20

Das eisige Wasser strömte vorbei und trug Eisberge. Das Langbein blieb konstant auf Kurs. Einmal ging es ein Stück unter, und seine fünf Passagiere wurden durchnässt; doch selbst da änderte es sein Tempo nicht.

Es war nicht allein. Weitere Langbeine von anderen küstennahen Inseln schlossen sich an, und alle strebten in dieselbe Richtung. Dies war ihre Zugzeit, in der sie zu unbekannten Saatgründen aufbrachen. Einige wurden von Eisbergen gerammt und zerstört; die anderen wateten weiter.

Von Zeit zu Zeit wurden die Menschen auf ihrem floßartigen Hochsitz von Kriechpfoten ähnlich denen besucht, die ihnen auf der Insel begegnet waren. Grau vor Kälte zogen sich die knolligen Hände aus dem Wasser nach oben und krabbelten auf der Suche nach Wärme von einem Winkel zum nächsten. Eine kletterte Gren auf die Schulter. Angewidert warf er sie weit ins Meer hinaus.

Die Bauchmänner beschwerten sich kaum über diese Besucher, die kalt auf sie kletterten. Sobald Gren klar geworden war, dass sie die Küste nicht so schnell erreichen würden wie erwartet, hatte er das Essen rationiert, worauf die Bauchmänner sich in Apathie zurückgezogen hatten. Die Kälte machte es für sie auch nicht besser. Die Sonne wollte offenbar jeden Moment im Meer versinken, und fast durchgehend wehte ein kalter Wind. Einmal prasselte aus einem schwarzen Himmel Hagel auf sie herunter, der ihnen, wie sie dort schutzlos lagen, fast die Haut abzog.

Den am wenigsten Fantasievollen unter ihnen musste das ganze Unterfangen vorkommen wie eine Reise ins Nichts. Die Nebelwände, die sich immer wieder ringsum heranschoben, verstärkten diesen Eindruck noch; und wenn der Nebel sich hob, sahen sie vorn am Horizont eine dunkle Linie, die drohte und drohte und nie weggeweht wurde. Doch es kam der Moment, als das Langbein immerhin den Kurs wechselte.

In der Mitte der Samenkapseln aneinander gekuschelt, wurden Gren und Yattmur vom Gerede der drei Bauchmänner geweckt.

»Die wässrige Nässe der Wasserwelt verlässt uns kalte Bauchmänner und läuft die tropfenden langen Beine runter! Wir singen große Freudengesänge, denn wir müssen trocknen oder sterben. Nichts ist so schön, wie ein trockener Bauchkumpel zu sein, und da kommt sie, die warme trockene Welt, sie kommt zu uns.«

Gren öffnete gereizt die Augen und guckte, was die Aufregung sollte.

Tatsächlich ragten die Beine ihres Pflanzengefährts wieder aus dem Wasser. Das Langbein war von der Kaltströmung abgebogen und watete an Land, ohne sein stures Tempo zu verändern. Die mit dem großen Wald bedeckte Küste war schon nahe.

»Yattmur! Wir sind gerettet! Wir gehen endlich an Land!« Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile sagte er wieder etwas zu ihr.

Sie stand auf. Auch die Bauchmänner erhoben sich. Alle fünf fielen einander erleichtert in die Arme, für dieses eine Mal vereint. Oben flog der Hübsche und rief: »Denkt daran, was 45 mit der Liga für stillen Widerstand passiert ist! Tretet für eure Rechte ein. Hört nicht auf das, was die andere Seite sagt – das sind alles Propagandalügen. Lasst euch nicht zwischen der Delhi-Bürokratie und kommunistischen Machenschaften zerdrücken. Verbietet Affenarbeit jetzt!«

»Bald sind wir wieder trockene gute Jungs!«, riefen die Bauchmänner.

»Sobald wir da sind, machen wir ein Feuer«, sagte Gren.

Yattmur war heilfroh, dass er wieder bessere Laune hatte, doch eine plötzliche Woge von Bedenken drängte sie zu der Frage: »Wie kommen wir hier runter?«

Zorn brannte in seinen Augen, als er sie anstarrte, Zorn darüber, dass seine Euphorie durchlöchert wurde. Als er nicht sofort antwortete, nahm Yattmur an, dass er erst die Morchel fragte.

»Das Langbein sucht sich einen Platz für die Aussaat«, sagte er. »Wenn es ihn gefunden hat, senkt es sich auf den Boden. Dann kommen wir hier runter. Du brauchst dich nicht zu sorgen; ich habe hier das Sagen.«

Sie konnte seinen schneidenden Tonfall nicht verstehen. »Aber du hast hier nicht das Sagen, Gren. Dieses Ding geht, wohin es will, und wir sind hilflos. Deshalb sorge ich mich.«

»Du sorgst dich, weil du dumm bist.«

Es verletzte sie zwar, dennoch wollte sie unter diesen Umständen so viel Trost finden wie irgend möglich.

»Wenn wir erst mal an Land sind, brauchen wir uns alle nicht mehr so viele Sorgen zu machen. Vielleicht bist du dann auch nicht mehr so unfreundlich zu mir.«

Einen besonders herzlichen Empfang bot ihnen die Küste jedoch nicht. Während sie hoffnungsvoll hinüberschauten, stiegen zwei große schwarze Vögel vom Wald auf. Sie spreizten die Flügel, segelten empor und näherten sich mit schweren Flügelschlägen dem Langbein.

»Flach hinlegen!«, rief Gren und zog sein Messer.

»Boykottiert Schimpansenprodukte!«, rief der Hübsche. »Verhindert Affenarbeit in eurer Fabrik. Unterstützt Imbroglios Kampf gegen das Bündnis Zukunft der Industrie!«

Das Langbein stakte jetzt durch flaches Wasser.

Schwarze Flügel blitzten dicht über ihren Köpfen, donnerten mit einer Wolke von Verwesung um das Langbein. Im nächsten Moment wurde der Hübsche aus seinem gelassenen Kreisen gerissen und von mächtigen Klauen zur Küste getragen. Während er verschleppt wurde, drang sein leidenschaftliches Rufen zu ihnen: »Kämpft heute, um das Morgen zu sichern. Macht die Welt sicher für die Demokratie!« Dann verschwanden die Vögel zwischen den Ästen.

Wasser troff von seinen schlanken Unterschenkeln, während das Langbein an Land watete. Vier oder fünf seiner Artgenossen taten es ihm gleich. Mit ihrer Lebendigkeit und an Menschen erinnernden Zielstrebigkeit stachen sie aus der trostlosen Umgebung heraus. Das alles durchdringende Brüten der Lebenswelt, aus der Gren und Yattmur stammten, fehlte in diesen Regionen völlig. Von dieser Treibhauswelt blieb nur ein Schatten. Die Sonne lag auf dem Horizont wie ein blutiges, misshandeltes Auge auf einem Teller, und überall herrschte Zwielicht. Vor ihnen am Himmel ballte sich Dunkelheit.

Das Meer schien bar jeden Lebens. Kein monströser Seetang säumte die Küste, kein Fisch bewegte das Wasser in den Felsenbecken. Diese Trostlosigkeit wurde noch durch die bebende Stille des Ozeans verstärkt, denn die Langbeine hatten sich für ihre Wanderung instinktgetrieben eine Jahreszeit ohne Stürme ausgesucht.

An Land herrschte vergleichbare Ruhe. Der Wald wuchs noch immer, doch hier war er taub von Schatten und Kälte, ein halb lebendiger Wald, kleingehalten vom Blaugrün eines ewigen Abends. Als sie zwischen seine verkümmerten Stämme getragen wurden, sahen die Menschen unten Schimmelflecken im Grün. Nur an einer Stelle zeigte sich ein leuchtend gelber Fleck. Eine Stimme rief ihnen zu: »Wählt heute SRH, den demokratischen Weg!« Die Hecklermaschine lag wie ein kaputtes Spielzeug da, wo die Vögel sie zurückgelassen hatten, ein Flügel sichtbar zwischen den Wipfeln; sie rief noch, als sie landeinwärts außer Hörweite gerieten.

»Wann halten wir an?«, flüsterte Yattmur.

Gren antwortete nicht; sie hatte es auch nicht erwartet. Seine Miene war kalt und starr; er warf ihr nicht einmal einen Blick zu. Sie grub die Fingernägel in die Handballen, um ihren Zorn zu bändigen, da sie wusste, dass es nicht sein Fehler war.

Vorsichtig bahnten sich die Langbeine über dem Wald ihren Weg. Blätter streiften ihre Gliedmaßen oder wischten gelegentlich über ihre Leiber. Die ganze Zeit über marschierten sie mit der Sonne im Rücken, die hinter der Wildnis bitteren Blattwerks nur noch zur Hälfte zu sehen war. Einmal stieg ein Schwarm schwarzer Pflanzvögel von den Wipfeln auf und klapperte zur Sonne hin davon; die Langbeine aber stockten nicht einmal.

Trotz ihrer Faszination und ihres wachsenden Unbehagens blieb den Menschen irgendwann nichts anderes übrig, als mehr von ihrem Proviant zu essen. Irgendwann mussten sie sich auch wieder zum Schlafen hinlegen und drängten sich in der Mitte ihres Hochsitzes dicht aneinander. Gren sagte noch immer nichts.

Sie schliefen, und als sie wieder aufwachten, als sie unwillig in den Wachzustand kamen, der nun mit Kälte verbunden war, hatte sich die Aussicht ringsum geändert – allerdings nicht zum Besseren.

Ihr Langbein durchquerte gerade ein flaches Tal. Unter ihnen erstreckte sich Dunkelheit; ein Sonnenstrahl jedoch erhellte den Pflanzenkörper, auf dem sie ritten. Noch immer bedeckte Wald den Boden, ein deformierter Wald, der nun an frisch Erblindete erinnerte, die mit ausgestreckten Händen vorwärtsstolperten, Angst im Gesicht geschrieben. Hier und da hing ein Blatt, ansonsten waren die Äste kahl und verdrehten sich zu grotesken Formen, während das große Solitärgehölz, das sich über Äonen zu einem ganzen Dschungel ausgebreitet hatte, darum kämpfte, dort zu wachsen, wo es nie hatte wachsen wollen.

Die drei Bauchmänner bebten vor Furcht. Sie sahen nicht nach unten, sondern nach vorn.

»O Bäuche und Schwänze! Hier kommt der Ort, wo die große ewige Nacht alles verschlingt. Wieso sind wir nicht vor langer Zeit traurig-glücklich gestorben, als wir alle zusammen waren und zusammen schwitzen so saftig-nett war vor langer Zeit?«

»Seid still, seid alle still!«, schrie Gren und packte seinen Stock. Seine vom Tal zurückgeworfene Stimme klang ihm hohl und verwirrt.

»O kleiner schwanzloser Hirte, du hättest uns längst freundlich mit grausamem Töten töten sollen, als wir noch schwitzen konnten, damals vor langer Zeit, als wir noch selig an langen Schwänzen wuchsen. Nun kommt hier das schwarze fiese Ende der Welt und schnappt um uns die Zähne zu, und wir haben nicht mal mehr Schwänze. Ach, der selige Sonnenschein! Ach, wir Armen!«

Er konnte ihrem Geschrei kein Ende setzen. Vor ihnen lag die Dunkelheit aufgeschichtet wie Schieferplatten.

Diese melierte Schwärze wurde von einem einzelnen Berg noch betont. Schroff ragte er vor ihnen auf und trug das Gewicht der Nacht auf seinen zerschmetterten Schultern. Wo die Sonne seine Höhen traf, wies er einen goldenen Schimmer auf, die letzte Farbe der sich aufbäumenden Welt. Jenseits davon lag Dunkelheit. Schon stiegen sie seine unteren Hänge hinauf. Das Langbein quälte sich ins Licht empor; in der Weite des Tals waren noch fünf andere Langbeine zu sehen, eines nahebei, vier in der Dunkelheit kaum auszumachen.

Es war ein Kampf. Doch das Langbein kletterte beharrlich hinauf in den Sonnenschein.

Auch der Wald war durch das Tal der Schatten gelangt. Dafür hatte er sich seinen Weg durch die Finsternis gekämpft: um seine letzte Welle Grün hinauf zu dem letzten hellen Streifen Erde werfen zu können. Hier, an Hängen, die zurück zum ewigen Sonnenuntergang blickten, war er die Schimmelpilze losgeworden und wuchs fast mit dem alten Überschwang.

»Vielleicht hält das Langbein ja hier an«, sagte Yattmur. »Was meinst du, Gren?«

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?«

»Und deine Morchel?«

»Die weiß das auch nicht. Lass mich in Ruhe. Warte doch ab, was passiert.«

Selbst die Bauchmänner verfielen in Schweigen und starrten in einer Mischung aus Hoffnung und Angst umher.

Ohne auch nur ansatzweise den Eindruck zu machen, je wieder anhalten zu wollen, kletterte das Langbein knarrend den Berg hinauf. Seine Füße tasteten nach einem sicheren Weg durch die Blätter, bis den Menschen dämmerte, dass es, wohin auch immer es wollte, in dieser letzten Bastion von Licht und Wärme nicht stehen bleiben würde. Schon waren sie auf der Kuppe, und noch immer marschierte es weiter, ein automatisches Pflanzenungetüm, das sie plötzlich hassten.

»Ich springe runter!«, rief Gren und stand auf. Yattmur sah die Wildheit in seinen Augen und fragte sich, ob gerade er sprach oder die Morchel. Sie schlang ihm die Arme um die Schenkel und rief, dass er sich damit nur selbst umbrächte. Er holte gerade mit dem Stock aus, da hielt er inne – das Langbein stieg schon die unbeleuchtete Seite des Berges hinunter.

Nur für einen Moment bekamen sie noch Sonne ab. Ihnen bot sich ein letzter Blick auf eine Welt mit Gold in der trüben Luft, mit dem dunklen Blätterdach unten und einem anderen Langbein weiter links. Dann ruckte die Bergschulter nach oben, und sie kippten hinunter in eine Welt aus Nacht. Mit einer Stimme stießen sie einen Schrei aus: einen Schrei, der hinunter in das unsichtbare Ödland hallte und auf der Flucht erstarb.

Für Yattmur war nur eine Interpretation der Ereignisse möglich. Sie waren aus der Welt hinüber in den Tod getreten.

Stumm vergrub sie ihr Gesicht in der weichen, behaarten Flanke des nächstbesten Bauchmanns, bis das gleichmäßige Ruckeln sie überzeugte, dass sie noch nicht vollständig aus dem Verbund dessen, was es gab, geschieden war.

Gren sagte weiter, was die Morchel ihm erzählte: »Diese Welt wendet ihre eine Hälfte stets der Sonne zu … Wir dringen jetzt auf ihre Nachtseite vor, über den Terminator … hinein in die ewige Dunkelheit …«

Seine Zähne klapperten. Yattmur klammerte sich an ihn, öffnete zum ersten Mal wieder die Augen und suchte sein Gesicht.

Es schwebte vor ihr in der Dunkelheit, das Gespenst eines Gesichts, und doch schöpfte sie Trost daraus. Gren legte die Arme um die Frau, sodass sie dort gemeinsam kauerten und ihre Wangen sich berührten. Diese Haltung gab Yattmur Wärme und Mut genug, um sich verstohlen umzuschauen.

In ihrem Grauen hatte sie sich einen Ort der wirbelnden Leere vorgestellt; dass sie vielleicht in so etwas wie eine kosmische Muschelschale gestürzt waren, die an die mythischen Strände des Himmels gespült worden war. Die Wirklichkeit war weniger imposant und deutlich unangenehmer. Gleich über ihnen waberte ein Hauch Sonnenlicht und erhellte das Tal, in das sie hineinstapften. Dieses Licht wurde von einem Schatten gespalten, der immer weiter über den Himmel wuchs und von der Schulter des schwarzen Ogers geworfen wurde, die sie noch immer hinunterstiegen.

Ihr Abstieg wurde von dumpfen Trommelschlägen begleitet. Yattmur spähte nach unten; sie durchwanderten ein Feld wimmelnder Würmer. Die Würmer warfen sich gegen die stelzenhaften Gliedmaßen des Langbeins, das sich jetzt mit großer Vorsicht bewegte, um nicht umgeworfen zu werden. Wütend peitschten die im strohfarbenen Licht gelb glänzenden Würmer hin und her. Manche waren lang genug, dass sie fast bis hinauf zu den kauernden Menschen reichten; vorn an ihren Köpfen waren schalenartige Rezeptoren zu sehen. Ob es sich dabei um Mäuler, Augen oder Organe zum Erspüren von Wärme handelte, vermochte Yattmur nicht zu sagen. Ihr entsetztes Keuchen weckte jedoch Gren aus seiner Trance; fast fröhlich machte er sich daran, gegen Schrecken zu kämpfen, die er verstand, und hieb die glitschigen gelben Vorderteile ab, wann immer welche aus der Dunkelheit auftauchten.

Das Langbein zu ihrer Linken, das sie nur undeutlich sehen konnten, steckte ebenfalls in Schwierigkeiten. Es war in ein Gebiet hineingelaufen, wo die Würmer höher wuchsen. Sein Schattenriss kam vor einem hellen Landstreifen nicht mehr voran, ringsum brodelte ein Wald knochenloser Finger. Es kippte. Ohne jedes Geräusch fiel es um, die Würmer hatten seiner langen Reise ein Ende gesetzt.

Von der Katastrophe unbeeinflusst, setzte das Langbein, auf dem die Menschen ritten, seinen Weg den Berg hinab fort.

Schon war es durch die dichteste Stelle seiner Gegner hindurch. Die Würmer waren am Boden verwurzelt und konnten ihm nicht folgen. Sie wuchsen allmählich niedriger, dünnten aus und kamen schließlich nur noch in Büscheln vor, denen das Langbein auswich.

Gren entspannte sich ein wenig und sah sich um. Yattmur verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter; in ihrem Magen wühlte Übelkeit, und sie wollte gar nichts sehen.