26
Wie die Strahlenleistung der Sonne zunahm, während sie sich dem nicht mehr gar so fernen Tag näherte, an dem sie sich in eine Nova verwandeln würde, so hatte sich auch das Wachstum der Vegetation zu unbestrittener Vorherrschaft gesteigert und über sämtliche anderen Arten des Lebens gesiegt und sie entweder ins Aussterben oder ins Exil in der Zwielichtzone getrieben. Die Querer, große, spinnenartige Monster pflanzlichen Ursprungs, die manchmal eine Länge von fast zwei Kilometer erreichten, stellten den Höhepunkt der Macht des Pflanzenreichs dar.
Harte Strahlung war für sie zu einer Notwendigkeit geworden. Die ersten pflanzlichen Astronauten der Treibhauswelt reisten zwischen Erde und Mond, lange nachdem der Mensch seine lärmenden Tätigkeiten aufgegeben und sich in die Bäume zurückgezogen hatte, aus denen er stammte.
Gren und Yattmur bewegten sich unten an dem grünen und schwarzen faserigen Koloss entlang, Yattmur mit Laren auf dem Arm, der alles mit wachen Augen ansah. Gren spürte Gefahr und blieb stehen.
Er sah hoch. Ein dunkles Gesicht starrte von oben auf der monströsen Flanke zu ihm herab. Nach einem Schreckensmoment erkannte er mehr als ein Gesicht. In dem Flaum, der den Querer bedeckte, verbargen sich Menschen.
Instinktiv zog er sein Messer.
Als sie sahen, dass sie entdeckt waren, kamen die Beobachter aus ihren Verstecken und schwärmten die Flanke des Querers hinunter. Zehn Stück waren es.
»Geh zurück!«, sagte Gren eindringlich zu Yattmur.
»Aber die Scharfpelze …«
Die Angreifer überrumpelten sie. Sie spreizten Flügel oder Umhänge und sprangen aus einer Höhe von gut über Grens Kopf herab. Sie begannen, Gren und Yattmur einzukreisen, alle bewaffnet mit Stöcken oder Schwertern.
»Stehen bleiben, oder ich haue euch um!«, rief Gren laut und sprang vor Yattmur und das Baby.
»Gren! Du bist Gren aus Lily-Yos Gruppe!«
Die Gestalten waren stehen geblieben. Jene, die gerufen hatte, steckte ihr Schwert weg und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
Er kannte ihr dunkles Gesicht!
»Lebende Schatten! Lily-Yo! Lily-Yo! Bist du das?«
»Ich bin’s, Gren, und niemand anders!«
Und nun kamen noch zwei heran und weinten vor Freude. Gren erkannte sie, die Gesichter vergessen und doch vertraut, zwei Erwachsene seiner Stammesgruppe. Der Mann Haris und Flor, die seine Hand hielt. Obwohl sie so verändert waren, bemerkte Gren es in seiner Verblüffung über das Wiedersehen kaum. Er achtete eher auf ihre Augen als auf ihre Flügel.
Als Haris bemerkte, wie sein fragender Blick über ihre Gesichter strich, sagte er: »Du bist jetzt ein Mann, Gren. Wir haben uns auch sehr verändert. Diese anderen hier sind unsere Freunde. Wir sind aus der wahren Welt zurückgekehrt, haben im Bauch dieses Querers das All durchquert. Die Kreatur ist unterwegs krank geworden und hier in diesem elenden Land der Schatten abgestürzt. Ohne Möglichkeit, in die warmen Wälder zurückzukehren, sitzen wir hier schon viel zu lange fest und erleiden Angriffe von allen möglichen unvorstellbaren Kreaturen.«
»Und der schlimmste steht euch noch bevor«, sagte Gren. Dass Leute wie Haris und Lily-Yo, die er bewunderte, sich mit Flugmenschen zusammenschlossen, gefiel ihm gar nicht. »Unsere Feinde sammeln sich gegen uns. Für Geschichten ist später Zeit – und meine dürfte seltsamer sein als eure – , denn die Scharfpelze sind schon fast hier, ein großes Rudel, nein, zwei.«
»Scharfpelze nennst du sie?«, fragte Lily-Yo. »Wir konnten oben vom Querer aus sehen, wie sie näher kommen. Wieso denkst du, dass sie auf uns aus sind? Wollen sie in diesem elenden Land des Hungers nicht einfach nur zum Querer, auf der Suche nach Essbarem?«
Diese Vorstellung kam für Gren einigermaßen unerwartet, doch er erkannte ihre Wahrscheinlichkeit an. Nur die beachtliche Menge Nahrung, die der Querer versprach, konnte so viele Scharfpelze so beständig angelockt haben. Er wandte sich um, weil er wissen wollte, was Yattmur dachte. Sie war nicht da.
Prompt zog er wieder sein Messer, das er gerade erst weggesteckt hatte, sprang auf der Suche nach ihr umher und rief ihren Namen. Die Mitglieder von Lily-Yos Truppe, die ihn nicht kannten, griffen nervös nach ihren Schwertern, doch er ignorierte sie.
Yattmur stand ein Stück entfernt, drückte ihrer beider Kind an sich und starrte finster in seine Richtung. Sie war zurück zu dem Sodalen gegangen, der immer noch dort lag; neben ihm standen nutzlos die Urbarerinnen und schauten herüber. Gren schob sich mit einem leisen Fluch an Haris vorbei.
»Was machst du denn?«, rief er. »Bring Laren her.«
»Komm und hol ihn dir, wenn du ihn möchtest«, erwiderte sie. »Mit diesen seltsamen Wilden will ich nichts zu tun haben. Du gehörst zu mir – wieso wechselst du jetzt zu ihnen? Wieso redest du mit ihnen? Wer sind die?«
»O Schatten, bewahrt mich vor albernen Weibern! Du begreifst nicht …«
Er brach ab.
Sie hatten ihre Flucht vom Berg zu lange hinausgezögert.
In beeindruckender Stille, vielleicht weil sie ihren Atem brauchten, waren die ersten Reihen der Scharfpelze über dem Kamm aufgetaucht.
Sie hielten an, als sie die Menschen sahen, doch die hinteren Reihen schoben sie voran. Mit ihren steifen Schultermähnen und ihren gebleckten Zähnen sahen sie nicht wie Freunde aus. Einige trugen diese lächerlichen Helme aus ausgehöhlten Kürbissen auf dem Kopf.
Durch kalte Lippen sagte Yattmur: »Ein paar von denen haben mir versprochen, die Bauchmänner zurück in ihre Heimat zu bringen.«
»Woher weißt du das? Die sehen doch alle gleich aus.«
»Dieser Alte mit dem gelben Bart, dem ein Finger fehlt – den erkenne ich jedenfalls.«
Lily-Yo kam mit ihrer Gruppe näher und fragte: »Was machen wir jetzt? Verschonen uns diese Bestien, wenn wir ihnen den Querer überlassen?«
Gren antwortete nicht. Er ging schnurstracks zu der gelbbärtigen Kreatur, die Yattmur ihm gezeigt hatte.
»Wir sind euch nicht feindlich gesinnt, Scharfpelzbavianleute. Du weißt, dass wir uns auf dem großen Hang nie mit euch gestritten haben. Habt ihr die drei Bauchmänner bei euch, die unsere Gefährten waren?«
Ohne Antwort watschelte Gelbbart weg und beriet sich mit seinen Freunden. Die Scharfpelze stellten sich auf die Hinterbeine und redeten kläffend untereinander. Schließlich drehte Gelbbart sich wieder zu Gren um und bleckte beim Sprechen seine Reißzähne. Er barg etwas in den Armen.
»Jipp-jipp-japp-ja, Nackthaut, die Hüpfebäuche sind bell-bell-bei uns. Schau! Guck! Fang!«
Mit einer schnellen Bewegung warf er ihm etwas zu – und Gren stand so dicht vor ihm, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als es zu fangen.
Es war der abgetrennte Kopf eines Bauchmanns.
Gren handelte, ohne nachzudenken. Er ließ den Kopf fallen, warf sich in dunkelrotem Zorn nach vorn und stach mit seinem Messer zu. Die Klinge erwischte den gelbbärtigen Scharfpelz im Bauch, bevor er ausweichen konnte. Als er kreischend seitwärts taumelte, packte Gren seine graue Pfote mit beiden Händen. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und schleuderte Gelbbart geradewegs über den Rand der hohen Steilwand.
Absolute Stille machte sich breit, ein überraschtes Schweigen, während Gelbbarts Schrei verklang.
Damit ist unser Schicksal entschieden, dachte Gren. Doch es war ihm egal, denn ihm kochte das Blut. Er spürte Yattmur, Lily-Yo und die anderen Menschen hinter sich, wollte jedoch keinesfalls den Blick abwenden.
Yattmur beugte sich zu dem übel zugerichteten, blutigen Gegenstand hinunter, der zu ihren Füßen lag. Durch das Abschlagen war der Kopf zu einem bloßen Ding reduziert worden, zu etwas Grausigem. Yattmur sah in das wässrige Gelee, das einmal Augen gewesen waren, und las darin das Schicksal aller drei Bauchmänner.
Ungehört schluchzte sie: »Und sie waren immer so lieb zu Laren!«
Dann hob hinter ihr der Lärm an.
Ein schreckliches Brüllen brach los, ein Brüllen von fremdartiger Kadenz und Macht, ein so unerwartet über ihre Köpfe hereinbrechendes Brüllen, dass ihnen das Blut zu Eis gefror. Die Scharfpelze schrien ehrfürchtig auf, dann wandten sie sich ab und flohen drängelnd und schubsend in die Sicherheit der Schatten hinter dem Bergkamm.
Benommen sah Gren nach hinten. Lily-Yo und ihre Gefährten kehrten zu dem sterbenden Querer zurück. Yattmur versuchte, das Baby zu beruhigen. Die Urbarerinnen lagen bäuchlings auf der Erde und hielten sich die Ohren zu.
Wieder kam der Lärm, schwoll an vor qualvoller Verzweiflung. Sodale Ye hatte das Bewusstsein wiedererlangt und schrie seinen Zorn laut heraus. Und dann öffnete er den fleischigen Mund mit der gewaltigen Unterlippe und sprach Worte, die erst allmählich Sinn ergaben.
»Wo habt ihr eure hohlköpfigen Köpfe, ihr Kreaturen der düsteren Ebenen. Ihr habt Kröten im Kopf und begreift meine Prophezeiungen nicht, wo die grünen Säulen wachsen. Wachstum ist Symmetrie, aufwärts und abwärts, und was Verfall genannt wird, ist nicht Verfall, sondern der zweite Teil des Wachstums. Ein Prozess, ihr Krötenköpfe – der Prozess der Devolution, der euch hinunter in die grüne Quelle trägt, aus der ihr gekommen seid … Ich habe mich in den Labyrinthen verirrt – Gren! Gren, ich grabe mich wie ein Maulwurf durch Erdschichten des Begreifens … Gren, die Albträume – Gren, ich rufe dich aus dem Bauch des Fisches. Kannst du mich hören? Ich bin’s – deine alte Verbündete, die Morchel!«
»Morchel?«
In seiner Verblüffung fiel Gren vor dem Schleppschnapper auf die Knie. Ausdruckslos starrte er auf die lepröse braune Krone, die nun den Kopf des Wesens zierte. Während er starrte, öffneten sich die Augen, überzogen zunächst, und richteten sich dann auf ihn.
»Gren! Ich war fast tot … Ach, der Schmerz des Bewusstseins … Hör zu, Mann, ich bin es, die spricht, deine Morchel. Ich halte den Sodalen in Schach, und ich nutze seine Fähigkeiten, wie ich einmal deine genutzt habe; es gibt eine solche Fülle in seinem Verstand – ich koppele sein Wissen mit meinem … Ah, nun sehe ich nicht nur diese kleine Welt deutlich, sondern die ganze grüne Galaxie, das immergrüne Universum …«
Gren sprang verzweifelt auf.
»Morchel, bist du verrückt geworden? Siehst du denn nicht, in welcher Lage wir uns hier befinden und dass diese Scharfpelze uns alle töten, sobald sie ihren Mut wiedergefunden haben? Was machen wir jetzt? Wenn du das wirklich bist, wenn du bei Verstand bist, dann hilf uns!«
»Ich bin nicht verrückt – außer es ist verrückt, die einzige vernünftige Kreatur auf einer krötenköpfigen Welt zu sein … Aber gut, Gren, ich sage dir, Hilfe ist unterwegs! Schau in den Himmel!«
Die Landschaft wurde schon lange von einem unheimlichen Licht durchflutet. Drüben in den fernen und lückenlosen Reihen des Dschungels stand die grüne Säule, eine weitere hatte sich in einiger Entfernung gebildet. Sie schienen die untere Atmosphäre mit ihrem Glühen zu beflecken, deshalb überraschte es Gren nicht, dass der Himmel von grünlich glühenden Wolkenstreifen überzogen war. Aus einer dieser Wolken kam ein Querer herab. Er sank gemächlich und schien genau auf die Erhebung zuzuhalten, auf der Gren und die anderen standen.
»Kommt er hierher, Morchel?«, fragte Gren. Ihn störte die Wiederbelebung des Tyrannen zwar, der noch vor Kurzem von seinem Lebensblut gezehrt hatte, doch der von dem beinlosen Sodalen abhängige Pilz konnte ihm ja nichts tun, nur helfen.
»Er landet hier«, antwortete die Morchel. »Leg dich mit Yattmur und dem Baby hierhin, damit er euch nicht zerquetscht. Er kommt wahrscheinlich, um sich mit dem sterbenden Querer zu paaren – zur gegenseitigen Befruchtung. Sobald er unten ist, müssen wir auf ihn raufklettern. Du musst mich tragen, Gren, begreifst du das? Dann erzähle ich dir, was noch zu tun ist.«
Während die Morchel mit dem wulstigen Mund des Sodalen sprach, zauste Wind das Gras. Der behaarte Leib oben wurde größer, bis er fast ihr gesamtes Blickfeld ausfüllte: Sanft landete der Querer am Rand des Abgrunds, direkt auf seinem sterbenden Artgenossen. Seine großen Beine kamen herunter und stabilisierten ihn wie moosbewachsene Strebewerke. Kratzend suchte er Halt, dann war er still.
Gren ging mit Yattmur und den tätowierten Frauen dorthin und starrte zu ihm nach oben. Er ließ den Schwanz des Sodalen los, den er mitgeschleift hatte.
»Da kommen wir nicht rauf!«, sagte er. »Du bist verrückt, dass du überhaupt daran denkst, Morchel. Er ist viel zu groß!«
»Klettere, Menschenkreatur, klettere!«, bellte die Morchel.
Gren zögerte noch immer, während Lily-Yo und die anderen herüberkamen. Sie hatten sich hinter der hohen Felsspitze versteckt und wollten unbedingt hier weg.
»Wie deine Fischkreatur sagt, bringt uns nur dieser Weg in Sicherheit«, sagte Lily-Yo. »Klettere, Gren! Ihr könnt mit uns kommen, dann sorgen wir für euch.«
»Du brauchst vor einem Querer keine Angst zu haben, Gren«, sagte Haris.
Er blieb, wo er war; ihr gutes Zureden machte ihm keinen Mut. Bei der Vorstellung, sich an etwas festzuhalten, das durch die Luft flog, wurde ihm übel; er erinnerte sich an seinen Flug auf dem Rücken des Pflanzvogels, der über dem Niemandsland abgestürzt war, erinnerte sich auch an die Reisen per Boot und Langbein, die ihn beide in eine schlimmere Lage gebracht hatten als zuvor. Nur bei der Wanderung mit dem Sodalen, die er aus freien Stücken unternommen hatte, war das Ziel dem Ausgangspunkt vorzuziehen gewesen.
Während er zögerte, rief die Morchel erneut mit der Stimme des Sodalen und trieb die anderen an, das faserige Bein hinaufzuklettern, trieb sogar die tätowierten Frauen an, den Fisch hinaufzutragen, was sie mit der Hilfe von Lily-Yos Truppe taten. Bald kauerten sie alle hoch oben auf dem gewaltigen Rücken und schauten und riefen zu Gren hinunter. Nur Yattmur stand noch neben ihm.
»Endlich sind wir die Bauchmänner und die Morchel los, wieso sollen wir uns jetzt von dieser monströsen Kreatur abhängig machen?«, grummelte er.
»Wir müssen gehen, Gren. Der Querer bringt uns von den Scharfpelzen weg zu den warmen Wäldern, wo wir in Frieden mit Laren leben können. Du weißt, dass wir hier nicht bleiben können.«
Er sah sie an, dann das großäugige Kind in ihren Armen. Sie hatte so viel für ihn erlitten, seit das Schwarzmaul sein unwiderstehliches Lied gesungen hatte.
»Wenn du es möchtest, gehen wir, Yattmur. Lass mich den Jungen tragen.« Mit plötzlichem Zorn sah er nach oben und rief zur Morchel: »Und du hör mit deinem dummen Geschrei auf – ich komme ja schon!«
Er rief es zu spät: Die Morchel rief ihn gar nicht mehr. Als Gren und Yattmur sich schließlich schnaufend das letzte Stück auf den lebenden Berg zogen, musste er feststellen, dass die Morchel Lily-Yos Leute eifrig mit neuen Arbeiten beschäftigte.
Der Sodale bedachte Gren mit einem Blick aus seinen Schweinsäuglein und sagte: »Du weißt besser als alle anderen, dass ich mich dringend teilen und vermehren muss. Also übernehme ich nach dem Sodalen auch noch den Querer.«
»Pass auf, dass nicht er dich übernimmt«, sagte Gren kläglich. Er setzte sich rasch hin, als der Querer sich bewegte. Doch die gewaltige Kreatur besaß mitten in der Befruchtung so geringe Reizempfindlichkeit, dass sie in ihre eigenen blinden Angelegenheiten vertieft blieb, während Lily-Yo und die anderen sie heftig mit ihren Messern bearbeiteten und ihre Haut öffneten.
Als sie ein Loch freigelegt hatten, hängten sie den Sodalen kopfüber hinein; er wand sich zwar ein wenig, aber für ernsthafte Gegenwehr hatte ihn die Morchel zu sehr unter Kontrolle. Ihre hässliche löchrige braune Masse begann zu rutschen, die Hälfte davon fiel in das Loch, und anschließend schlossen die anderen es – unter ihrer Anleitung – mit einer Art Spundzapfen aus Fleisch. Gren staunte, wie eifrig sie die Anweisungen der Morchel befolgten; er hatte offenbar eine Immunität gegen Befehle entwickelt.
Yattmur setzte sich hin und stillte Laren. Als Gren sich zu ihr setzte, zeigte sie zur dunklen Seite des Berges. Von dieser Höhe aus waren traurige und niedergeschlagene Scharfpelze zu sehen, die in Grüppchen Abstand suchten, um den Gang der Ereignisse abzuwarten; hier und da leuchteten ihre Fackeln in der Dunkelheit wie Blumen in einem melancholischen Wald.
»Sie greifen gar nicht an«, sagte Yattmur. »Vielleicht könnten wir runterklettern und den Geheimweg zum Wohligen Becken finden?«
Die Landschaft kippte.
»Dafür ist es zu spät«, sagte Gren. »Halt dich fest! Wir fliegen. Hältst du Laren gut fest?«
Der Querer hatte sich erhoben. Unter ihnen blitzte die hohe Steilwand auf; sie stürzten sie hinunter und kurvten schnell am Felsgestein vorbei. Das Wohlige Becken drehte sich, wurde größer und kam näher.
In langen Schatten glitten sie, dann ins Licht – ihr Schatten strich über das getüpfelte Wasser – , dann wieder in den Schatten, und dann erneut ins Licht, als sie aufstiegen, Sicherheit gewannen und zur gefiederten Sonne hin abbogen.
Laren stieß einen Angstschrei aus und kehrte an die Brust zurück; er kniff die Augen zu, als wäre ihm das alles zu viel.
»Kommt alle her«, rief die Morchel, »ich will euch über das Fischmaul etwas sagen. Ihr sollt es alle hören.«
Sie hielten sich an faserigen Haaren fest und sammelten sich um die Morchel, nur Gren und Yattmur zögerten.
»Nun bin ich zwei Körper«, verkündete sie. »Ich habe die Kontrolle über diesen Querer übernommen; ich leite sein Nervensystem. Er geht nur dorthin, wo ich will. Habt keine Angst, vorläufig droht euch keine Gefahr.
Mehr Angst als das Fliegen macht das Wissen, das ich aus diesem fischigen Schleppschnapper gezogen habe, Sodale Ye. Ihr müsst es hören, denn es ändert meine Pläne.
Diese Sodalen sind ein Volk des Meeres. Während das pflanzliche Leben andere intelligente Kreaturen voneinander isoliert hat, vermochten die Sodalen in der Freiheit der Ozeane Kontakt mit allen ihren Gemeinden aufrechtzuerhalten. Sie können immer noch ungestört auf diesem Planeten umherschweifen. Deshalb mehren sie ihr Wissen, anstatt es zu verlieren.
Sie haben herausgefunden, dass diese Welt untergeht. Nicht sofort – für viele Generationen nicht – , aber untergehen wird sie, und diese grünen, verheerenden Säulen, die aus dem Dschungel zum Himmel aufsteigen, zeigen, dass der Untergang bereits begonnen hat.
In den heißen Regionen – Regionen, die niemand von uns kennt, wo brennende Büsche und andere feuernutzende Pflanzen leben – , gibt es solche grünen Säulen schon länger. Im Verstand des Sodalen habe ich Wissen darüber gefunden. Ich sehe einige an Küsten gleißen, beobachtet aus einem dampfenden Meer.«
Die Morchel verstummte. Gren wusste, dass sie gerade nach weiterem Wissen grub. Ihn überlief ein Schauder; er bewunderte die Begeisterung der Morchel für Fakten durchaus, doch ihr Charakter stieß ihn ab.
Unter ihnen zog langsam und leicht schwankend die Küste der Lande des immerwährenden Zwielichts vorbei. Sie sahen merklich heller aus. Dann bewegten sich die schweren Lippen erneut, und die Stimme des Sodalen verbreitete wieder die Gedanken der Morchel.
»Diese Sodalen begreifen das von ihnen gesammelte Wissen nicht zur Gänze. Ach, die Schönheit des Plans, wenn man sie erkennt … Menschen, es gibt da diese brennende Lunte einer Kraft namens Devolution … Wie kann ich sie so erklären, dass eure winzigen Hirne es begreifen?
Vor sehr langer Zeit haben Menschen – eure fernen Vorfahren – entdeckt, dass das Leben aus einem Körnchen Fruchtbarkeit entstand und sich entwickelte: ein Einzeller, der als Tor zum Leben diente wie das Öhr einer Nadel, hinter dem die Aminosäuren und die anorganische Welt der Natur lagen. Und auch diese anorganische Welt, entdeckten sie, entwickelte sich in ihrer Komplexität aus einem Körnchen, einem Uratom.
Es gelang den Menschen, diese gewaltigen Wachstumsprozesse zu verstehen. Die Sodalen wiederum haben entdeckt, dass Wachstum auch das umfasst, was die Menschen Verfall genannt hätten: dass die Natur nicht nur anfangen muss, um zu enden, sondern auch enden, um anzufangen.
Dieser Sodale, den ich jetzt bewohne, weiß, dass diese Welt sich in einer Phase des Endens befindet. Ungefähr das wollte er euch niederen Arten predigen.
Am Anbeginn der Zeit dieses Sonnensystems besaß alles Leben eine ähnliche Form, und erst das Absterben brachte andere Formen hervor. Sie sind aus dem Weltall zur Erde gekommen wie Staub oder Funken, in kambrischen Zeiten. Dann haben sich diese Formen zu Tier, Pflanze, Reptil, Insekt entwickelt – alle Arten und Spezies, die die Welt überschwemmten und von denen jetzt viele verschwunden sind.
Wieso sind sie verschwunden? Weil die galaktischen Strömungen, die das Leben einer Sonne bestimmen, diese Sonne nun zerstören. Dieselben Strömungen kontrollieren das tierische Leben; sie haben es beendet, wie sie die Existenz der Erde beenden werden. So entwickelt sich die Natur zurück. Die Formen gleichen sich wieder an! Sie haben nie aufgehört, voneinander abhängig zu sein – das eine lebt stets vom anderen – , und nun verschmelzen sie wieder miteinander. Waren die Bauchmänner Pflanzen oder Menschen? Und die Kreaturen der Treibhauswelt, diese Querer, die Mordweiden im Niemandsland, die Langbeine, die sich wie Pflanzen aussäen und wie Vögel ziehen – wie passen sie in die alten Systematiken?
Ich frage mich selbst, was bin ich?«
Einen Moment lang schwieg die Morchel. Ihre Zuhörer sahen einander verstohlen an, voller Beklemmung, bis ein Schlag der Schwanzflosse sie zurück zum Diskurs rief.
»Wir alle hier sind versehentlich vom Hauptstrom der Devolution beiseitegewischt worden. Wir leben in einer Welt, in der jede Generation schrumpft und weniger definiert ist. Alles Leben tendiert zum Verstandeslosen, zum unendlich Kleinen: zum embryonischen Körnchen. So vollenden sich die Prozesse des Universums. Galaktische Strömungen tragen die Sporen des Lebens zu einem anderen, neuen System, ganz wie sie es einst hierhergebracht haben. Schon könnt ihr den Prozess bei der Arbeit beobachten, in diesen grünen Lichtsäulen, die das Leben aus den Dschungeln ziehen. Unter beständig zunehmender Wärme steigern sich die devolutionären Prozesse.«
Während die Morchel sprach, kontrollierte ihre andere Hälfte den Querer, der sie beständig tiefer getragen hatte. Nun schwebten sie über dichtem Dschungel, über dem Banyan, der diesen ganzen sonnenhellen Kontinent bedeckte. Wärme hüllte sie ein wie ein Mantel.
Hier gab es noch andere Querer, die ihre großen Leiber an ihren Fäden auf und ab schweben ließen. Mit kaum merklichem Ruck landete der Querer der Morchel in den Wipfeln des Dschungels.
Gren stand sofort auf und half Yattmur hoch.
»Du bist die klügste aller Kreaturen, Morchel«, sagte er. »Es bereitet mir keinen Kummer, dich zu verlassen, denn du scheinst jetzt sehr gut selbst für dich sorgen zu können. Du bist immerhin der erste Pilz, der das Rätsel des Universums lösen wird. Yattmur und ich werden an dich denken in den mittleren Etagen des Dschungels. Kommt ihr auch mit, Lily-Yo, oder wollt ihr jetzt auf dieser fliegenden Pflanze leben?«
Lily-Yo, Haris und die anderen waren ebenfalls aufgestanden und sahen Gren mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Abwehrhaltung an, die er von früher kannte.
»Du verlässt dieses großartige Gehirn, diesen Beschützer, diese Morchel, die deine Freundin ist?«, fragte Lily-Yo.
Gren nickte.
»Ich gönne sie euch – und ich gönne euch ihr. Ihr wiederum müsst wie ich entscheiden, ob sie eine gute oder eine böse Kraft ist. Meine Entscheidung steht fest. Ich nehme Yattmur, Laren und die beiden Urbarerinnen mit zurück in den Wald, wo ich hingehöre.« Als er mit den Fingern schnipste, standen die tätowierten Frauen gehorsam auf.
»Gren, du bist immer noch so ein Holzkopf wie früher«, sagte Haris mit einem Anflug von Missbilligung. »Komm mit uns zurück zur wahren Welt – dort ist es besser als im Dschungel. Du hast doch gerade gehört, wie die Fischmorchel gesagt hat, dass der Dschungel verloren ist.«
Gren begriff zu seiner Freude, dass er jetzt auf eine Weise argumentieren konnte, die ihm früher verschlossen geblieben war.
»Wenn es stimmt, was die Morchel sagt, Haris, dann ist eure andere Welt genauso verloren wie diese.«
Die Stimme der Morchel ertönte wieder, sonor und gereizt.
»So ist es, Mann, aber du musst erst noch meinen Plan hören. In dem dämmrigen Gedankenzentrum dieses Querers finde ich Kenntnis von noch ganz anderen Welten, die in weiter Ferne von anderen Sonnen gewärmt werden. Ich kann den Querer dazu bringen, diese Reise zu unternehmen. Ich und Lily-Yo und die anderen leben dann ohne Gefahr in seinem Inneren und ernähren uns von seinem Fleisch, bis wir bei diesen neuen Welten ankommen. Wir folgen einfach den grünen Säulen und lassen uns von den galaktischen Strömungen des Weltalls tragen und zu einem guten neuen Ort bringen. Du musst natürlich mitkommen, Gren.«
»Ich bin es leid, zu tragen oder getragen zu werden. Geht, und viel Glück! Füllt eine ganze leere Welt mit Leuten und Pilzen!«
»Du weißt, dass die Erde einen Feuertod sterben wird, du dummer Mann!«
»Das sagtest du schon, o weise Morchel. Du hast außerdem gesagt, dass das noch viele Generationen dauert. Laren und sein Sohn und der Sohn seines Sohnes werden im Grün leben, anstatt auf einer Reise ins Unbekannte im Bauch einer Pflanze zu braten. Komm, Yattmur. Los, ihr beiden Frauen – ihr kommt auch mit.«
Sie brachen auf. Yattmur schickte die tätowierten Frauen voran und gab Laren an Gren weiter, der ihn sich an die Schulter legte. Haris trat einen Schritt vor, er hatte das Messer gezogen.
»Mit dir war immer schwierig auszukommen«, sagte er. »Du weißt nicht, was du tust.«
»Das mag stimmen; aber wenigstens weiß ich, was ihr tut.«
Gren ignorierte die Klinge des Mannes und kletterte vorsichtig die gewaltige, struppige Flanke hinunter. Sie ließen sich auf einen schmalen Ast hinab, dann halfen sie den fügsamen Urbarerinnen, sicheren Stand zu bekommen. Mit einer wundervollen Freude im Herzen sah Gren hinunter in die blättrigen Tiefen des Waldes.
»Kommt«, sagte er aufmunternd. »Dies soll unser Zuhause sein, wo die Gefahr meine Wiege war, und alles, was wir gelernt haben, wird uns beschützen! Gib mir deine Hand, Yattmur.«
Gemeinsam stiegen sie hinab in die schattigen Etagen. Sie blickten nicht zurück, als der Querer langsam mit seinen Passagieren aufstieg, vom Dschungel hinauf in den grün gefleckten Himmel entschwebte und die Ehrfurcht gebietenden Blautöne des Weltalls ansteuerte.