

Nahebei war verschwommen sein Inneres sichtbar und erfüllte ihr Blickfeld mit einer Fülle blauer und grüner Linien und Flächen, von denen manche – in verhangener, tödlicher Schönheit – orange glühten, weil sich dahinter die Sonne vor den Menschen verbarg.

»Dieses eisige Untier will uns fressen!«, schrien die Bauchmänner und sprangen an Deck umher. »Ach, ach, der Moment unseres Todes ist uns heiß auf den Fersen, eiskalt in diesen fiesen Frostkiefern!«

»Eis!«, rief Yattmur. »Ja! Wie seltsam, dass diese albernen Bauchjungs einmal mehr wissen als wir. Gren, dieses Zeug nennt sich Eis. Im Sumpfland beim Langwasser, wo die Bauchmänner leben, wachsen kleine Blumen, die heißen Frostrosen. Zu gewissen Zeiten machen diese Blumen, die im Schatten gedeihen, kaltes Eis und bewahren darin ihre Samen auf. Als Fraukind bin ich immer in die Sümpfe gegangen, um mir diese Eisbonbons zu holen und zu lutschen.«

»Tja, jetzt lutscht dieser große Eisbonbon uns«, sagte Gren, als ihm von der Wölbung oben kaltes Wasser ins Gesicht klatschte. »Was machen wir jetzt, Morchel?«

»Hier ist es nicht sicher, also müssen wir Sicherheit suchen«, harfte die Morchel. »Wenn das Boot von der Eisfläche hinunterrutscht, ertrinken alle außer dir: Denn das Boot sinkt dann, und du kannst als Einziger schwimmen. Ihr müsst sofort von dem Boot runter, und nehmt die Bauchfischer mit.«

»Richtig! Yattmur, Liebste, klettere raus aufs Eis, während ich diese vier Dummköpfe hinter dir hertreibe.«

Die vier Dummköpfe waren absolut nicht damit einverstanden, das Boot zu verlassen, obwohl inzwischen das halbe Deck unter Wasser lag. Als Gren sie anschrie, hüpften sie davon, als er auf sie zustürmte, verteilten sie sich, als er sie zu packen versuchte, sprangen sie weg, und dabei schrien sie unablässig.

»Rette uns! Verschone uns, o Hirte! Was haben wir vier armen, schmutzigen Kompostklumpen getan, dass du uns dem Eismonster vorwerfen möchtest? Hilfe, Hilfe! Ach, was sind wir schlimm, dass du es liebst, uns so zu behandeln!«

Gren stürzte sich auf den Vordersten und Haarigsten, der kreischend davonhüpfte, mit wackelnden Brüsten.

»Nicht mich, großer Monstergeist! Töte die anderen drei, die dich nicht lieben, aber doch nicht mich, der dich liebt …«

Gren stellte ihm ein Bein. Der Dickbauch schlug hin, und seine Worte gingen in einen Schrei über, als er Kopf voran ins Wasser rutschte. Gren war sofort bei ihm; sie platschten im eisigen Wasser, bis Gren ihn im fleischigen, behaarten Nacken zu fassen bekam und das spuckende Wesen hinter sich her zur Bootswand zerrte. Er hievte ihn hinaus ins flache Wasser, wo er schreiend vor Yattmurs Füßen zusammenbrach.

Durch diese Zurschaustellung von Kraft eingeschüchtert, kletterten die anderen drei Bauchmänner widerstandlos von ihrer Schutzburg hinunter ins Maul des Eisungeheuers, und ihre Zähne klapperten vor Angst und Kälte. Gren folgte ihnen. Einen Moment lang standen die sechs beisammen und sahen in eine Grotte, die mindestens vieren wie ein gigantischer Rachen erschien. Ein Klirren hinter ihnen ließ sie herumfahren.

Oben hatte sich ein Eiszahn gelöst und war herabgefallen. Er steckte aufrecht in einer Decksplanke wie ein Dolch, bevor er kippte und zerbarst. Als wäre dies ein Startsignal, drang unter dem Boot ein viel lauteres Geräusch hervor. Die Fläche, auf der das Boot auflag, gab nach. Für einen Moment trieb die Kante einer dünnen Eiszunge nach oben. Bevor sie zurück ins Wasser sank, wurde das Boot von der dunklen Flut davongetragen. Sie sahen zu, wie es sich rasch füllte, während es verschwand.

Eine Zeit lang konnten sie es noch sehen; der Nebel hatte sich etwas gelichtet, und die Sonne malte erneut einen goldenen Feuerstreifen über den Ozean.

Schließlich wandten sich Gren und Yattmur zutiefst niedergeschlagen ab. Ohne ihr Boot waren sie auf dem Eisberg gestrandet. Stumm folgten ihnen die vier Bauchmänner, als sie den einzig möglichen Weg einschlugen und dem runden Gang ins Eis folgten.

Sie platschten durch eiskalte Pfützen, beengt durch Rippen aus Eis, die jedes Geräusch in einem Rausch der Echos zurückwarfen. Mit jedem Schritt wurde der Lärm lauter und der Gang enger.

»O Geister, ich hasse diesen Ort! Wir wären besser mit dem Boot untergegangen. Wie viel weiter können wir noch gehen?«, fragte Yattmur, als Gren stehen blieb.

»Weiter nicht«, sagte er grimmig. »Wir sind am Ende angelangt. Wir sind hier gefangen.«

Mehrere mächtige Eiszapfen hingen bis zum Boden herab und versperrten ihnen den Weg fast so effektiv wie ein Fallgitter. Dahinter war eine glatte Eiswand zu sehen.

»Ständig Ärger, ständig Schwierigkeiten, ständig irgendein neues Problem im Leben!«, sagte Gren. »Der Mensch muss versehentlich in diese Welt gesetzt worden sein, sonst wäre sie so erschaffen worden, dass sie besser zu ihm passt!«

»Ich sagte dir doch schon, dass deine Spezies ein Versehen war«, harfte die Morchel.

»Wir waren glücklich und zufrieden, bevor du dich eingemischt hast«, sagte Gren schneidend.

»Davor wart ihr doch nur Gemüse!«

Das traf ihn tief. Erbost packte Gren einen großen Eiszapfen und riss daran. Der Zapfen brach ein Stück über seinem Kopf ab. Er hielt ihn wie einen Speer und schleuderte ihn gegen die Eiswand.

Ein schmerzhaftes Klirren schrillte durch den Gang, als die gesamte Wand unter dem Schlag zerbarst. Eis fiel, brach, rutschte an ihren Knöcheln vorbei, als ein halb geschmolzener Vorhang sein Ende mit rascher Auflösung feierte. Die Menschen duckten sich und schützten mit den Händen ihre Köpfe, während gefühlt der gesamte Eisberg über ihnen einstürzte.

Als der Lärm verklang, sahen sie hoch und stellten fest, dass hinter der Lücke eine vollständige neue Welt auf sie wartete. Der Eisberg war, gefangen in einem Strudel zur küstenwärtigen Seite der Strömung hin, an einer Insel zum Liegen gekommen, wo er, gehalten von den Armen einer kleinen Bucht, nun seine Tränen ins Wasser ergoss.

Obwohl die Insel mit dem spärlichen Grün, das sie bedeckte, den Blumen, die sich an ihr festhielten, und den Samenhülsen, die an der Spitze hoher Stängel in der Luft schaukelten, nicht gerade einladend wirkte, nahmen die Menschen ihren Anblick mit Erleichterung in sich auf. Hier ließ sich das Gefühl eines festen Bodens unter den Füßen genießen.

Selbst die Bauchmänner fassten kurz Mut. Mit kleinen seligen Schreien folgten sie Yattmur und Gren eine Eiskante entlang, weil sie dringend unter diese Blumen gelangen wollten. Ohne allzu viel Protest sprangen sie über eine schmale Bucht dunkelblauen Wassers, um auf schroffen Felsen zu landen und gefahrlos an Land zu klettern.

Die Insel war gewiss kein Paradies. Zerklüftete Felsen und Steine bedeckten ihre Kuppe. Doch in ihrer geringen Größe lag ein Vorteil: Sie war zu winzig, um die größeren, gefährlichen Pflanzenspezies zu tragen, die auf dem Festland gediehen; mit den kleineren Gefahren konnten Gren und Yattmur zurechtkommen. Zur Enttäuschung der Bauchmänner wuchs hier kein Bauchbaum, mit dem sie sich hätten verbinden können. Zur Enttäuschung der Morchel wuchs hier niemand von ihrer Spezies; dabei hätte sie nur zu gern auch Yattmur und die Bauchmänner noch unter ihre Kontrolle bekommen, wofür ihre Körpermasse immer noch nicht ausreichte. Zur Enttäuschung von Gren und Yattmur lebten hier keine Menschen, mit denen sie ihre Kräfte hätten vereinen können.

Zum Ausgleich entsprang dem Fels eine Quelle reinen Wassers, das munter zwischen den großen umgestürzten Steinen plätscherte, die einen Großteil der Insel bedeckten. Zuerst hörten sie seine Musik, dann sahen sie es. Das Bächlein stürzte zu einem Sandstreifen hinunter und floss ins Meer. Prompt rannten sie den Strand entlang dorthin und tranken, ohne erst noch zu schauen, ob es weiter oben vielleicht weniger brackiges Wasser zu trinken gab.

Wie Kinder vergaßen sie ihre Sorgen. Nachdem sie mehr als ausgiebig getrunken und hinreichend gerülpst hatten, warfen sie sich ins Wasser, um ihre Glieder zu baden, obwohl es so kalt war, dass sie nicht lange darin blieben. Anschließend fingen sie an, es sich heimisch zu machen.

Eine Zeit lang lebten sie auf der Insel und waren zufrieden. In diesem Reich des ewigen Sonnenuntergangs war die Luft kalt. Sie ersannen sich bessere Körperbedeckungen aus Blättern oder Kriechmoos, indem sie sich Letzteres fest um die Körper wickelten. Ab und zu wurde die Insel von Nebel verschluckt; dann schien die Sonne wieder, tief über dem Meer. Manchmal schliefen sie, manchmal lagen sie müßig auf den der Sonne zugekehrten Felsen und aßen Früchte, während sie dem Ächzen der vorbeiziehenden Eisberge lauschten.

Die vier Bauchmänner errichteten sich ein Stück von Gren und Yattmur entfernt eine windschiefe Hütte. Während einer Schlafperiode brach sie über ihnen zusammen. Von da an schliefen sie unter Blättern zusammengekuschelt im Freien, so nah bei ihren Herren, wie Gren es gestattete.

Es tat gut, wieder glücklich zu sein. Wenn Yattmur und Gren sich liebten, hüpften die Bauchmänner herum, umarmten einander aufgeregt und priesen die Beweglichkeit ihres schlauen klammernden Herrn und seiner Drückedame.

Riesige Samenhülsen wuchsen und klapperten über ihren Köpfen. Zu ihren Füßen huschten die pflanzlichen Entsprechungen von Eidechsen. In der Luft flatterten herzförmige Schmetterlinge mit weiten Flügeln, die sich fotosynthetisch ernährten. Das Leben ging ohne die Rhythmisierung durch Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang dahin. Trägheit herrschte; Frieden regierte.

Die Menschen hätten sich zufrieden in dieses allgemeine Muster eingefügt, wäre da nicht die Morchel gewesen.

»Wir können hier nicht bleiben, Gren«, sagte sie bei einer Gelegenheit, als Gren und Yattmur aus behaglichem Schlaf erwachten. »Ihr habt euch genug ausgeruht und seid bestens erfrischt. Nun müssen wir uns wieder in Bewegung setzen und mehr Menschen finden und unser Königreich errichten.«

»Du redest Unfug, Morchel. Unser Boot ist untergegangen. Wir müssen für immer auf dieser Insel bleiben. Es ist hier zwar kalt, aber wir haben schon Schlimmeres erlebt. Lass uns hierbleiben, wo wir zufrieden sind.«

Er platschte mit seiner Frau nackt durch eine Reihe von Tümpeln, die sich zwischen den großen viereckigen Steinblöcken auf der Kuppe der Insel gebildet hatten. Das Leben war angenehm und müßig, Yattmur strampelte mit ihren schönen Beinen und sang eines ihrer Hirtenlieder: Er war es leid, auf diese öde Stimme in seinem Kopf zu hören. Sie verkörperte mehr und mehr etwas, das er nicht ausstehen konnte.

Ihr stummes Gespräch wurde von einem Aufschrei Yattmurs unterbrochen.

Etwas wie eine Hand mit sechs aufgequollenen Fingern hatte sie beim Knöchel gepackt. Gren hechtete danach und zog es problemlos weg. Es kämpfte in seinem Griff, während er es untersuchte.

»Wie dumm von mir, überhaupt zu schreien«, sagte Yattmur. »Das ist nur eine dieser Kreaturen, die die Bauchmänner Krabbelpfoten nennen. Sie kriechen aus dem Meer ans Land. Die Bauchmänner fangen sie, knacken sie auf und essen sie. Sie sind zäh, aber sie schmecken süß.«

Die Finger waren grau und knollig, mit schrumpeliger Haut und extrem kalt. Sie bewegten sich langsam in Grens Griff. Schließlich ließ er die Kreatur ans Ufer fallen, wo sie ins Gras davonkrabbelte.

»Krabbelpfoten kommen aus dem Meer und vergraben sich in der Erde. Ich hab sie beobachtet«, sagte Yattmur. Gren antwortete nicht.

»Machst du dir wegen irgendwas Sorgen?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er knapp, weil er keine Lust hatte, ihr zu erzählen, dass die Morchel hier wegwollte. Steif sank er zu Boden, fast wie ein alter Mann. Obwohl ihr unbehaglich war, unterdrückte sie ihre Befürchtungen und kehrte zur Badestelle zurück. Doch von diesem Moment an war sie sich bewusst, dass Gren sich von ihr entfernte und verschlossener wurde, und sie wusste, dass die Morchel dafür verantwortlich war.

Gren erwachte aus dem nächsten Gemeinschaftsschlaf und stellte fest, dass die Morchel in seinem Kopf bereits ruhelos war.

»Ihr suhlt euch in Trägheit. Wir müssen etwas tun.«

»Wir sind hier zufrieden«, erwiderte Gren mürrisch. »Außerdem haben wir, wie ich schon sagte, kein Boot, das uns zu dem großen Land bringen könnte.«

»Man kann noch anders übers Meer kommen als mit Booten«, sagte der Pilz.

»Ach Morchel, spar dir dein schlaues Gerede, bevor du uns damit noch umbringst. Lass uns in Ruhe. Wir sind glücklich hier.«

»Glücklich, ja! Ihr würdet euch Wurzeln und Blätter wachsen lassen, wenn ihr könntet. Gren, du weißt nicht, wozu das Leben da ist! Ich sage dir, auf dich warten noch viele Genüsse und große Macht, wenn du mich dir nur helfen lässt, dich nach ihnen zu strecken.«

»Geh weg! Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

Er sprang auf, als wollte er von der Morchel weglaufen. Sie packte ihn fest und ließ ihn dastehen wie angewurzelt. Er sammelte seine Kraft und konzentrierte sich darauf, der Morchel Wellen der Feindschaft zu schicken – vergebens, denn die Stimme in seinem Kopf fuhr fort.

»Da du nicht mein Partner sein willst, musst du es erleiden, mein Sklave zu sein. Der Forschergeist in dir ist verkümmert; du reagierst zwar auf Befehle, aber nicht auf Beobachtungen.«

»Ich habe keine Ahnung, was du da redest!« Er brüllte die Worte laut heraus und weckte Yattmur, die sich aufsetzte und ihn stumm ansah.

»Du vernachlässigst so viel!«, sagte die Morchel. »Ich kann alles nur durch deine Sinne wahrnehmen, trotzdem mache ich mir die Mühe des Analysierens und versuche herauszufinden, was dahintersteckt. Du kannst nichts mit deinen Daten anfangen, ich dagegen viel. Der Weg zur Macht ist mein. Sieh dich doch um! Schau dir die Steine an, über die du so achtlos kletterst!«

»Geh weg!«, rief Gren erneut. Prompt klappte er vor Schmerzen zusammen. Yattmur kam zu ihm gelaufen, hielt seinen Kopf und tröstete ihn. Sie musterte seine Augen. Die Bauchmänner kamen leise näher und stellten sich hinter sie.

»Es ist der magische Pilz, oder?«, fragte sie.

Er nickte stumm. Phantomfeuer jagten durch seine Nervenzentren, sengten ein Lied des Schmerzes in seinen Körper. Solange die Melodie anhielt, konnte er sich kaum bewegen. Endlich ging es vorbei. Matt sagte er: »Wir müssen der Morchel helfen. Sie möchte, dass wir uns diese Felsen genauer ansehen.«

Am ganzen Körper zitternd stand er auf, um zu tun, was von ihm verlangt wurde. Yattmur erhob sich ebenfalls und berührte ihn mitfühlend am Arm.

»Wenn wir damit fertig sind, fangen wir im Teich Fische und essen sie mit Früchten«, sagte sie mit dem Talent einer Frau, Trost zu spenden, wenn er gebraucht wurde.

Gren warf ihr einen ergebenen und dankbaren Blick zu.

Die großen Steine waren lange Teil der natürlichen Landschaft gewesen. Wo der Bach zwischen ihnen floss, lagen sie unter Schlamm und Kieseln. Gräser und Seggen wuchsen auf ihnen, an vielen Stellen bedeckte sie dicke Erde. Vor allem gedieh dort eine Kolonie der Blumen, die ihre Samenkapseln weit oben auf großen Stängeln trugen, die schon vom Eisberg aus zu sehen gewesen waren; Yattmur hatte sie beiläufig Langbeine genannt und sollte erst viel später begreifen, wie angemessen diese Bezeichnung war.

Über die Steine verliefen die Wurzeln der Langbeine wie endlose versteinerte Schlangen.

»Was für eine Plage diese Wurzeln sind«, grummelte Yattmur. »Sie wachsen überall!«

»Merkwürdigerweise wachsen die Wurzeln nicht nur in der Erde, sondern auch von der einen Pflanze zur anderen«, antwortete Gren versonnen. Er bückte sich über eine Verzweigung; die eine Wurzel lief zurück zur einen Pflanze, die andere zu einer anderen. Nachdem sie sich verbunden hatten, ringelten sie sich über einen Steinblock und dann hinunter in eine unregelmäßige Lücke zwischen anderen Steinen.

»Du kannst da gefahrlos hinterher«, sagte die Morchel. »Kriech zwischen den Steinen nach unten und schau, was es da zu sehen gibt.«

Wieder sprang ein Anklang jener Schmerzensmelodie Grens Nerven entlang.

Er kletterte wie befohlen zwischen den Blöcken nach unten, trotz seines Unwillens flink wie eine Eidechse. Durch vorsichtiges Tasten entdeckte er, dass sie auf weiteren Blöcken lagen und diese wiederum auf noch tieferen. Sie lagen locker aufeinandergestapelt; indem er sich verdrehte, konnte er zwischen ihren kalten Seiten hinuntergleiten.

Yattmur kletterte ihm nach und ließ einen sanften Regen aus Erdklümpchen auf ihn herabrieseln.

Nachdem er fünf Blöcke weit nach unten gekrochen war, erreichte Gren festen Boden. Yattmur gelangte neben ihm an. Nun waren sie in der Lage, sich zwischen den engen Steinwänden waagerecht zu bewegen. Angezogen von einem Nachlassen der Dunkelheit quetschten sie sich zu einem großen Hohlraum durch, der weit genug war, dass sie die Arme ausstrecken konnten.

»Es riecht kalt hier und dunkel, und ich habe Angst«, sagte Yattmur. »Wieso wollte deine Morchel, dass wir hier runterklettern? Was hat sie zu diesem Ort zu sagen?«

»Sie ist aufgeregt«, antwortete Gren, der nicht zugeben wollte, dass die Morchel gerade nicht mit ihm kommunizierte.

Allmählich sahen sie deutlicher. Der Boden der Insel fiel zur einen Seite hin ab, denn bei der Lichtquelle handelte es sich um die Sonne, die waagerecht zwischen die aufeinanderliegenden Steine leuchtete und mit einem dünnen Strahl hineintastete. Zwischen den Blöcken ließ er verbogenes Metall erkennen und vor den beiden Menschen eine Öffnung. Vor langer Zeit war beim Einsturz der Steine dieser Hohlraum entstanden. Nun lebten hier nur noch Langbeinwurzeln, die sich wie versteinerte Schlangen in den Erdboden hinunterwanden.

Gren gehorchte der Morchel und kratzte in der Erde zu seinen Füßen. Hier gab es noch mehr Metall, noch mehr Steine und Mörtel, und das meiste ließ sich nicht bewegen. Er fummelte und zog und schaffte es, ein paar zerbrochene Dachrinnenstücke herauszuziehen, dann kam ein Metallstreifen, der so lang war wie er hoch. Das eine Ende war zerquetscht, auf dem Rest befanden sich eine Reihe einzelner Markierungen, die ein Muster bildeten:

»Das ist Schrift«, keuchte die Morchel, »ein Zeichen des Menschen, als er vor unzähligen Äonen die Welt beherrscht hat. Wir sind ihm auf der Spur. Das hier müssen einmal seine Gebäude gewesen sein. Gren, kriech weiter in den dunklen Hohlraum hinein und schau, was du noch findest.«

»Da ist es stockfinster! Ich kann da nicht rein.«

»Kriech jetzt da rein, sage ich.«

Glasscherben schimmerten trübe neben der Öffnung. Gren ertastete verrottetes Holz, das unter seiner Hand zerbröckelte. Putz rieselte ihm auf den Kopf, als er durch die Öffnung kroch. Auf der anderen Seite ging es steil nach unten; er glitt einen Schutthang hinab in eine Höhle und schnitt sich dabei an Glas.

Draußen schrie Yattmur vor Schreck auf. Gren beruhigte sie mit leisen Rufen, die Hand aufs heftig klopfende Herz gepresst. Ängstlich starrte er in die fast völlige Dunkelheit. Nichts rührte sich. Die dichte, drückende Stille von Jahrhunderten lag hier, lebte hier, unheimlicher als Geräusche, schlimmer als Furcht.

Eine Zeit lang stand Gren starr da, bis die Morchel ihn voranschob.

Das Dach war zur Hälfte eingestürzt. Metallträger und Mauersteine machten aus dem Raum ein Labyrinth. Für Grens ungeschultes Auge ließ sich nichts auseinanderhalten. Der uralte Geruch des Ortes schnürte ihm die Kehle zu.

»In der Ecke. Dieses Viereckige. Geh dahin«, befahl die Morchel, die sich sein Sehvermögen zunutze machte.

Widerstrebend bahnte Gren sich einen Weg zu der Ecke. Etwas huschte vor seinen Füßen davon; er sah sechs dicke Finger und erkannte eine Krabbelpfote. Eine viereckige Kiste ragte vor ihm auf, sie war dreimal so hoch wie er. An ihrer Vorderseite standen drei Halbkreise aus Metall hervor. Er kam nur an den untersten dieser Halbkreise heran, bei denen es sich der Morchel zufolge um Griffe handelte. Gehorsam zog er daran.

Die Schublade öffnete sich eine Handbreit, dann klemmte sie.

»Zieh, zieh, zieh!«, harfte die Morchel.

Gren wurde rabiat und zog, bis die ganze Kiste schepperte, aber sosehr ihn die Morchel auch antrieb, die Schublade wollte nicht weiter herauskommen. Dennoch zerrte er, und die große Kiste ruckte. Auf ihrer Oberseite fiel etwas um. Von hoch über Grens Kopf kam etwas Längliches heruntergekracht. Er duckte sich, und es fiel hinter ihm auf den Boden. Staub wallte auf.

»Gren! Geht es dir gut? Was treibst du denn da unten? Komm wieder raus!«

»Ja, ja, gleich! Morchel, wir bekommen dieses blöde Kistending nie auf.«

»Was hat uns da fast getroffen? Schau dir das mal an und lass mich gucken. Vielleicht handelt es sich um eine Waffe. Wenn wir nur etwas finden könnten, das uns weiterhilft …«

Der heruntergefallene Gegenstand war länglich und abgeschrägt und erinnerte an einen flach gedrückten Brennsarg. Er bestand aus einem relativ weichen Material, das nicht so kalt wie Metall war. Die Morchel verkündete, dass es sich um einen Behälter handelte. Als sie feststellte, dass Gren ihn durchaus anheben konnte, wurde sie ganz aufgeregt.

»Wir müssen diesen Behälter nach draußen schaffen«, sagte sie. »Ihr könnt ihn zwischen den Steinen nach oben ziehen. Dann untersuchen wir ihn bei Tageslicht und finden heraus, was er enthält.«

»Aber wie soll dieses Ding uns weiterhelfen? Kommen wir damit zum Festland?«

»Ich hab doch nicht erwartet, hier unten ein Boot zu finden. Bist du denn nicht neugierig? Wissbegierde zeichnet die Mächtigen aus. Nun komm, beweg dich! Du bist so dumm wie ein Dickbauch.«

Unter dieser üblen Beleidigung brodelnd, kroch Gren den Schutt hinauf zu Yattmur. Sie umarmte ihn, wollte den gelben Behälter, den er trug, jedoch nicht anrühren. Einen Moment lang flüsterten sie miteinander und drückten sich gegenseitig die Genitalien, um Kraft zu schöpfen; dann kämpften sie sich zwischen den Schichten umgestürzter Steine zurück ans Tageslicht und zogen und schoben den Behälter mit sich.

»Uff! Tageslicht schmeckt süß!«, brummte Gren, als er sich auf den letzten Block zog. Kaum lagen sie zerschunden an der nebligen Luft, tollten die Dickbäuche herbei, denen vor Erleichterung die Zungen heraushingen. Sie hüpften um ihre Herren herum und machten ein großes vorwurfsvolles Trara, weil man sie alleingelassen hatte.

»Töte uns bitte, schöner grausamer Herr, bevor du noch mal zwischen die Lippen der Erde springst! Ersteche uns mit fieser Mordtat, bevor du uns noch mal allein lässt, damit wir unbekannte Kämpfe allein kämpfen!«

»Ihr habt zu dicke Bäuche, ihr hättet euch nie mit uns in diese Spalte quetschen können«, sagte Gren und untersuchte mit Bedauern seine Verletzungen. »Wenn ihr euch so freut, uns zu sehen, wieso holt ihr dann nicht was zu essen?«

Nachdem Yattmur und er ihre Kratzer und Blutergüsse im Bach gebadet hatten, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Behälter zu. Vorsichtig kauerte er sich darüber und drehte ihn mehrmals um. Seine fremdartige Gleichmäßigkeit bestürzte ihn. Offenbar teilten die Dickbäuche dieses Gefühl.

»Diese sehr schlimme seltsame Form zum Anfassen ist eine seltsame schlimme Anfassform«, heulte einer von ihnen und tanzte umher. »Bitte fass sie nur an, damit du sie in die platschende Wasserwelt werfen kannst.« Er klammerte sich an seine Gefährten, und sie beäugten den Behälter mit dümmlicher Aufregung.

»Da raten sie dir mal etwas Vernünftiges«, sagte Yattmur, doch da die Morchel ihn drängte, setzte Gren sich hin und nahm den Behälter zwischen Füße und Finger. Während er ihn untersuchte, spürte er, wie der Pilz sich seine Sinneseindrücke griff, sobald sie in seinem Gehirn ankamen; Gänsehaut kroch seinen Rücken hinab.

Oben auf dem Behälter war eines dieser Muster, die die Morchel Schrift nannte. Dieses sah so aus:

je nachdem, von welcher Seite man es sah, und ihm folgten noch mehrere vergleichbare, aber kleinere Muster.

Er zog und drückte an dem Behälter. Das Ding wollte nicht aufgehen. Die Bauchmänner verloren rasch das Interesse und spazierten davon. Gren hätte den Behälter weggeworfen, doch das ließ die Morchel nicht zu; also tastete und drückte er. Als er mit den Fingern eine der längeren Kanten entlangfuhr, klappte ein Deckel auf. Yattmur und er wechselten einen Blick, dann beäugten sie den Gegenstand in dem Behälter. Sie saßen im Schmutz und bekamen den Mund nicht mehr zu.

Das Ding bestand aus demselben seidigen gelben Material wie sein Behälter. Ehrfürchtig hob Gren es heraus und legte es auf den Boden. Beim Herausnehmen aus der Kiste wurde eine Feder aktiviert; der Gegenstand, der eben noch keilförmig gewesen war, um in sein Behältnis hineinzupassen, spreizte unvermittelt gelbe Flügel. Er stand zwischen den beiden, warm, einzigartig, verblüffend. Die Bauchmänner kamen mit großen Augen angekrochen.

»Sieht aus wie ein Vogel«, hauchte Gren. »Können den wirklich Menschen wie wir gebaut haben? Oder ist er nicht doch gewachsen?«

»Er ist so glatt, so …« Yattmur fehlten die Worte, sie streckte die Hand vor und streichelte ihn. »Wir nennen ihn den Hübschen.«

Alter und endlose Jahreszeiten hatten den Behälter rau werden lassen; der geflügelte Gegenstand war wie neu. Als Yattmur mit der Hand über seine Oberseite strich, klappte ein Deckel hoch und enthüllte sein Innenleben. Vier Bauchmänner warfen sich hinter den nächsten Busch. Aus seltsamen Materialien gefertigt, aus Metallen und Kunststoffen, boten die Innereien des gelben Vogels einen wundersamen Anblick. Da gab es winzige Spulen, eine Reihe Knöpfe, einen Blick auf Verstärkerschaltkreise, ein Gewirr raffinierter Eingeweide. Voller Neugierde beugten die beiden Menschen sich vor und befühlten alles. Voller Staunen ließen sie ihre Finger – diese vier Finger mit dem opponierbaren Daumen, die ihre Vorfahren so weit gebracht hatten – die Freude von Kippschaltern genießen.

Die Einstellknöpfe ließen sich drehen, die Schalter klickten! Mit einem leisen Summen erhob sich der Hübsche vom Boden, schwebte vor ihren Augen, stieg über ihre Köpfe auf. Sie warfen sich mit einem verblüfften Aufschrei nach hinten und zerbrachen den gelben Behälter. Das war dem Hübschen egal. In exzellenter Beherrschung des Motorflugs kreiste er über ihnen und glühte satt in der Sonne.

Als er ausreichend Höhe erreicht hatte, sprach er.

»Macht die Welt sicher für die Demokratie!«, rief er. Seine Stimme war nicht laut, aber durchdringend.

»Oh, er spricht!«, rief Yattmur und betrachtete erfreut die blitzenden Flügel.

Die Bauchmänner standen auf und rannten herbei, um an der Aufregung teilzuhaben. Als der Hübsche über sie flog, wichen sie ängstlich zurück, als er um ihre Köpfe kreiste, standen sie verblüfft da.

»Wer hat 31 den verheerenden Hafenstreik angezettelt?«, fragte der Hübsche rhetorisch. »Dieselben Leute, die euch heute einen Ring durch die Nase ziehen wollen. Denkt selbst, Freunde, und wählt SRH – eure Stimme für die Freiheit!«

»Er … was sagt er da, Morchel?«, fragte Gren.

»Er redet von Menschen mit Ringen durch die Nase«, sagte die Morchel, die ebenso verblüfft war wie Gren. »Das haben die Menschen getragen, als sie noch zivilisiert gewesen sind. Ihr müsst versuchen, Lehren aus dem zu ziehen, was er sagt.«

Der Hübsche umrundete eines der hohen Langbeine und blieb dort oben. Er summte leise und gab ab und zu einen Slogan von sich. Die Menschen hatten das Gefühl, einen Verbündeten gewonnen zu haben, und freuten sich sehr; eine ganze Weile standen sie nur da, den Kopf im Nacken, und guckten und lauschten. Die Bauchmänner trommelten sich vor Freude über seine Possen auf die Plauzen.

»Gehen wir gucken, ob wir noch ein Spielzeug finden«, schlug Yattmur vor.

Nach einem Moment des Schweigens sagte Gren: »Die Morchel sagt Nein. Wir sollen da runter, wenn wir nicht wollen, und wenn wir wollen, sollen wir nicht. Das verstehe ich nicht.«

»Weil du dumm bist«, grollte die Morchel. »Dieser kreisende Hübsche bringt uns nicht zum Festland. Ich möchte nachdenken. Wir müssen uns selbst helfen; vor allem möchte ich diese Langbeinpflanzen beobachten. Seid leise und nervt mich nicht.«

Für lange Zeit kommunizierte sie nicht mehr mit Gren. Yattmur und er nutzten die Gelegenheit, um erneut im Teich zu baden und sich den unterirdischen Schmutz von der Haut und aus den Haaren zu waschen, während sich nahebei die Bauchmänner fläzten und kaum zum Jammern kamen, so sehr fesselte sie der unermüdlich über ihnen kreisende gelbe Vogel. Anschließend jagten die Menschen am Meeresufer, weit von den übereinandergestürzten Steinen entfernt, und der Hübsche folgte ihnen in der Luft und rief ab und zu: »Die SRH und die Zweitagewoche!«