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Sie lagen zwischen den spitzen Blättern zweier Pfeifdisteln, benommen vom grellen Sonnenschein, aber dennoch wachsam gegen Gefahren. Ihr Aufstieg war geschafft. Nun sahen die neun Kinder zum ersten Mal die Wipfel – und waren stumm vor Staunen.

Einmal mehr belagerten Lily-Yo und Flor eine Brennsargpflanze, wobei Daphe ihnen half, sie mit emporgereckten Blättern zu beschatten. Als das Gewächs hilflos zusammensackte, trennte Daphe sechs der großen durchsichtigen Kapseln ab, die ihnen als Särge dienen sollten. Hy half ihr, sie in Sicherheit zu bringen, anschließend ließen Lily-Yo und Flor ihre Blätter fallen und rannten in den Schutz der Pfeifdisteln.

Eine Wolke Papierflieger trieb vorbei, deren Buntheit auf Augen, die im Allgemeinen tief im Grün steckten, erschreckend wirkte: Himmelblau- und Gelb- und Bronzetöne und ein Viridiangrün, das funkelte wie Wasser.

Ein Flieger landete ganz in der Nähe flatternd auf einem Büschel smaragdgrüner Blätter. Die Blätter gehörten einer Drippellippe. Prompt ergraute der Flieger, als ihm seine wenigen Nährwerte ausgesaugt wurden. Er zerfiel wie Asche.

Lily-Yo stand vorsichtig auf und führte die Gruppe zum nächsten Kabel des Querernetzes. Jede Erwachsene trug ihren eigenen Sarg.

Die Querer, größte aller Wesen, ob pflanzlich oder nicht, konnten niemals in den Wald eindringen. Sie spritzten zwischen den oberen Ästen ihre Fäden heraus und sicherten sie mit Seitenfäden.

Als Lily-Yo ein passendes Kabel gefunden hatte und kein Querer in Sicht war, bedeutete sie den anderen, die Särge hinzustellen. Sie sprach zu Toy, Gren und den sieben anderen Kindern.

»Nun helft uns, mit unseren Seelen in unsere Brennsärge zu klettern. Sorgt dafür, dass wir fest eingeschlossen sind. Dann tragt uns zum Kabel und klebt uns dort an. Und dann lebt wohl. Wir fahren hinauf und legen die Gruppe in eure Hände. Ihr seid es jetzt, die leben!«

Toy zögerte. Sie war schlank, mit Brüsten wie Birnen.

»Geh nicht, Lily-Yo«, sagte sie. »Wir brauchen dich noch, und das weißt du.«

»So ist es eben«, sagte Lily-Yo entschieden.

Sie zog eine Facette ihres Sargs auf und schlüpfte hinein. Unter Mithilfe der Kinder taten die anderen Erwachsenen es ihr nach. Aus Gewohnheit überzeugte Lily-Yo sich, dass der Mann Haris sicher war.

Schließlich befanden sie sich alle in ihren durchsichtigen Käfigen. Eine überraschende Kühle und Friedlichkeit überkam sie.

Die Kinder trugen gemeinsam die Särge und sahen dabei nervös zum Himmel. Sie hatten Angst. Sie fühlten sich hilflos. Nur der freche Gren machte ein Gesicht, als freute er sich schon auf die neue Unabhängigkeit. Beim Befestigen der Särge am Kabel des Querers leitete er die anderen mehr an als Toy.

Lily-Yo nahm im Sarg einen seltsamen Geruch wahr. Als er in ihre Lunge kroch, wurde ihr ganz anders. Die Umgebung draußen, die eben noch klar gewesen war, umwölkte und schrumpfte. Sie sah, dass sie an einem Quererkabel über den Baumwipfeln hing und dass Flor, Haris, Daphe, Hy und Jury hilflos in anderen Särgen lagen. Sie sah die Kinder, die neue Gruppe, rasch Schutz suchen. Ohne einen Blick zurück tauchten sie in das Blättergewirr der Plattform ein und verschwanden.

Der Querer trieb sehr hoch über den Wipfeln, sicher vor seinen Feinden. Überall um ihn herum war der Weltraum indigoblau, und die unsichtbaren kosmischen Strahlen badeten und nährten ihn. Dennoch hing der Querer für seine Nahrung immer noch von der Erde ab. Nach vielen Stunden des pflanzlichen Träumens schwang er sich herum und kletterte ein Kabel herab.

Andere Querer hingen reglos nahebei. Ab und zu stieß einer eine Sauerstoffwolke aus oder zuckte in dem Versuch, einen störenden Parasiten loszuwerden, mit einem Bein. Sie hatten eine Geruhsamkeit an sich, die nie zuvor erreicht worden war. Zeit bedeutete ihnen nichts; die Sonne gehörte ihnen, und zwar für immer, bis sie schließlich instabil wurde, sich in eine Nova verwandelte und sie und sich selbst verbrannte.

Der Querer fiel mit glitzernden Füßen und berührte kaum sein Kabel. Er fiel direkt auf den Wald zu, auf seine Kathedralen aus Blattwerk. Hier in der Luft lebten die Feinde des Querers; Feinde, die um ein Vielfaches kleiner, brutaler und intelligenter waren. Querer waren die Beutetiere einer der letzten Insektenfamilien, der Tigerfliegen.

Nur Tigerfliegen konnten Querer töten – auf die ihnen eigene heimtückische, unsichtbare Art.

Über die langen, langsamen Äonen hinweg, als die Strahlung der Sonne zunahm, hatte sich die Vegetation zu unangefochtener Vorherrschaft entwickelt. Auch die Wespen hatten mit den neuen Gegebenheiten Schritt gehalten und sich entwickelt. Sie wuchsen an Anzahl und Größe, während das Tierreich der Vergessenheit anheimfiel und in der anwachsenden grünen Flut unterging. Mit der Zeit wurden sie die größten Feinde der spinnenartigen Querer. Wenn sie in Schwärmen angriffen, konnten sie die primitiven Nervenzentren lähmen und die Querer in den Tod taumeln lassen. Außerdem bohrten die Tigerfliegen Gänge in die Körper ihrer Feinde und legten darin ihre Eier ab; nach dem Schlüpfen labten sich die Larven am lebenden Fleisch.

Vor allem diese Bedrohung hatte die Querer vor vielen Jahrtausenden immer weiter hinaus ins All getrieben. In dieser scheinbar unbewohnbaren Region erreichten sie ihre volle und monströse Blüte.

Harte Strahlung wurde ihnen eine Notwendigkeit. Die ersten Astronauten der Natur veränderten das Antlitz des Firmaments. Lange nachdem der Mensch aufgegeben und sich in die Bäume zurückgezogen hatte, aus denen er gekommen war, eroberten die Querer den frei gewordenen Platz für sich. Lange nachdem die Intelligenz den Zenit ihrer Herrschaft überschritten hatte und verdämmert war, verbanden die Querer den grünen und den weißen Globus untrennbar miteinander – durch dieses uralte Symbol der Vernachlässigung, die Spinnweben.

Der Querer krabbelte hinunter zwischen das Blattwerk und spreizte die Haare auf seinem Rücken ab, dessen grüne und schwarze Flecken ihm eine natürliche Tarnung boten. Auf dem Weg nach unten hatte er verschiedene Kreaturen eingesammelt, die in seinen Kabeln flatterten. Er saugte sie friedlich aus. Als die schlürfenden Laute nachließen, gammelte er.

Summen riss ihn aus seinem Dösen. Gelb-schwarz gestreifte Gebilde flogen vor seinen primitiven Augen heran. Zwei Tigerfliegen hatten ihn gefunden.

Mit großem Eifer bewegte sich der Querer. Sein gewaltiger Leib, der in der Atmosphäre zusammengedrückt wurde, besaß eine Gesamtlänge von über zwei Kilometern, dennoch bewegte er sich so leicht wie Pollen und flitzte ein Kabel entlang zurück in die Sicherheit des Vakuums.

Während er sich zurückzog und mit den Beinen das Netz entlangstrich, nahm er verschiedene Sporen, Kletten und winzigen Kreaturen auf, die daran hafteten. Außerdem nahm er sechs Brennsärge mit, die jeder einen besinnungslosen Menschen enthielten und nun unbemerkt an seinem Schienbein baumelten.

Mehrere Meilen weiter oben hielt der Querer an. Während er sich von seinem Schrecken erholte, stieß er eine Sauerstoffblase aus und befestigte sie vorsichtig an einem Kabel. Er verharrte. Seine Fühler bebten. Dann machte er sich auf den Weg in den Weltraum und dehnte sich mit abnehmendem Druck immer weiter aus.

Seine Geschwindigkeit nahm zu. Er legte die Beine an und presste frischen Faden aus den Spinndüsen unter seinem Bauch. So schoss er weiter voran, ein gigantisches Gemüse nahezu ohne Empfindung, das sich langsam um die eigene Achse drehte, um bei gleichmäßiger Temperatur zu bleiben.

Harte Strahlung strömte auf ihn ein. Der Querer badete darin. Er war in seinem Element.

Daphe erwachte. Sie öffnete die Augen und sah sich benommen um. Was sie sah, besaß keine Bedeutung. Sie wusste nur, dass sie hinaufgefahren war. Dies war eine neue Existenz, und Daphe erwartete nicht von ihr, dass sie etwas bedeutete.

Ihr Blick aus dem Sarg wurde von steifen gelben Büscheln getrübt, die Haare oder Stroh sein mochten. Alles andere war ungewiss, weil es entweder in grelles Licht oder tiefen Schatten getaucht war. Licht und Schatten rotierten.

Langsam identifizierte Daphe andere Objekte. Am auffälligsten war eine prächtige grüne Halbkugel mit weißen und blauen Schlieren. War es eine Frucht? Kabel führten dorthin, die hier und dort aufschimmerten, viele Kabel, silbern oder golden im verrückten Licht. Zwei Querer, die sie in einiger Entfernung erkennen konnte, flogen schnell dahin und wirkten mumifiziert. Helle Lichtpunkte stachen ihr in die Augen. Alles war Verwirrung.

Dies war das Reich der Götter.

Daphe hatte keine Empfindung. Eine seltsame Taubheit beließ sie ohne Gefühl oder den Wunsch, sich zu bewegen. Im Sarg roch es seltsam. Auch kam ihr die Luft stickig vor. Alles war wie ein schlechter Traum. Daphe öffnete den Mund, ihr Kiefer war starr und wollte kaum reagieren. Sie schrie. Kein Laut kam heraus. Schmerz erfüllte sie. Besonders ihre Rippen taten weh.

Obwohl sich ihre Augen wieder schlossen, stand ihr Mund weiterhin offen.

Wie ein großer struppiger Ballon sank der Querer zum Mond hinab.

Dass er denkfähig wäre, ließe sich kaum behaupten; er war nur ein Mechanismus oder wenig mehr. Doch irgendwo in seinem Inneren regte sich die Empfindung, dass diese angenehme Reise zu kurz war, dass es vielleicht noch andere Richtungen gab, in die er fliegen konnte. Schließlich waren die verhassten Tigerfliegen auf dem Mond inzwischen genauso zahlreich und lästig wie auf der Erde. Vielleicht gab es irgendwo einen friedlichen Ort, einen anderen dieser halbrunden, grün bewachsenen Orte inmitten der warmen, köstlichen Strahlen …

Vielleicht lohnte es sich, irgendwann mit vollem Bauch und neuem Kurs davonzufliegen …

Über dem Mond hingen viele Querer. Überall spannten sich ungeordnet ihre Netze. Dies war ihre unbeschwerte Basis, besser als die Erde, wo die Luft dick war und ihre Gliedmaßen unbeholfen. Sie hatten diesen Ort als Erste entdeckt – von einigen winzigen Kreaturen abgesehen, die lange vor ihrer Ankunft wieder verschwunden waren. Sie waren die letzten Herren der Schöpfung. Als die letzten und herrlichsten genossen sie ihre Regentschaft über den langen, trägen Nachmittag.

Der Querer stieß kein Kabel mehr aus und wurde langsamer. Gemächlich suchte er sich seinen Weg durch das Netz und schwebte hinunter zur fahlen Vegetation des Mondes …

Die hiesigen Bedingungen unterschieden sich sehr von denen auf dem schweren Planeten. Die vielstämmigen Feigenbäume hatten hier nie die Vorherrschaft erreicht; in der dünnen Luft und der niedrigen Schwerkraft vergeilten sie und fielen in sich zusammen. Stattdessen wuchsen monströse Sellerie und Petersilien, und in eine solche Kolonie senkte sich der Querer hinab. Vor Anstrengung zischend stieß er eine Sauerstoffwolke aus und entspannte sich.

Als er in das Blattwerk eindrang, rieb sein großer Körpersack an den Stängeln, und die vielen Blätter schabten an seinen Beinen. Von Beinen und Körper löste sich ein Regen leichter Teile – Kletten, Samen, Krümel, Nüsse und Blätter, die auf der fernen Erde an seinen klebrigen Fasern hängen geblieben waren. Unter diesem Abrieb befanden sich auch sechs Samenhülsen einer Brennsargblume. Sie rollten über den Boden und kamen zum Liegen.

Der Mann Haris kam als Erster zu sich. Er ächzte unter einem unerwarteten Schmerz in den Seiten und versuchte, sich aufzusetzen. Druck an seiner Stirn erinnerte ihn daran, wo er sich befand. Er stemmte sich mit Knien und Händen gegen den Deckel.

Einen Moment lang rührte sich nichts. Dann zerbrach der ganze Sarg in Stücke, und Haris streckte alle viere von sich. Die Unbilden des Vakuums hatten die Kohäsionskräfte der Hülse zerstört.

Er war noch nicht zum Aufstehen in der Lage und blieb liegen. Ihm brummte der Kopf, seine Lunge war mit einem unangenehmen Geruch gefüllt. Gierig schnappte er nach frischer Luft. Zuerst kam sie ihm dünn und kalt vor, doch er sog sie dankbar ein.

Nach einer Weile ging es ihm gut genug, dass er sich umsehen konnte.

Lange gelbe Ranken erstreckten sich aus einem Dickicht in der Nähe und arbeiteten sich tastend auf ihn zu. Alarmiert sah er sich nach einer Frau um, die ihn beschützte. Da war niemand. Unbeholfen, mit grässlich steifen Armen, zog er das Messer aus dem Gürtel, rollte sich auf die Seite und hackte die Ranken ab, sobald sie ihn erreichten. Mit diesem Feind war leicht fertigzuwerden!

Haris schrie auf, als er sein eigenes Fleisch sah. Unsicher sprang er auf die Füße und brüllte vor Ekel über sich selbst. Er war von Schorf bedeckt. Schlimmer noch, als ihm die Kleider in Fetzen vom Leib fielen, sah er, dass ihm ledrige Fleischfalten aus Armen, Rippen und Beinen wuchsen. Er hob die Arme, und die Falten spannten sich fast wie Flügel. Er war verunstaltet, sein schöner Körper ruiniert.

Ein Geräusch erinnerte ihn an seine Gefährten, und er drehte sich um. Lily-Yo kämpfte sich gerade aus den Überresten ihres Brennsargs. Sie hob grüßend eine Hand.

Zu seinem Entsetzen wies sie dieselben Entstellungen auf wie er. Sie war kaum wiederzuerkennen. Am meisten ähnelte sie noch den verhassten Flugmenschen. Haris warf sich zu Boden und weinte, als ihm das Herz vor Angst und Ekel überlief.

Lily-Yo kannte keine Tränen. Schwer atmend und ohne ihre quälenden Missbildungen zu beachten, sah sie sich zwischen den reaktionslosen Beinen des Querers um und suchte nach den anderen vier Särgen.

Flors fand sie als Erstes, auch wenn er halb versunken war. Ein Schlag mit einem Stein zerschmetterte ihn. Lily-Yo hob ihre Freundin heraus, die ebenso grässlich verwandelt war wie sie, und wenig später erwachte Flor. Laut atmete sie die fremdartige Luft ein und setzte sich ebenfalls auf. Lily-Yo ließ sie dort sitzen und suchte nach den anderen. Selbst in ihrer Benommenheit dankte sie ihren schmerzenden Gliedern dafür, dass ihr Körper sich so leicht anfühlte.

Daphe war tot. Starr und lila lag sie in ihrem Sarg. Obwohl Lily-Yo die Kapsel zerschlug und Daphe laut anredete, regte sie sich nicht. Die geschwollene Zunge ragte ihr weiterhin gruselig aus dem Mund. Daphe war tot, Daphe, die gelebt hatte, Daphe, die so schön gesungen hatte.

Hy war ebenfalls tot, ein armes verschrumpeltes Etwas in einem Sarg, der auf seiner strapaziösen Reise zwischen den beiden Welten einen Riss bekommen hatte. Als dieser Sarg unter Lily-Yos Schlag zerbrach, zerfiel auch Hy zu Staub. Hy war tot, Hy, die ein Mannkind zur Welt gebracht hatte, Hy, die flinke Läuferin.

Jurys Sarg war der letzte. Sie regte sich bereits, als die Chefin bei ihr ankam und Kletten von der durchsichtigen Hülle strich. Einen Moment später setzte Jury sich auf, musterte ihre Verformungen mit stoischer Gleichgültigkeit und atmete die stechende Luft. Jury lebte.

Haris stolperte zu der Frau hinüber. In der Hand trug er seine Seele.

»Zu viert noch!«, rief er. »Haben uns die Götter zu sich geholt oder nicht?«

»Wir spüren Schmerzen – also leben wir«, sagte Lily-Yo. »Daphe und Hy sind ans Grün gefallen.«

Verbittert schleuderte Haris seine Seele zu Boden und trampelte darauf herum.

»Sieh uns an! Da wären wir besser tot!«, sagte er.

»Bevor wir das entscheiden, wird gegessen«, sagte Lily-Yo.

Ihnen fiel wieder ein, welche Gefahr bestand, und sie zogen sich mühsam ins Dickicht zurück. Flor, Lily-Yo, Jury, Haris, alle stützten einander. Was ein Tabu war, spielte aus irgendeinem Grund keine Rolle mehr.