»Ich arbeite an etwas aus Ihrem Spezialgebiet, Doc. Vergleich von schreckauslösenden Reizen. Nicht linear, niedrige Phonzahlen erzeugen stärkere Schreckreaktionen.«

»Interessant.« Aaron nähert sich behutsam durch schemenhafte Dimensionen; ein Besuch bei Ray Bustamente ist immer ein Erlebnis. »Welcher sind Sie?«

»Hier drüben.« Aaron stößt gegen eine Art verspiegelte Fläche, findet einen Weg darum herum und gelangt in eine vergleichsweise normale Umgebung. Bustamente lümmelt in seinem Liegesessel, seine entspannte Pose wirkt nicht ganz überzeugend.

»Rollen Sie den Ärmel hoch, Ray. Wir müssen das tun, das wissen Sie.«

Bustamente fügt sich murrend. Aaron wickelt die Manschette um seinen Oberarm und bewundert den ansehnlichen Bizeps. Kein Gramm Fett, auch nicht auf dem Trizeps; vielleicht beherzigt der große Mann doch hin und wieder seine Ratschläge. Aaron beobachtet die digitale Anzeige und genießt seine Gefühle für Ray und das, was er für Rays Geheimnis hält. Dieser Mann, noch so ein Unikum, ein geborener König. Real, lebendig, das Original, nicht nur die Abstraktion, wie Yellaston. Kein Mannschaftsführer wie Don oder Tim. Das archaische Leitbild, der Boss, Anführer, Häuptling, was auch immer – das menschliche Alpha-Männchen, das dich im Kampf bezwingt, dich unter den Tisch trinkt, dich niederbrüllt, dich austrickst, deine Feinde tötet, mit deiner Frau uneheliche Kinder zeugt, dich wie sein Eigentum hegt und pflegt, dir sagt, was du zu tun hast – und du tust es. Die Urgestalt des Großen Mannes, des Organisators der menschlichen Rasse, für den sie inzwischen kaum noch Verwendung hat. Vor zehn Jahren war das noch nicht erkennbar gewesen; vor zehn Jahren war Bustamente ein hoch aufgeschossener, ruhiger, junger afroamerikanischer Offizier für Schiffselektronik mit erstklassigen Studienabschlüssen und der Fähigkeit, einen Mannheim-Schaltkreis mit Boxhandschuhen einzustellen. Das war, bevor seine Schultern breiter und die Wülste über den wachsamen Augen wuchtiger wurden.

»Ich wünschte wirklich, Sie würden mal in der Krankenstation vorbeischauen, Ray«, sagt Aaron, während er die Manschette abnimmt. »Das Ding da ist nicht gerade ein Präzisionsinstrument.«

»Was zum Teufel können Sie denn tun, wenn Ihnen mein Rhythmus nicht gefällt? Mir eine von Ihren bescheuerten Pillen andrehen?«

»Vielleicht.«

»Wissen Sie, Doc, ich erreiche den Planeten. Tot oder lebendig.«

»Das werden Sie.« Aaron verstaut seine Instrumente und bewundert Bustamentes Lösung für sein Problem. Was tut ein König, der in einem Termitenbau geboren wurde und dem selbst der Termitenthron verwehrt wird? Ray hatte dieses Szenario vor Augen gehabt und seine einzige, irrwitzige Chance erkannt. Durch seine Entscheidung war er jetzt zwanzig Billionen Meilen von dem Termitenhügel entfernt, unterwegs zu einem jungfräulichen Planeten. Einem Planeten mit genügend Platz für Könige, vielleicht.

Die Konturen eines Mädchens flackern zwischen den Spiegeln auf und materialisieren sich plötzlich zu Melanie, der an ein Albino-Mäuschen erinnernden Bromelien-Expertin. In der Hand hält sie ein merkwürdiges Utensil. Aaron identifiziert es als Kochtopf.

»Wir kümmern uns um die eine oder andere primitive Kulturtechnik«, erklärt Bustamente grinsend. »Was gibt’s denn heute Abend, Mela?«

»Eine Wurzelknolle«, erwidert sie ernsthaft und streicht ihr aschfarbenes Haar zurück. »Süß, aber nicht sehr proteinhaltig, eher geeignet als Beilage für Fisch oder Fleisch. Du wirst noch dick.« Sie nickt Aaron unpersönlich zu und verschwindet wieder hinter den Bildschirmen.

»Sie gehört zu mir, verstehen Sie.« Bustamente streckt sich und lässt Aaron dabei nicht aus den Augen. »Ist die Luft dort so gut wie sie aussieht? Würden Sie Ihre Schwester fragen, ob sie gut riecht

»Ich frage sie, wenn ich heute Abend bei ihr hereinschaue.«

»Da schauen ganz schön viele herein in letzter Zeit.« Bustamente berührt plötzlich einen Schalter und ein Bildschirm, den Aaron noch nicht bemerkt hatte, springt an. Er zeigt die Aufnahme einer Deckenkamera im Büro für Kommunikationswesen. Die Gyroskopkammer dahinter ist leer. Bustamente grummelt und bewegt den Schalter; die Aufnahme springt zum Flur der Kommandobrücke, springt-springt-springt an andere Orte, die Aaron nicht identifizieren kann. Kein Mensch zu sehen. Aaron macht Stielaugen; in der Centaur ist die Reichweite von Bustamentes elektronischem Überwachungsnetz ständiger Gegenstand von Fantasiegeschichten. Anscheinend doch nicht nur Fantasien, sondern reale Verflechtungen zwischen Ray und den Wänden des Schiffes. Merkwürdigerweise nimmt Aaron ihm das nicht übel.

»Tim hat heute auch mal hereingeschaut. Nur kurz reden, hat er gesagt.« Bustamente springt zurück zur Gyroskopkammer und zoomt die verriegelte Laserkonsole heran. Die Vorführung hat einen eindeutig bedrohlichen Beigeschmack; Aaron denkt amüsiert an Frank Foys Versuch zurück, ohne Rücksprache mit dem Kommunikationsleiter einen Scanner auf Coby auszurichten.

Bustamente kichert, als könnte er seinen Gedanken lesen. »Um die Worte des ehemaligen Schwergewichts-Boxweltmeisters George Foreman zu zitieren: ›Viele Millionen sind gestürzt und gestrauchelt, als sie auf Big George trafen in dem finsteren Dschungel …‹ Pläne schmieden, Aaron, verstehen Sie? Melanie ist einer davon. Sie ist zäher, als sie aussieht, aber doch eher schwächlich. Brauche ordentliche Muskeln. Die gute alte Daniela ist meine Nummer Zwei. Meeresbiologie, kennt sich mit Fischen aus.«

Er springt zu einem anderen Bild auf dem Überwachungsschirm. Aaron erhascht einen Blick auf einen kräftigen Frauenrücken, offenbar in einer der Spielnischen im Gemeinschaftsbereich.

»Sie stellen Ihre, Ihre zukünftige Familie zusammen?« Aaron ist fasziniert davon, wie der große Mann das Leben an der Wurzel packt. Ein König, na klar.

»Ich habe nicht vor, mich in der Nähe niederzulassen, verstehen Sie, Doc.« Er blickt Aaron fest an. »Ich sollte auch über medizinisches Fachwissen verfügen. Sie bleiben sicher bei den anderen, richtig? Deshalb schätze ich, Nummer Drei ist Solange.«
»Soli?« Aaron starrt ihn an und zwingt sich, weiterzulächeln. »Aber haben Sie, ich meine, was hat sie – Ray, wir sind fast zwei Jahre von dort entfernt, vielleicht werden wir nicht mal –«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Doc. Hab nur gedacht, ich warne Sie vor. Sie können die Zeit nutzen, um Soli beizubringen, was zu tun ist, wenn Babys kommen.«

»Babys.« Aaron wird schwindlig im Kopf; dieses Wort hat man in der Centaur viele Jahre lang nicht gehört.

»Vielleicht an der Zeit, selbst ein paar Pläne zu schmieden. Niemals zu früh, wissen Sie.«

»Guter Gedanke, Ray.« Aaron bahnt sich seinen Weg durch den Dschungel aus Lichteffekten nach draußen und hofft, dass sein Lächeln nach berufsmäßiger Anerkennung aussieht und nicht nach dem erbärmlichen Grinsen von einem, dessen Gefährtin gerade vom Großen Häuptling beschlagnahmt wurde. Soli! Oh Soli, meine einzige Freude … aber das dauert noch Jahre, fast zwei Jahre, beruhigt er sich selbst. Sicher wird ihm was einfallen. Oder nicht?

Vor seinem geistigen Auge erscheint eine lächerliche Vision: in einem Feld voller riesiger Blumenkohlköpfe kämpft er gegen Bustamente. Doch die Frau, um die sie kämpfen, ist nicht Solange, begreift Aaron. Es ist Lory.

Aaron schüttelt den Kopf über sein Unterbewusstsein, geht hinauf zum Flur der Kommandobrücke und berührt die Erkennungsscheibe an Captain Yellastons Tür. Er verspürt eine wiedererwachte Dankbarkeit für die abstrakteren Formen von Führungsverständnis.

»Kommen Sie rein, Aaron.« Yellaston sitzt an seiner Konsole und feilt sich die Nägel. Er zuckt nicht einmal mit der Wimper; Aaron ist es noch nie gelungen, ihn bei einem prüfenden Blick auf seinen vollen Arztkoffer zu ertappen. Der alte Bastard weiß einfach Bescheid.

»Diese Rede war eine gute Idee, Sir«, beginnt Aaron förmlich.

»Vorläufig.« Yellaston lächelt – ein überraschend warmes, beinahe mütterliches Lächeln in dem hellhäutigen, verwitterten Gesicht. Er legt die Feile beiseite. »Es gibt ein oder zwei Dinge, die wir besprechen sollten, Aaron, falls Sie nicht in Zeitdruck sind.«

Aaron nimmt Platz und bemerkt, dass das kaum wahrnehmbare Muskelzucken an Yellastons Kinnbacken wieder aufgetaucht ist. Der einzige Hinweis auf den einsamen inneren Kampf gegen sich selbst, den Yellaston je hat erkennen lassen; seine Fähigkeit, trotz der zwangsläufig beträchtlichen Toxizität seines Zentralnervensystems zu funktionieren, ist geradezu übermenschlich. Nie wird Aaron den Tag vergessen, an dem die Centaur offiziell die Umlaufbahn von Pluto hinter sich ließ; an jenem Abend hatte Yellaston ihn zu sich beordert und ihm ohne Vorwarnung verkündet: »Doktor, ich bin daran gewöhnt, jeden Abend durchschnittlich 180 ml Alkohol zu mir zu nehmen. Das tue ich schon mein Leben lang. Für diese Reise werde ich die Menge auf 120 ml reduzieren. Sie werden mich damit versorgen.« Verblüfft hatte Aaron ihn gefragt, wie er das Auswahljahr überstanden hatte. »Ohne.« Dann war Yellastons Gesicht eingefallen, seine Augen hatten Aaron Angst gemacht. »Falls Ihnen die Mission am Herzen liegt, Doktor, werden Sie tun, was ich sage.« Das hatte Aaron, entgegen sämtlichen Grundsätzen seiner Ausbildung. Warum? Diese Frage hat er sich viele Male gestellt. Er kennt all die herkömmlichen Bezeichnungen für die Dämonen, die der alte Mann Nacht für Nacht betäuben muss. Verborgene Wahnvorstellungen, Begierden und Panikanfälle, die alle auf diese Weise gebannt werden sollen. Die Bezeichnungen gehören zu seinem Fachgebiet – aber eigentlich vermutet Aaron, dass Yellastons Dämon in Wirklichkeit etwas ganz anderes ist. Etwas, das zum Leben dazugehört, die Zeit vielleicht oder das Böse, und dafür hat er kein Heilmittel. Er betrachtet Yellaston als eine hoch komplexe Festung, die durch merkwürdige Rituale überlebt. Möglicherweise ist der Dämon inzwischen tot und die Festung leer. Doch Aaron hat es nie gewagt das Thema anzusprechen.

»Ihre Schwester ist ein äußerst tapferes Mädchen.« Yellastons Stimme klingt besonders herzlich.

»Ja, unglaublich.«

»Ich möchte sicherstellen, dass Sie wissen, wie sehr ich die wahre Größe von Dr. Kayes Heldenmut zu schätzen weiß. Das Protokoll wird das verdeutlichen. Ich empfehle sie für die Weltraumlegion.«

»Vielen Dank, Sir.« Verdrossen nimmt Aaron zur Kenntnis, dass nun auch Yellaston zu den Mitgliedern des Lory-Fan-Clubs gehört. Plötzlich fragt er sich, ob das der Beginn von einem von Yellastons Ausbrüchen ist. Es ist nur wenige Male dazu gekommen, dass die Abwehr des Eisernen Mannes zusammenbrach, doch es hat Aaron sehr zu schaffen gemacht. Das erste Mal passierte es, als sie etwa zwei Jahre unterwegs waren und Yellaston anfing, mit der jungen Alice Berryman zu plaudern. Die Plaudereien wurden zunehmend intensiver. Alice’ Augen strahlten wie Sterne. Soweit war daran nichts unmoralisch, nur rätselhaft. Alice erzählte Miriamne, dass Yellaston über seltsame strategische und philosophische Prinzipien sprach, die sie kaum verstand. Der Wendepunkt kam, als Aaron sie eines Morgens weinend antraf und in sein Büro mitschleifte, damit sie die ganze Geschichte rauslassen konnte. Er war bestürzt. Nicht Sex – schlimmer. Die ganze Nacht lang zusammenhangloses, nicht zu stoppendes Geschwätz, das immer bei der rührseligen Kindheit endete. »Wie kann er nur so, so töricht sein –?« Alle Sterne erloschen, traumatische Empörung. Papi ist tot. Aaron hatte versucht ihr zu erklären, wie ein sehr ranghoher, eigenwilliger alter Primat funktioniert; hoffnungslos. Er hatte schließlich aufgegeben und, ohne mit der Wimper zu zucken, unter Einsatz von Narkotika ihr Gedächtnis verändert: jetzt glaubte sie, sie sei betrunken gewesen. Zum Wohle der Mission … Danach hatte er über Yellaston gewacht. Es passierte noch drei Mal, in Abständen von etwa zwei Jahren. Armer Kerl, denkt Aaron; wahrscheinlich hat er sich seit seiner Kindheit nie wieder frei gefühlt. Bevor der Kampf begann. Ihn selbst hat Yellaston bis jetzt nie benutzt, um sich zu entlasten. Vielleicht schätzt er seinen Alkoholschmuggler zu sehr; wahrscheinlicher, denkt Aaron, bin ich ihm dafür einfach zu alt. Ändert sich das gerade?

»Ihr Mut und ihr Erfolg werden uns Ansporn sein.«

Wieder nickt Aaron argwöhnisch.

»Ich möchte sichergehen, dass Sie eines wissen: ich habe vollstes Vertrauen in den Bericht Ihrer Schwester.«

Sie hat ihn eingewickelt, denkt Aaron deprimiert. Oh Lory. Dann, als Yellaston schweigt, erfasst er die nervöse Anspannung und blickt auf. Worauf wird das hinauslaufen?

»Es steht zu viel auf dem Spiel, Aaron.«

»Das stimmt, Sir«, antwortet er mit grenzenloser Erleichterung. »Das sehe ich genauso.«

»Ohne irgendetwas an der Leistung Ihrer Schwester schmälern zu wollen, ist es einfach ein zu großes Risiko, sich auf die nicht durch Fakten belegte Aussage von jemandem zu verlassen. Das gilt für jeden. Wir haben keine objektiven Daten über das Schicksal der Gamma-Besatzung. Deshalb werde ich weiterhin Code Gelb zur Erde senden, nicht Code Grün, bis wir den Planeten erreichen und uns vergewissern.«

»Gott sei Dank«, entfährt es Aaron, dem Atheisten.

Yellaston sieht ihn neugierig an. Jetzt hätte Aaron Gelegenheit, über die Tighe-Sichtungen zu sprechen und über die Träume sowie seine Befürchtungen bezüglich Lory einzugestehen, auch die bezüglich außerirdischer Pflanzen mit telepathischen Fähigkeiten. Doch das ist jetzt nicht nötig, Yellaston war gar nicht eingewickelt worden, das war nur seine verschrobene Liebenswürdigkeit.

»Ich meine, ich bin ganz Ihrer Meinung … Bedeutet das, dass wir Kurs auf den Planeten nehmen, das heißt, haben Sie das entschieden, noch bevor wir das Exemplar untersuchen?«

»Ja. Unabhängig davon, was dabei rauskommt – wir haben keine Alternative. Das führt mich zum nächsten Punkt.« Yellaston hält inne. »Meine Entscheidung hinsichtlich des Signals wird vielleicht nicht die ungeteilte Zustimmung finden. Obwohl zwei Jahre eine sehr kurze Zeit sind.«

»Zwei Jahre sind eine Ewigkeit, Sir.« Aaron denkt an die geröteten Gesichter, die Stimmen; er denkt an Bustamente.

»Verständlich, dass es manchen so erscheinen mag. Ich wünschte, man könnte es abkürzen. Die Centaur hat nicht die gleiche Beschleunigung wie die Erkundungsschiffe. Um es genauer zu sagen, Aaron: einige Besatzungsmitglieder könnten das Gefühl haben, dass wir es der Heimat schuldig sind, sie so schnell wie möglich in Kenntnis zu setzen. Die Lage dort muss immer kritischer werden.«

Sie schweigen beide einen Augenblick, aus Hochachtung vor der kritischen »Lage« der Erde.

»Falls der Centaur ein Unglück zustieße, bevor wir den Planeten gegenprüfen, könnte das die Erde jeglichen Wissens über die Existenz dieses Planeten berauben, vielleicht für immer. Die Angst vor einer solchen Katastrophe dürfte einige schwer belasten. Andererseits haben wir noch keine größeren Betriebsstörungen erlebt und keinen Grund zu der Befürchtung, dass sich das ändert. Wir machen weiter wie geplant. Der entsetzlichste Irrtum, der uns unterlaufen könnte, wäre, jetzt Code Grün zu senden und dann, nachdem die Schiffe unabänderlich gestartet sind, festzustellen, dass der Planet doch unbewohnbar ist. Die Schiffe können nicht umkehren.«

Aaron begreift, dass Yellaston an ihm Teile seiner offiziellen Verlautbarung erprobt; ein Alkoholschmuggler ist vielseitig verwendbar. Aber warum nutzt er dafür nicht seine eigentlichen Berater, seine beiden Führungsoffiziere, Don und Tim? Oh, oh. Aaron beginnt zu ahnen, wer mit »einige Besatzungsmitglieder« gemeint sein könnte.

»Wir würden all diese Menschen in der Pipeline ins Verderben stürzen. Schlimmer noch, wir würden jede Hoffnung auf einen neuen Auswanderungsversuch für immer zunichtemachen. Übereiltes Handeln wäre ein Verbrechen. Die Erde vertraut auf uns. Wir dürfen nicht riskieren, sie zu enttäuschen.«

»Amen.«

Yellaston scheint kurz zu grübeln, steht abrupt auf und geht hinüber zu seinem Wandschrank. Aaron hört ein Glucksen. Der alte Mann muss sich den letzten Tropfen bis zum Eintreffen des Nachschubs aufgespart haben.

»Verdammt nochmal.« Plötzlich knallt Yellaston den Glaskolben heftig auf die Ablage. »Wir hätten niemals Frauen auf diese Mission mitnehmen sollen.«

Aaron schmunzelt unwillkürlich und denkt, da spricht die Impotenz. Er denkt auch an Soli, an Åhlstrom, an all die weibliche Kompetenz in der Centaur, an die Diskussionen über einen weiblichen Führungsstab, die schließlich mit dem Grundsatz endeten: minimale Neuerungen bei einer Mission, bei der so vieles andere ganz neu sein würde. Doch er weiß genau, was Yellaston meint.

Der Captain dreht sich um, so dass Aaron sein Glas sehen kann; eine ungewohnte Vertraulichkeit. »Wird verdammt schwierig, Doktor. Diese beiden werden die schlimmsten, die wir hier hatten. Zwei Jahre. Die Tatsache, dass wir selbst zu dem Planeten fliegen, wird für die meisten genügen, denke ich.« Wieder massiert er sich die Knöchel. »Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, Aaron, in der Zeit, die vor uns liegt, Augen und Ohren aufmerksam offen zu halten.«

Verwicklungen, Verwicklungen. Ärzte sind, genau wie Alkoholschmuggler, ebenfalls vielseitig verwendbar.

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen, Sir.«

Yellaston nickt. »Langfristig«, ergänzt er mit Nachdruck. Er und Aaron tauschen Blicke, in denen stillschweigend ihre Übereinstimmung mitschwingt, Francis Xavier Foy da rauszuhalten.

»Ich werde mein Bestes tun«, verspricht Aaron; ihm ist sein Plan für eine allgemeine Vorsorgeuntersuchung wieder eingefallen, vielleicht kann er die Erinnerungs-Projektions-Sitzung nutzen, um etwaige Probleme zu erkennen.

»Gut. Also, morgen untersuchen wir dieses Exemplar. Ich würde gern Ihre Planung dazu hören.« Yellaston kehrt zu seiner Konsole zurück, ohne Glas, und Aaron gibt ihm einen kurzen Überblick über seine Absprachen mit dem Leiter der Xenobiologie.

»Die gesamte Erstuntersuchung wird in situ stattfinden, richtig?«, schließt Aaron und ist sich bewusst, dass der situ des Aliens gerade direkt zu seiner Linken liegt. »Nichts gelangt ins Schiff?«

»Richtig.«

»Ich hätte gern eine Vollmacht, das durchzusetzen. Und Wachen auch an den Zugängen zum Korridor.«

»Die Vollmacht haben Sie, Doktor. Die Wachen bekommen Sie.«

»Schön.« Aaron massiert sich den Nacken. »Es gab da ein paar, äh, nennen wir sie psychologische Reaktionen auf das Alien, denen ich gerade nachgehe. Nichts Ernstes, glaube ich. Hatten Sie beispielsweise manchmal den Eindruck, es lokalisieren zu können, das Alien, meine ich? Körperlich wahrzunehmen, wo sich das Ding gerade befindet?«

Yellaston lacht in sich hinein. »Aber ja, in der Tat, das habe ich. Genau nördlich, dort drüben.« Er zeigt nach oben, rechts über Aaron. »Ist das aussagekräftig, Doktor?«

Aaron lächelt erleichtert. »Ja, für mich schon. Es sagt aus, dass meine eigene Orientierung auch nach zehn Jahren noch nicht besser geworden ist.« Er nimmt seinen Koffer und geht hinüber zu Yellastons Schränken. »Ich dachte, das Ding wäre dort unter Ihrer Koje.« Unauffällig ersetzt er die leeren Glaskolben durch volle und stellt fest, dass dieser Drink tatsächlich Yellastons letzter Schluck gewesen ist.

»Überbringen Sie Ihrer Schwester meine persönlichen Grüße, Aaron. Und vergessen Sie nicht.«

»Ich werde dran denken, Captain.«

Seltsam bewegt verlässt Aaron den Raum. Er weiß, dass er sich ernsthaft Gedanken machen muss; falls Don oder Tim beschließen zu rebellieren, was zum Teufel kann Dr. Aaron Kaye schon dagegen tun? Doch er ist bester Laune. Der alte Mann hat Lorys Geschichte nicht unbesehen geschluckt, er wird nichts überstürzen. Papi wird uns vor dem Riesenblumenkohl retten. Ich sollte wirklich mal ein bisschen Sport treiben, überlegt Aaron und trabt die Rampe abwärts zu einem der langen Korridore an der Außenhülle des Schiffes. Es gibt zwischen Bug und Heck insgesamt sechs von diesen Blasen; sie umschließen die Andockplätze für die drei großen Erkundungsschiffe. Die Schwerkraft ist stark hier unten, sogar leicht über dem Normalwert der Erde, und die Leute nutzen die langen Röhren für Spiele und sportliche Übungen – ein weiteres nützliches Element des Programms, denkt Aaron anerkennend. Er kommt in Korridor Beta heraus, nach dem Don Purcells Erkundungsschiff benannt ist. Dons Beta hieß lange Zeit nur Bestie, wie in faschistisch-imperialistische Bestie, ein Centaur-Scherz der frühen Jahre, damals hatten sie Tims Alpha ähnlich umgetauft in Atheistischer Bastard. Kuhs Gamma wurde nur zur China Flower – der Blume, die jetzt an ihrem Stiel hängt, mitsamt ihrer geheimnisvollen Fracht.

Dieser Korridor ist identisch mit dem in Gamma, wo das Alien morgen untersucht werden soll. Aaron kämpft sich mit großen Schritten vorwärts und genießt die geballte Schwerkraft, während er die Zugangstore zählt, die bewacht werden müssen. Es sind vierzehn, mehr, als er gedacht hat. Aus dem gesamten Schiff führen Rampen hier herunter – die Erkundungsschiffe dienen gleichzeitig als Rettungsboote. Der Korridor ist so lang, dass das hintere Ende nur schemenhaft zu erkennen ist. Aaron bildet sich ein, ein Kältegefühl unter den Fußsohlen zu spüren. Das muss man sich mal vorstellen, er befindet sich in einem Sternenschiff! Eine Fliege, die an der Wand einer rotierenden Konservendose herumkrabbelt, mitten im Weltraum: Da sind Sonnen unter meinen Füßen.

Aaron erinnert sich an Szenen, die sich während der Feierlichkeiten vor drei Jahren in diesen Korridoren abspielten, bevor die Erkundungsschiffe starteten, um die Sonnen des Zentauren auszukundschaften. Und an die traurigen Rückkehrer vor vier Monaten, als zuerst Don und dann Tim hier ankamen und nur von Methan und Felsgestein berichten konnten. Werden die Bestie und der Bastard uns bald auf Lorys Planeten absetzen? – Ich meine, in zwei Jahren, und es ist Kuhs Planet, verbessert sich Aaron, so in Gedanken versunken, dass er blindlings von hinten in Don Purcell hineinläuft, der gerade rückwärts aus der Beta-Kommandoschleuse heraustritt.

»Alles bereit, um uns abzusetzen, Don?«

Don lächelt nur, das ruhige Allzwecklächeln, das er nach Aarons Dafürhalten nicht einmal ablegen würde, wenn er in Flammen stünde. Nicht leicht, ein solches Lächeln zu ergründen, falls Don wirklich, naja, abtrünnig wäre. Er wirkt nicht wie ein Meuterer. Schwer vorstellbar, dass er einen Angriff auf Rays Gyroskope anführen könnte. Er sieht aus wie ein rechtschaffener Mann, ein wahrer Enthusiast. Genau wie Tim. Kuh war von der gleichen Sorte, durch und durch auf Draht. Der Genotyp, dem wir es zu verdanken haben, dass wir jetzt hier sind, Hochleistungsträger der menschlichen Rasse.

Aaron verschwindet die Rampe hinauf, die zu Lorys Unterkunft führt, und stellt sich dabei vor, wie Don und die Erkundungsschiffe, wie sie alle sich auf dem Planeten breitmachen, in dieser sanften Welt voller Blumen. Wie sie ausschwärmen, eine neue Erde zu erschaffen. Werden sie dort Kuhs Siedlung vorfinden oder nur stumme Knochen? Aber die Freiheit, der Aufbau … und dann, dann kommt die Flotte von der Erde. Fünfzehn Jahre, das ist alles, was uns bleibt, denkt Aaron, vorausgesetzt, wir senden das Grüne Signal erst nach unserer Landung. Fünfzehn Jahre. Dann werden die ersten Auswanderungsschiffe eintreffen, die – wie hat Yellaston das genannt – die Pipeline. Typisch anale Symbolik. Die Pipeline scheidet die Exkremente der Erde aus, über Lichtjahre hinweg. Natürlich zuerst Techniker, lebenswichtige Gerätschaften, Landwirtschaft. Siedler vom Typ der frühen Pioniere. Und dann ziemlich bald Leute vom Typ Otto-Normalverbraucher, Verwaltungskräfte, Familien, Politiker – ganze Industrien und Nationen, die durch die Pipeline auf diese jungfräuliche Welt herniederwirbeln. Sie bedecken, sich ausbreiten. Was wird dann aus Bustamente? Was aus ihm und Lory?

Inzwischen ist er an Lorys Tür angekommen, der Wohnbereich ist endlich leer.

Als Lory aufmacht, stellt Aaron zufrieden fest, dass sie nichts Mysteriöseres tut, als sich die Haare zu bürsten; sie zieht die uralte, hygienische schwarze Bürste durch ihre kupferfarbenen Locken, in denen sich ein erster Hauch von Grau zeigt, ein hübscher Effekt, wirklich. Lory bittet ihn herein, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen; vermutlich zählt sie.

»Der Captain schickt dir seine persönlichen Grüße.« Beim Hinsetzen kommt ihm der Gedanke, Foy könnte ihr Zimmer verwanzt haben. Nichts Visuelles allerdings. Nicht Foy.

»Vielen Dank, Arn … siebzig … Auch persönliche Grüße von dir?«

»Von mir auch. Du musst müde sein, ich habe gesehen, dass du Besuch hattest. Hab vorher schon mal vorbeigeschaut.«

»Fünfundsiebzig … Alle wollen was darüber hören, es bedeutet so viel für sie.«

»Ja. Übrigens, ich habe dein Taktgefühl für unseren rauflustigen Chinesen bewundert. Wusste gar nicht, dass du dazu fähig bist, Schwesterchen.«

Lory bürstet stärker. »Ich wollte es nicht verderben. Sie – sie haben sowieso damit aufgehört. So.« Sie legt die Bürste beiseite und lächelt. »Es ist ein so friedlicher Ort, Arn. Ich glaube, wir könnten dort wirklich ganz anders leben. Ohne Gewalt und Hass und Habgier. Oh, ich weiß genau, wie du – ich jedenfalls habe dort genau das gespürt.«

Ihr unbeschwerter Tonfall täuscht ihn nicht. Lory, das Kind aus dem verlorenen Paradies, in das es irgendwann zurückzukehren trachtet. Dieser Blick in ihren Augen, sie könnte die junge Jeanne spielen, die den Dauphin an die Heilige Sache erinnert. Aaron verspürte schon von jeher eine schuldbewusste Sympathie für den Dauphin.

»Es wird immer Böses geben, Lor, solange es Menschen gibt. Trotzdem, die Menschen sind nicht so verkommen. Sieh uns hier an.«

»Hier? Schau dich doch um, Arn. Sechzig handverlesene, indoktrinierte Exemplare. Sind wir wirklich gut? Gehen wir wenigstens freundlich miteinander um? Ich spüre die – die Brutalität darunter, die nur darauf wartet, loszubrechen. Gestern hat es hier sogar einen Kampf gegeben. Hier.«

Woher weiß sie das denn schon wieder?

»Alle stehen unter verdammt großem Druck, Lor. Wir sind auch nur Menschen.«

»Menschen müssen sich ändern.«

»Herrgott nochmal, wir müssen uns nicht ändern. Nicht grundsätzlich, meine ich«, fügt er schuldbewusst hinzu. Warum tut sie mir das an? Immer bringt sie mich dazu, das zu verteidigen, was ich genauso verabscheue wie sie. Sie hat Recht, wirklich, aber, aber – »Du könntest wenigstens versuchen, die Leute so zu mögen, wie sie sind – das wurde uns dringend empfohlen«, sagt er wütend und hasst seinen salbungsvollen Ton.

Lory seufzt und ordnet die spärlichen Gegenstände auf ihrer Ablage. Ihr Raum erinnert an eine Zelle. »Warum benutzen wir eigentlich das Wort menschlich für den animalischen Anteil in uns, Arn? Aggression – das ist menschlich. Grausamkeit, Hass, Habgier – alles menschlich. Aber genau das ist eben nicht menschlich, Arn. Es ist so traurig. Um wirklich Menschen zu sein, müssen wir das alles überwinden. Warum können wir es nicht versuchen?«

»Das tun wir doch, Lor. Das tun wir.«

»Ihr würdet diese neue Welt in eine Hölle verwandeln, genau wie die Erde.«

Aaron kann nur seufzen, ihr insgeheim zustimmen, sich ebenfalls an die furchtbare Zeit erinnern, nach dem Tod ihrer Eltern, als Lory sechzehn war … Ihr Vater war Lieutenant-General gewesen, sie waren sehr behütet aufgewachsen, leistungsorientiert erzogen in den ausgezeichneten Schulen der Armee-Enklaven. Lory war ganz in ihr Biologieprogramm vertieft, als der Unfall sie zu Waisen machte. Plötzlich hatte sie um sich geschaut und die Welt da draußen erblickt – und das Nächste, woran sich Aaron erinnert, war, dass er sie mitten in der Nacht aus einem Untersuchungsgefängnis in Cleveland herausholte. Der Dienststelle im Ghetto war ihr Armeekennschild aufgefallen.

»Oh, Arn«, hatte sie sich auf dem Heimflug im Helikopter weinend beklagt. »Das ist nicht gerecht! Es ist nicht gerecht!« Ihr Gesicht war fleckig und wund, wo das Gas sie erwischt hatte, er konnte nicht hinsehen.

»Lor, das ist eine Nummer zu groß für dich. Ich weiß, dass es nicht gerecht ist. Aber hier geht es nicht um ein Tierheim auf Ogilvy Island. Begreifst du nicht, dass du eine Gehirnoperation riskierst?«

»Genau das meine ich ja, sie tun den Menschen ekelhafte Dinge an. Das ist doch nicht gerecht.«

»Du kannst nichts dagegen tun«, fuhr er sie gequält an. »Politik ist die Kunst des Möglichen. Das ist nicht möglich, du wirst dabei nur umkommen.«

»Woher wissen wir, was möglich ist, wenn wir es nicht versuchen?«

Oh Gott, das darauffolgende Jahr. Der Name ihres Vaters hatte etwas geholfen, Glück hatte noch etwas mehr geholfen. Was sie am Ende wahrscheinlich rettete, war ihre eigene kompromisslose Unschuld. Er hatte sie schließlich in einem Schuppen hinter einer Leichenhalle aufgespürt, im Barrio, dem alten hispanischen Viertel in Dallas; ausgemergelt, zitternd und kaum in der Lage zu sprechen.

»Arn, oh – sie –«, winselte Lory, während Aaron Erbrochenes von ihrem Kinn wischte. »Dave hat sich geweigert, Vicky zu helfen, er – er will, dass er geschnappt wird … Damit er selbst Anführer sein kann … Er lässt nicht zu, dass wir ihm helfen.«

»Ich glaube, sowas kommt vor, Lor.« Er hielt ihre mageren Schultern und versuchte, das Zittern zu stoppen. »So etwas passiert, wir sind alle nur Menschen.«

»Nein!« Lory zuckte heftig vor ihm zurück. »Das ist schrecklich. Es ist schrecklich. Sie – wir haben uns gegenseitig bekämpft, Arn. Um die Macht gekämpft. Dave will sogar seine Frau, glaube ich – sie haben sich geschlagen. Sie, sie wurde nur als Eigentum betrachtet.«

Lory erbrach den Rest der Suppe, die er ihr geholt hatte.

»Als ich das sagte, haben sie mich rausgeworfen.«

Aaron hielt sie hilflos in den Armen und dachte dabei, Lorys neue Freunde können ihren Ansprüchen genauso wenig gerecht werden wie ich. Gott sei Dank.

»Arn«, flüsterte sie. »Vicky … er hat Geld gestohlen. Ich weiß …«

»Lor, komm jetzt mit nach Hause. Ich habe alles geregelt, du kannst immer noch die Prüfung machen, wenn du jetzt mitkommst.«

»… In Ordnung.«

Aaron schüttelt den Kopf, jetzt, in der Centaur, zwanzig Billionen Meilen von Dallas entfernt, als er denselben leidenschaftlichen Ausdruck im Gesicht seiner kleinen Schwester erkennt. Seiner kleinen Schwester, die inzwischen graue Haare bekommt und die vom Schicksal auserkoren wurde als ihre einzige Verbindung zu dem Planeten – und zu dem Ding da draußen.

»Okay, Lor.« Er steht auf und dreht sie um, so dass sie ihn ansehen muss. »Ich kenne dich. Was zum Teufel ist auf dem Planeten passiert? Was vertuschst du?«

»Nichts, Arn, wirklich. Außer dem, was ich euch erzählt habe. Was ist nur los mit dir?«

Tut sie allzu unschuldig? Er misstraut allem und jedem, weiß es einfach nicht.

»Bitte lass mich los.«

In dem Bewusstsein, dass Foys fragwürdige Ohren mithören könnten, tritt er zurück. Das würde alles völlig verrückt klingen.

»Merkst du eigentlich, dass das hier keine Spielchen sind, Lor? Unser aller Leben hängt davon ab. Das Leben von realen Menschen, so sehr du die Menschheit auch verabscheust. Mit sowas spielt man nicht.«

»Ich verabscheue die Menschheit nicht, ich verabscheue nur manches von dem, was Menschen tun. Ich würde doch niemandem wehtun, Arn.«

»Du würdest neunzig Prozent der Rasse auslöschen, um deine Utopie zu verwirklichen.«

»Wie kannst du nur so etwas Schreckliches sagen!«

Lorys Gesicht ist voller Inbrunst, Aaron verzehrt sich nach ihr. Auch der Großinquisitor Torquemada hat versucht, den Menschen zu helfen.

»Lor, gib mir dein Wort, dass mit Kuh und seinen Leuten wirklich alles in Ordnung ist. Dein Ehrenwort.«

»Es ist alles in Ordnung, Arn. Ich gebe dir mein Wort. Alles prima.«

»Zum Teufel mit prima. Ist gesundheitlich alles in Ordnung bei ihnen?«

»Selbstverständlich.«

Ihre Augen haben nach wie vor diesen Ausdruck, doch ihm fällt nichts ein, was er noch versuchen könnte. Gelobt sei Yellastons Besonnenheit.

Lory greift nach ihm, ihre schmale Hand brennt auf seiner. »Du wirst schon sehen, Arn. Ist es nicht wunderbar, dass wir zusammen sein werden? Das hat mich durchhalten lassen, den ganzen Rückweg über. Ich werde morgen dabei sein, wenn wir es untersuchen.«

»Oh nein!«

»Jan Ing will mich dabeihaben. Du hast gesagt, ich sei wieder fit, aus ärztlicher Sicht. Und ich bin seine leitende Botanikerin, schon vergessen?« Lory lächelt spitzbübisch.

»Ich halte das für keine gute Idee, Lor. Deine Geschwüre.«

»Untätig abzuwarten wäre noch schlimmer für sie.« Sie wird ernst und packt ihn am Arm. »Captain Yellaston – er wird doch Grün senden, oder nicht?«

»Frag ihn selbst. Ich bin nur der Arzt.«

»Wie traurig. Na gut, er wird schon sehen. Ihr werdet alle sehen.« Sie tätschelt ihm den Arm und wendet sich ab.

»Was werden wir sehen?«

»Wie harmlos es ist, natürlich … Hör zu, Arn. Das stammt aus einem alten Buch, der Märtyrer Robert Kennedy hat es zitiert, bevor er getötet wurde. ›Die Wildheit des Menschen zu zähmen, um das Leben auf der Welt freundlicher zu gestalten‹ … Ist das nicht schön?«

»Ja, das ist schön, Lor.«

Nicht im Mindesten beruhigt geht Aaron davon und denkt, das Leben in dieser Welt ist nicht freundlich, Lory. Es war auch nicht Freundlichkeit, die dich hierhergebracht hat. Es waren die Triebe von ganz und gar nicht freundlichen, verzweifelten Menschenaffen auf ihrer Jagd nach Ruhm. Von der fehlbaren Menschheit, die du irgendwie nicht begreifen kannst …

Aaron bemerkt, dass er einen Weg durch den zentralen Gemeinschaftsbereich eingeschlagen hat. Unter den ausgestellten Fotos sind die allabendlichen Bridge- und Pokerspiele im Gange, wie immer, doch weder Don noch Tim sind zu sehen. Schon fast außer Hörweite schnappt er gerade noch auf, wie der israelische Physiker seinen Einsatz ausruft; hört sich an wie eine Insel. Eine Insel? Er steigt hinauf zur Krankenstation und hofft, dass er sich verhört hat.

Solange erwartet ihn mit ihrem medizinischen Logbuch. Während sein Kopf auf ihrem warmen Busen ruht, leiert er die Werte von Ray und Bachi herunter und erinnert sich, dass er noch ein ganz anderes Problem hat. Vergiss es, sagt er sich, ich habe noch zwei Jahre Zeit, mir wegen Bustamente den Kopf zu zerbrechen.

»Soli, morgen möchte ich im ganzen Untersuchungsbereich Dekontaminationsbehälter aufstellen. Mit dem Auslöser bei meinem Posten. Sagen wir, ein richtig starkes Pflanzenvernichtungsmittel plus ein Pilzbekämpfungsmittel auf Quecksilberbasis. Was soll ich vom Lager besorgen?«

»Dekon Sieben ist am stärksten, Aaron. Aber man kann es nicht mischen, wir werden viele Behälter aufstellen müssen.« Auf ihrem Gesicht spiegeln sich Mitleid für die hypothetisch zu tötenden Pflanzen sowie Sorge um die Besatzung.

»Gut, dann stellen wir eben viele Behälter auf. Alles, was die Schutzanzüge aushalten. Ich traue diesem Ding nicht.«

Soli kommt in seine Arme und hält ihn mit ihren starken kleinen Händen. Frieden, Geborgenheit. Um das Leben auf der Welt freundlicher zu gestalten. Sein Körper hat Solange schmerzlich vermisst und veranschaulicht das mit einer außergewöhnlichen Erektion. Soli kichert. Verliebt streichelt er sie und hat das erste Mal seit Wochen das Gefühl, wieder er selbst zu sein. Betrachte ich dich als mein Eigentum, Soli? Sicher nicht … Die Vorstellung, wie Bustamentes riesiger Körper auf ihr liegt, schießt ihm durch den Kopf; seine Erektion nimmt deutlich zu. Vielleicht muss der große schwarze Bruder seine Pläne noch mal ändern, denkt Aaron übermütig und stolpert mit Solange zu seiner bequemen, behaglichen Koje. Zwei Jahre sind eine lange Zeit…

Mit Solis warmen Hinterbacken in seinen Schoß geschmiegt driftet Aaron in den Schlaf und erlebt eine unbestimmte, beinahe witzige hypnagoge Halluzination: das Gesicht von Tighe, groß wie die Wand, bekränzt mit Früchten und Blumen wie eine italienische Baby-Gedenkplakette. Die rosa und grünen Blumen bimmeln, Elfenhörner erklingen. Tam Tara! Zentripetale Melodien. Tam Tara! Tara! TARA!

– und Feenhörner verwandeln sich in sein ärztliches Alarmsignal, während Soli ihn wachrüttelt. Der Notruf kommt von der Brücke.

Aaron springt aus dem Bett und in seine Shorts, rennt mit einer Schulter gegen die Türöffnung und »hinauf« zum Freifallschacht. Irgendwie ist der Arztkoffer in seiner Hand gelandet. Er hat keine Ahnung, wie spät es ist. Der Gedanke, Yellaston könnte einen Herzanfall erlitten haben, erschreckt ihn zu Tode. Oh Gott, was werden sie ohne Yellaston bloß machen?

Er stößt sich ab, schwebt und greift ungeschickt wie ein dreibeiniger Affe um sich, umklammert den Koffer und ist so damit beschäftigt, im Geiste alternative Behandlungsmöglichkeiten durchzugehen, dass er die Stimmen aus dem Kommunikationskorridor beinahe überhört. Er steuert auf den Zugang zu, kommt wieder auf die Füße und hastet den Korridor »hinunter«, noch immer derart in Gedanken versunken, dass er die dunklen Säulen auf der Schwelle zum Kommunikationsbereich im ersten Augenblick nicht erkennt. Es handelt sich um Bustamentes Beine.

Aaron drängt sich an ihm vorbei, ihn erwartet ein schrecklicher Anblick. Commander Timofaev Bron hängt in Bustamentes Klammergriff, sein linkes Auge blutet stark.

»Schon gut, schon gut«, murmelt Tim. Bustamente schüttelt ihn.

»Was zum Teufel hat dieser Stromabfall zu bedeuten?« Don Purcell tritt hinter Aaron ein.

»Dieser Rotzlümmel hat gesendet«, knurrt Bustamente böse. »Scheißefresser, ich war zu langsam. Auf meinem Strahl hat er gesendet.« Er schüttelt den Russen erneut.

»Schon gut«, wiederholt Tim emotionslos. »Es ist vollbracht.«

Das Blut schießt aus einer Platzwunde oberhalb der Augenhöhle. Aaron befreit Tim aus Bustamentes Griff und setzt ihn mit zurückgelegtem Kopf auf einen Stuhl, um die Wunde zu klammern. Als er gerade den Arztkoffer öffnet, tritt zögernd eine Gestalt durch die Verbindungstür zur Astro-Navigation: Captain Yellaston.

»Sir –« Aaron denkt noch immer verwirrt an einen Herzinfarkt. Dann wird ihm allmählich Yellastons merkwürdige Steifheit bewusst. Oh Gott, nein. Der Mann ist nicht krank, sondern voll bis zum Stehkragen.

Bustamente öffnet mit einem Ruck das Gyroskopgehäuse. Ein gewaltiges Summen erfüllt den Raum.

»Ich habe den Strahl nicht beschädigt«, erklärt Tim unter Aarons Händen. »Gewisses Zubehör wurde mitinstalliert, als wir die Anlage aufbauten; Sie haben nicht genau genug darauf geachtet.«

»Scheißkerl«, schimpft Don Purcell.

»Was meinen Sie mit Zubehör?« Bustamentes Stimme wird lauter, in schöner Eintracht mit dem präzedierenden Gyroskop. »Was hast du getan, du Held der Lüfte?«

»Man hat mich nicht hergeschickt, um abzuwarten. Wir haben den Planeten doch jetzt gefunden.«

Aaron beobachtet, wie Captain Yellastons Lippen sich mühsam bewegen, schließlich eigenartig spitz wirken. »Sie haben angedeutet …«, sagt er in unheimlichem Ton, »Sie haben angedeutet … heißt das, Sie haben es vorweggenommen, das Grüne …«

Die anderen starren den Captain an und schauen einer nach dem anderen wieder weg. Aaron ist wie betäubt von unerträglichem Mitgefühl, das Geschehene ist so schrecklich, dass es wahrscheinlich gar nicht wahr sein kann.

»Scheißkerl«, wiederholt Don Purcell in neutralem Tonfall.

Das Grüne Signal wurde gesendet, begreift Aaron. An die Russen jedenfalls, aber alle werden es erfahren, alle werden starten. Es ist vorbei, er hat uns festgenagelt, egal, ob der Planet sich eignet oder nicht. Oh Gott, Yellaston – er hat es vorausgesehen, wäre er nur jünger, hätte er nur schneller gehandelt – wäre nicht sein halbes Gehirn in Alkohol aufgelöst. Und den habe ich ihm besorgt.

Automatisch haben Aarons Hände ihre Arbeit getan. Der Russe erhebt sich. Don Purcell ist gegangen, Bustamente untersucht die Gyroskopkammer eingehend mit einem Resonator und würdigt Tim keines Blickes. Yellaston steht noch immer stocksteif im Schatten.

»Es befand sich in der Abschirmung des Schiffsrumpfs«, sagt Tim zu Bustamente. »Der Kontakt liegt unter der Umschaltvorrichtung. Keine Sorge, es funktioniert nur einmal.«

Aaron folgt ihm nach draußen, unfähig zu glauben, was er gerade erlebt hat. Lieutenant Pauli wartet vor der Tür; sie muss auch darin verwickelt sein.

»Tim, wie konnten Sie so verdammt sicher sein? Vielleicht haben Sie alle in den Tod gerissen.«

Der Kosmonaut blickt ruhig zu ihm hinunter, einäugig. »Die Protokolle lügen nicht. Sie genügen, wir werden nichts anderes finden. Der alte Mann hätte noch ewig gewartet.« Er lacht in sich hinein, einen Traumplaneten vor Augen.

Aaron geht wieder zurück und führt Yellaston in seine Unterkunft. Der Arm des Captains zittert leicht. Auch Aaron zittert, vor Mitleid und Empörung. Der alte Mann, hat Tim ihn genannt. Der alte Mann … Schlagartig begreift er das ganze Ausmaß der verhängnisvollen Ereignisse dieser Nacht.

Zwei Jahre. Zum Teufel mit dem Planeten, vielleicht werden sie niemals dort ankommen. Zwei Jahre in dieser Blechbüchse, mit einem Captain, der versagt hat, einem alten Mann, den man wegen seiner Trunksucht verspottet? Keiner mehr da, der uns zusammenhält, wie Yellaston es in jenen unerträglichen Wochen getan hat, als der Sauerstoff knapp wurde und Panik sie alle zu überwältigen drohte. Er hat damals so großartig reagiert, so einwandfrei. Jetzt hat er zugelassen, dass Tim ihm die Sache aus der Hand nimmt, er hat alles verpatzt. Einigkeit wird es nicht mehr geben, nicht nach diesem Vorfall. Und es wird noch schlimmer. Zwei Jahre

»Im … Arsch«, flüstert Yellaston mit tragischer Würde und lässt sich von Aaron aufs Bett legen. »Im … Arsch… mein Fehler.«

»Morgen früh«, beruhigt ihn Aaron, und ihm graut bei dem Gedanken. »Vielleicht findet Ray eine Möglichkeit.«

»…«

Hoffnungslos macht sich Aaron auf den Weg zu seiner Koje. Er weiß, dass er keinen Schlaf finden wird. Zwei Jahre

 

 

 

III

 

 

 

Stille … Grelle, klinische Leere, wolkenlos, tränenlos. Horizont, Unendlichkeit. Irgendwo steigen Worte auf, vielsagendes Schweigen: ICH BIN DER GEMAHL. Ton löschen. Aaron, unsichtbar und in Mikrobengröße, erblickt auf dem Grund der Unendlichkeit eine sehr schön geäderte silberne Membran, jetzt erkennbar als die Vorhaut eines Jungen, die er bei seiner ersten Operation entfernt hat …

Inzwischen beinahe wach, in Embryonalstellung; etwas Schreckliches erwartet ihn, sobald er richtig wach wird. Er versucht, sich wieder in den Traum zu wühlen, doch eine Hand hindert ihn daran, schubst ihn zurück ins Bewusstsein.

Aaron öffnet die Augen und erblickt Coby, der ihm ein heißes Getränk hinhält; ein sehr schlechtes Zeichen.

»Sie wissen Bescheid wegen Tim.« Aaron nickt und trinkt dabei ungeschickt in kleinen Schlucken.

»Sie haben aber noch nichts von der Geschichte mit Don Purcell gehört. Ich habe Sie nicht geweckt. Keine medizinische Angelegenheit.«

»Was ist mit Don Purcell? Was ist passiert?«

»Machen Sie sich auf was gefasst, Chef.«

»Um Himmels willen, kommen Sie zur Sache, Bill.«

»Na gut, gegen null-dreihundert lief so ein Beben durch den Schiffsrumpf. Ist auf sämtlichen Aufzeichnungen von Tighe zu sehen. Ich hab überall angerufen, große Aufregung, schließlich erfuhr ich, was los war. Scheint, dass Don sein Erkundungsschiff losgeschickt hat, mit automatischer Steuerung. Es enthält einen vollständigen Satz von Bändern, Protokollen und allem, was er in die Finger kriegen konnte. Über den Planeten, verstehen Sie? Man sagt, es kann bei entsprechender Geschwindigkeit ein Signal zur Erde durchbringen.«

»Aber Don, ist Don da drin?«

»Niemand ist drin. Es ist auf Autopilot geschaltet. Auch die Bestie verfügt über diverse Spezialvorrichtungen, unsere Leute müssen irgendwo hier oben ein neues Ohr haben. Mars, habe ich gehört.«

»Gott im Himmel…« So schnell kanns gehen, denkt Aaron. Woher bezieht Coby eigentlich seine Informationen; wenn was passiert, weiß er immer Bescheid. Dann erkennt er die versteckte Anzüglichkeit hinter Cobys Grinsen; das ist es, was er kann: dieses erbärmliche Anbiedern.

»Danke, Bill.« Aaron steht mühsam auf. Zuerst Tim und jetzt Don – Kriegsspiele auf der Centaur. Alles gescheitert, vorbei.

»Die Dinge entwickeln sich zu schnell für den alten Mann.« Coby lehnt sich vertraulich gegen Aarons Koje. »Das hat auch was Gutes. Wir brauchen eine realitätsnahe politische Organisationsform. Diese Großer-Führer-Masche, er ist doch erledigt. Oh, wir können ihn als Aushängeschild behalten … Don und Tim kommen auch nicht in Frage, vorerst jedenfalls nicht. Als Erstes müssen wir einen Arbeitsausschuss wählen.«

»Sie sind verrückt, Bill. Man kann ein Schiff nicht mit einem Ausschuss kommandieren. Wir werden uns umbringen, wenn wir hier mit Politik anfangen.«

»Wollen wir wetten?« Coby grinst. »Sie werden einige Veränderungen erleben, Chef.«

Aaron lässt sich Wasser über den Kopf laufen, um die Stimme zum Schweigen zu bringen. Wahlen, zwei Jahre vom Nirgendwo entfernt? Das würde bedeuten, das russische Lager, das amerikanische Lager, die Dritte- und Vierte-Welt-Fraktion; Wissenschaftler gegen Humanisten gegen Techniker gegen Ökologen gegen Theisten gegen Smithiten – alle Interessengruppen der Erde in einem zerbrechlichen Schiff. In welcher Verfassung werden wir sein, wenn wir den Planeten erreichen, falls wir überhaupt so lange leben? Und jede Kolonie, die wir aufbauen – Oh, verdammt sei Yellaston, verdammt sei ich –

»Vollversammlung um elfhundert«, sagt Coby gerade. »Und übrigens, Tighe ist letzte Nacht tatsächlich etwa zwanzig Minuten herumgelaufen. Mein Fehler, ich gebe es zu, ich hatte vergessen, dass seine Isolierzelle nicht mehr verplombt war. Nichts Schlimmes passiert. Ich habe ihn sofort zurückgebracht.«

»Wo war er?«

»Wie immer. An der Luke, wo die China lag.«

»Nehmen Sie ihn mit zur Versammlung«, stößt Aaron spontan hervor, als Strafe für alle.

Er geht zum Frühstück hinaus und versucht, das bleierne Gefühl abzuschütteln, dass er etwas verschlafen hat und dass eine Katastrophe bevorsteht. Ihm graut vor der Versammlung, ihm graut davor. Der arme alte Yellaston, wie er sich vergeblich bemüht, seine Entgleisung zu bemänteln und das Gesicht zu wahren. Ein Aushängeschild. Das wird er nicht verkraften, er wird in tiefe Depression verfallen. Aaron zwingt sich, Tighes Bänder durchzusehen, um auf andere Gedanken zu kommen.

Tighes Daten haben sich verschlechtert, die Vitalwerte sind wieder um fünf Punkte gesunken, sogar noch vor der zwanzig-Minuten-Lücke. Seine ZNS-Funktionen sind auch nicht mehr synchron, ein Effekt, den Aaron bei einem ambulanten Patienten noch nie beobachtet hat, schon gar nicht bei einem so koordinierten wie Tighe. Merkwürdig … Muss ich mir genauer ansehen, denkt Aaron lustlos. Unsere Kurven laufen alle nicht mehr synchron, wir verlieren den Zusammenhalt. Yellaston war unser Schrittmacher. Können wir es ohne ihn schaffen? … Bin ich ihm genauso hörig wie Foy?

Es wird Zeit für die Versammlung. Aaron trottet hinunter zum Gemeinschaftsbereich, krank vor Mitleid und Grauen; es widerstrebt ihm so sehr, zuzuhören, dass er das Wunder zunächst gar nicht zur Kenntnis nimmt: Es gibt nichts zu bemitleiden. Der Yellaston, der da vor ihm steht, aufrecht und mit dem Charisma eines Führers, ist vielmehr gerade dabei, mit fester Stimme zu verkünden, dass der offizielle Grüne Code der Centaur für die Alpha-Sonne um null-fünfhundert am Morgen zur Erde gesendet wurde.

Was?

»Wie einige von Ihnen bereits wissen«, erklärt Yellaston freundlich, »haben auch unsere beiden Erkundungs-Commander unabhängig voneinander die Initiative ergriffen und ihren jeweiligen terrestrischen Regierungen entsprechende Botschaften geschickt. Ich möchte betonen, dass sie mit ihrer Handlungsweise Sonderbefehle befolgten, die sie vor der Einschiffung von ihren Vorgesetzten erhalten hatten. Wir alle bedauern – wir, die wir hier für diese Mission miteinander verbunden sind, haben das immer bedauert –, dass die Vereinten Nationen der Erde, die unsere Mission unterstützt haben, zum Zeitpunkt unseres Starts keine wirklich geschlossene Einheit bildeten. Wir dürfen hoffen, dass das inzwischen der Fall ist. Aber das alles gehört der Vergangenheit an und hat keinerlei Bedeutung für uns, da es aus Spannungen in einer Welt resultiert, die wohl keiner von uns je wieder besuchen wird. Ich möchte damit sagen, dass sowohl Tim Bron als auch Don Purcell –« Yellaston deutet ein kaum erkennbares väterliches Nicken in Richtung der beiden Commander an, die, abgesehen von Tims verbundenem Auge, wie gewöhnlich zu seiner Linken sitzen, »– gewissenhaft ihre Befehle ausführten, wie veraltet diese auch gewesen sein mögen; ich und jeder Einzelne von uns hätte sich an ihrer Stelle und mit dieser Verantwortung verpflichtet gefühlt, ebenso zu handeln. Jetzt haben sie ihre Aufträge erledigt. Ihre unabhängigen Signale werden, sofern sie ankommen, der Erde insgesamt als Bestätigung unserer offiziellen Übermittlung dienen.

Nun müssen wir uns unseren unmittelbaren Aufgaben zuwenden.«

Gütiger Gott, denkt Aaron, der alte Bastard. Der alte Fuchs, er hat wieder alles unter Kontrolle, er hat ihnen die Initiative einfach aus der Hand genommen, während ich dachte, er wäre restlos erledigt. Fantastisch. Aber wie zum Teufel? Diese Laser hochzufahren ist ein Stück Arbeit. Aaron schaut sich um und ertappt Bustamente dabei, wie er insgeheim strahlt. Ol’ Black George hat in seinem elektronischen Dschungel etwas ausgekocht, er und Yellaston. Aaron schmunzelt in sich hinein. Er ist glücklich, so glücklich, dass er die leise innere Stimme nicht beachtet: Alles hat seinen Preis.

»Die biologische Untersuchung der Lebensform, die Commander Kuh von dem Planeten zu uns zurückgeschickt hat, wird heute Nachmittag gegen sechzehnhundert beginnen. Sie wird in Korridor Gamma Eins unter Dekontaminations-Versiegelung durchgeführt, jedoch wird der gesamte Einsatz auf unseren Bildschirmen übertragen.« Yellaston lächelt. »Wahrscheinlich werden Sie besser zuschauen können als ich. Gleichzeitig wird die Steuerungsabteilung alle Vorbereitungen treffen, um den Kurswechsel Richtung Alpha-Planet einzuleiten. Jeder von Ihnen wird seinen Bereich so zügig wie möglich für Beschleunigung und Kurswechsel absichern. Die Vektorladungen werden morgen geändert. Unterrichten Sie Don und Tim über jegliche Probleme in ihren jeweiligen Sektoren. Während der Abwesenheit von Commander Kuh wird der Erste Ingenieur Singh den Gamma-Sektor übernehmen. Und schließlich müssen wir beginnen, unsere allgemeinen Besiedlungspläne entsprechend der jetzt verfügbaren Daten über den Planeten anzupassen und zu präzisieren. Unser erstes Ziel ist, einen Atlas von dem Planeten zusammenzustellen, in den wir sämtliche Merkmale aufnehmen, die Sie für Ihre jeweiligen Fachgebiete aus den Gamma-Bändern ableiten können. Darauf werden wir unsere Planungen stützen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass dies eine Aufgabe ist, die Fantasie erfordert und sorgfältiges Nachdenken über sämtliche Eventualitäten und Einflussgrößen. Meine Herren, meine Damen: Die Würfel sind gefallen. Wir haben nur zwei Jahre, um das größte Abenteuer vorzubereiten, das unser Menschengeschlecht je erlebt hat.«

Aaron muss über die altertümliche Ausdrucksweise lächeln, er spürt einen Kloß im Hals. Eine Minute lang herrscht Schweigen im Saal; Yellaston nickt Don und Tim zu, sie stehen auf und gehen mit ihm hinaus. Perfekt, denkt Aaron. Wir schaffen es, alles in Ordnung. Scheiß auf Coby. Papi lebt. Jetzt plappern alle durcheinander, Aaron bahnt sich einen Weg durch die Menschen, vorbei an den großartigen blühenden Wundern von Lorys – vom Alpha-Planeten. Unsere zukünftige Heimat. Yellaston wird uns dort hinbringen, er hat die Situation gerettet.

Aber alles hat seinen Preis, wiederholt die Stimme aus dem pessimistischen Winkel seines Vorderhirns. Das sagenhafte Grüne Signal ist auf dem Weg zur Erde. Nicht nur wir, sondern alle Menschen auf der Erde sind jetzt festgenagelt, festgenagelt auf jene Welt. Jetzt muss der Planet geeignet sein.

Aaron geht seine Ausrüstung zusammenstellen und fasst den unsinnigen Entschluss, das Aufgebot an Dekontaminationsmitteln für den Notfall zu verdoppeln.

LOGBUCH 124 586 SD 4100 X 1200

Bekanntmachung für die gesamte Besatzung

Korridor Gamma Eins steht ab heute 1545 unter Weltraum-Gefahren-Versiegelung zum Zweck der Bioanalyse eines lebenden außerirdischen Exemplars/ /Zutritt wird beschränkt auf: [1] Centaur Kommandostab Alpha [2] ausgewiesene Mitarbeiter Xenobiovermessung/Medizin [3] EVA Team Cäsar [4] Eingeteiltes Sicherheits-/Rettungspersonal für die Korridor-Zugangsschleusen/ /Vorgenannte Besatzungsmitglieder werden ununterbrochen Schutzanzüge tragen bis zur Entsiegelung des Korridors/ /Auf Grund des unbekannten Risikofaktors dieses Einsatzes werden zusätzliche Wachen an der Innenseite aller Zugangsluken postiert: siehe beigefügten Dienstplan Sonderdienste/ /Unbefugtes Personal wird Gamma Eins von jetzt an nicht, wiederhole nicht betreten/ /Videomitschnitte des gesamten Einsatzes aus geringster zulässiger Entfernung werden auf Schiffskanal Eins auf allen Bildschirmen übertragen, Beginn voraussichtlich 1515 Uhr

Yellaston KG

Momentan stellen die Kabel den größten Risikofaktor in Korridor Gamma Eins dar. Aaron lehnt inmitten seines Durcheinanders aus Gerätschaften an einer Trennwand, hält seinen unförmigen Schutzanzug fest und beobachtet, wie Jan Ing sich mit den Elektronikern streitet. Der Leiter der Xenobiologie verlangt eine komplette Computeranlage für den Korridor; es ist unmöglich, das Kabel dafür durch die Schleusenversiegelung zu führen. Das EVA-Team wird um Unterstützung gebeten, ist jedoch nicht bereit, auf eines seiner Betriebsterminals zu verzichten. Schließlich wird das Problem gelöst, indem man eine Anzeigetafel an der Zugangsschleuse opfert. Ingenieur Gomulka, der auch als Wachmann eingeteilt ist, beginnt sie herauszuschneiden, um Platz für die Computer-Überbrückungskabel zu schaffen.

Kabel schlängeln sich über das gesamte Deck. XB hat das halbe Labor mitgebracht, und zusätzlich zur Ausrüstung der Biomonitor-Nebenstelle zählt Aaron mindestens noch acht Greifarmvorrichtungen. Obendrein baut das Kamerateam seine Geräte auf. Eine Kamera steht gegenüber der kleinen Lukentür, die zum Mannschaftsraum der China Flower führt, zwei neben der großen Lukentür zum Frachtraum, hinter der das Alien sich befindet, plus mehrere Deckenkameras. Aaron stellt erfreut fest, dass für den Korridor auch Zweitbildschirme an die Decke montiert werden. Er ist zu weit hinten postiert, um die Luken sehen zu können. Das Sicherheitsteam versucht, die Kabel entlang der Wände zu bündeln, doch das Durcheinander wird sich noch verschlimmern, sobald die Versorgungsschläuche der Schutzanzüge angeschlossen werden. Glücklicherweise beginnt die Anzugpflicht erst, nachdem das EVA-Team die China Flower zu ihrem Andockplatz hochgewunden hat.

Aarons Posten befindet sich am weitesten von dort entfernt, am heckwärtigen Ende des Korridors. Vor ihm liegt eine freie Fläche mit der Bodenschleuse des EVA-Teams, dahinter beginnt das langgezogene Sammelsurium der Xenobiologie. Als Nächstes folgen die große Frachtluke, dann die kleine Lukentür, und schließlich ganz weit hinten die Kommandostation für den gesamten Korridor. Kommandostab Alpha besteht aus Yellaston und Tim Bron. Aaron kann lediglich Tims Augenklappe erkennen, er unterhält sich mit Don Purcell, der später die Brücke der Centaur besetzen wird. Im Störungsfall … Aaron blickt prüfend auf seine Ständer voller Dekontaminationssprays, die gegenüber den Luken aufgestellt sind. Auch sie sind verkabelt und mit einem Schalter neben seiner Hand verbunden. Wegen dieser Sprühbehälter hatte es Ärger mit XB gegeben; Jan Ing würde sich lieber bei lebendigem Leib auffressen lassen, als ihrem wertvollen Exemplar außerirdischen Lebens auch nur ein Haar zu krümmen.

Eine Hand legt sich auf Aarons Schulter – Captain Yellaston, der den Korridor von diesem Ende aus betritt und dessen wachsames Gesicht keinerlei Rückschlüsse auf die chemische Zusammensetzung seines Blutes zulässt.

»Die Würfel sind gefallen«, bemerkt Aaron.

Yellaston nickt. »Ein gewagtes Unternehmen«, sagt er leise. »Die Mission … Möglicherweise habe ich etwas Furchtbares getan, Aaron. Doch aufgrund des Einflusses der beiden anderen war es ohnehin unvermeidlich, dass sie kommen.«

»Das Einzige, was Sie tun konnten, Sir.«

»Nein.« Aaron blickt auf. Yellaston spricht jetzt nicht zu ihm; er scheint auf eine mitleidlose Anzeigetafel in den Tiefen des Weltalls zu starren. »Nein. Ich hätte Code Gelb senden sollen und gleichzeitig hier bekanntgeben, dass ich Grün gesendet habe. Ray hätte nichts verraten. Damit hätten wir zumindest die UN-Schiffe zurückgehalten. Das wäre der richtige Schachzug gewesen. Ich habe es versäumt, rechtzeitig gründlich darüber nachzudenken.«

Er geht weiter den Korridor hinunter und lässt Aaron sprachlos stehen. Gelb senden und uns zwei Jahre lang anlügen? Captain Yellaston? Aber ja, begreift Aaron langsam, das wäre sicherer gewesen, falls der Planet doch untauglich ist. Es wäre besser gewesen. Was Yellaston getan hatte, war gut, aber es war nicht das Beste. Weil er betrunken war … Mein Fehler. Meine dämliche Empfänglichkeit, meine –

Leute drängeln sich an ihm vorbei, das EVA-Team in Schutzanzügen und startbereit. Der Anzug ihres Leiters George Brokeshoulder ist mit leuchtenden indianischen Symbolen bemalt, ein wahres Kunstwerk. Der letzte Mann boxt im Vorbeigehen gegen Aarons Arm – Bruce Jang, der ihm durch seinen goldgetönten Gesichtsschutz herausfordernd zuzwinkert. Aaron beobachtet, wie sie im Gänsemarsch die Schleuse zur EVA-Beobachtungskuppel betreten, genau wie vor drei Wochen, als sie rausgingen, um die China Flower mit der bewusstlosen Lory an Bord einzuholen. Diesmal müssen sie lediglich die Halteleine aufwickeln. Riskant genug. Die Rotationskräfte könnten einen Mann in den Weltraum befördern, denkt Aaron; er ist immer stark beeindruckt von Fertigkeiten, die er selbst nicht hat.

Ein Videobildschirm wird eingeschaltet und zeigt wirbelnde Sterne. Ein Raumanzug verdeckt sie; als er verschwunden ist, bewegen sich drei kleine gelbe Lichter auf die Dunkelheit zu – die Helmlampen der Männer, die sich tief hinunter zur China Flower abseilen. Aaron wird es plötzlich mulmig; da draußen ist ein Alien, gleich wird er einem Alien begegnen. Er blinzelt und beginnt, die ausfahrbaren Halterungen, an denen seine Messsonden in den Laderaum des Erkundungsschiffes eingeführt werden, zu ordnen und zusammenzubauen. Währenddessen bemerkt er Gesichter, die ihn durch das Vitrex der nächstgelegenen Zugangsschleuse anstarren. Er winkt. Die Gesichter verschwinden, nachdem sie kapiert haben, dass die Vorstellung noch nicht beginnt. Es wird, begreift Aaron, ein langer Nachmittag.

Als Aaron und Ing mit dem Aufstellen ihrer Gerätschaften fertig sind, haben alle nichtoperativen Kräfte den Korridor verlassen, bis auf das Schutzanzugteam. Der Schiffsrumpf ächzt leise; die China Flower wird mit der Winde zu ihnen heraufgezogen. Plötzlich erzittert die Wand neben ihm, knirscht laut hallend – die Lukenfühler rasten ein, das Knirschen verstummt. Aaron fröstelt unwillkürlich: das Alien ist da.

Als die Schleusenanzeige des EVA-Teams rhythmisch zu blinken beginnt, verkündet Tim Brons Stimme im Audiokanal: »Alle Einsatzkräfte Schutzanzüge anlegen.«

Das EVA-Team klettert zurück ins Schiff. Die Schutzanzugmänner arbeiten sich den Korridor hinunter, überprüfen und verteilen die Versorgungsschläuche so übersichtlich wie möglich. Jetzt heißt es arbeiten auf engstem Raum. Das Schutzanzugteam erreicht Aaron als Letzten. Während er den Anzug abdichtet, entdeckt er an der Seitenschleuse noch mehr Gesichter. Die Videobildschirme sind jetzt alle in Betrieb und bieten einen wesentlich besseren Blick, trotzdem bleiben die Gesichter da. Aaron kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen; der instinktive Urtrieb, etwas selbst sehen zu wollen, mit eigenen Augen.

»Alle nichtoperativen Kräfte verlassen jetzt den Bereich.«

Das EVA-Team nimmt Aufstellung entlang der Wand gegenüber der Mannschaftsluke der China Flower. Laut Plan soll diese zuerst geöffnet werden, um die automatischen Aufzeichnungen über die Vitalfunktionen des Aliens aus dem Erkundungsschiff zu bergen. Lebt das Ding da drinnen noch? Aaron spürt keinerlei geheimnisvolle Vorahnung, nur starke, zunehmende Nervosität im Bauch. Er zwingt sich, ganz normal zu atmen.

»Wachen, sichern Sie den Bereich.«

Die letzten Zugänge zum Korridor werden abgeriegelt. Aaron bemerkt drei Posten weiter in der XB-Zone einen Gesichtsschutz, der sich ihm zuwendet. Das Gesicht dahinter ist Lorys. Kaum merklich zuckt er zusammen; er hatte ganz vergessen, dass sie dabei sein würde. Er hebt die behandschuhte Hand und wünscht, er stünde zwischen ihr und dieser Frachtluke.

Der Bereich ist gesichert, die Wachen haben Posten bezogen. George Brokeshoulder und zwei weitere EVA-Männer treten vor, um die Schleuse zu öffnen, an die die Mannschaftsluke der China Flower angekoppelt ist. Aaron sieht sich die Nahaufnahmen auf dem Deckenbildschirm an. Metall klirrt, die Schleusentür gleitet zur Seite. Die EVA-Männer gehen mit Dampfanalysatoren hinein, die Tür schließt sich hinter ihnen. Erneutes Warten. Aaron sieht, wie die XB-Leute ihre Funkgeräte im Schutzanzug einstellen und begreift, dass die EVA-Männer jetzt berichten. Er findet den Kanal: »Nominal … Atmosphäre nominal (knister knister) …« Die Schleusentür gleitet wieder nach außen, die Männer kommen heraus, umhüllt von kaum wahrnehmbaren Nebelschleiern. Lory schaut wieder zu ihm nach hinten; er versteht. Das ist die Luft, die sie fast ein Jahr lang geatmet hat.

Die Bänder aus dem Schiff werden überreicht. Das Alien scheint am Leben zu sein.

»Stoffwechselspur regelrecht zur Voruntersuchung, Umhüllung unverändert«, hört er Jan Ings Stimme auf dem Audiokanal. »Unregelmäßig auftretende Biolumineszenz, zwei bis achtzig Candela.« Achtzig Candela, das ist hell. Also hatte Lory diesbezüglich nicht gelogen, immerhin. »Deutlicher Höchstwert fällt zusammen mit ursprünglichem Andocken an die Centaur … ein zweiter Höhepunkt trat auf, ja, etwa zu dem Zeitpunkt, als das Erkundungsschiff vom Andockplatz abgekoppelt wurde.«

Das war, als Tighe den Container öffnete – oder nicht öffnete, überlegt Aaron. Vielleicht wirkte auch die Bewegung des Schiffes stimulierend.

»Einer der Ventilatoren, die die Atmosphäre umwälzen, ist defekt«, fährt der XB-Leiter fort, »aber die restlichen Ventilatoren scheinen ausreichend Bewegung für einen adäquaten Luftaustausch erzeugt zu haben. Die Oberflächenatmosphäre des Aliens muss fortlaufend erneuert werden, da es auf dem Planeten an konstanten Wind gewöhnt ist. Es weist außerdem pulsähnliche innere Druckveränderungen auf –«

Aarons Aufmerksamkeit wird vorübergehend von der Vorstellung abgelenkt, er selbst würde hinaustreten in den Wind des Planeten, in einen Strom wilder, unverbrauchter Luft. Die Kreatur da drinnen lebt geradezu vom Wind. Eine schotenartige Masse, etwa vier Meter lang, so hatte Lory sie beschrieben. Wie ein großer Sack voll Obst. Hockt ein Jahr lang da drin, metabolisiert, pulsiert, luminesziert – was hat das Ding sonst noch gemacht? Die lebenswichtigen Funktionen: Anpassung, Erregung, Fortpflanzung. Hat es sich fortgepflanzt? Ist der Laderaum voll von Cobys kleinen Monstern, die nur darauf warten, herauszuspringen? Oder herauszuquellen und uns alle zu verschlingen? Aaron bemerkt, dass er sich von seinen Dekontaminationsschaltern entfernt hat, und geht zurück.

»Masse konstant, Aktivitätsvektoren stabil«, verkündet Jan.

Also hat es sich nicht vermehrt. Hat nur dagehockt. Nachgedacht vielleicht? Aaron fragt sich, ob die Biolumineszenz-Höchstwerte möglicherweise mit Ereignissen in der Centaur in Zusammenhang stehen. Mit welchen Ereignissen? Tighe-Sichtungen vielleicht, oder Alpträumen? Sei kein Idiot, ermahnt er sich; sein kleiner Mann im Ohr erwidert, dass die Siedler damals in Neu-England die Meeresströmungen auch nicht mit den winterlichen Temperaturen in Zusammenhang brachten … Nur mit halbem Ohr verfolgt er die Diskussion des EVA-Teams, ob man die Sichtluke zu dem Alien, die Lory zugeschweißt hatte, aufschneiden soll. Es wird beschlossen, das nicht zu versuchen, sondern direkt in die Schleuse zum Frachtmodul vorzudringen.

Das Team kommt heraus, die Männer, die für die Aufsteckfühler eingeteilt sind, heben ihre Ausrüstung vom Boden auf, wobei sich die Kabel in einem trägen Schlangentanz winden. Bruce und der EVA-Leiter entriegeln die schwere Lukentür zum Frachtraum. Es ist die Luke, durch die die Bodenausrüstung des Erkundungsschiffes eingeladen wurde, Fahrzeuge, Gleitflieger und Generator. Die Lukentür schiebt sich geräuschlos zur Seite, die beiden Männer betreten die Schleuse. Aaron kann auf dem Videoschirm verfolgen, wie sie die Luke des Erkundungsschiffes entsiegeln. Sie öffnet sich; hier tritt kein Dampf aus, der Laderaum ist drucklos. Jenseits der Gestalten in den Schutzanzügen sieht Aaron die glänzende Wand des Frachtmoduls, in dem das Alien eingesperrt ist. Die Männer mit den Messsonden rücken vor und führen ihre Fühler in die Schleuse ein wie langhalsige Tiere. Aaron wirft einen kurzen Blick auf einen anderen Bildschirm, auf dem der gesamte Korridor zu sehen ist, und erlebt dabei einen eigenartigen Moment außerordentlicher Bewusstheit.

Hier sind wir also, denkt er, winzige Lebenströpfchen, Millionen und Abermillionen Meilen entfernt von unserem Ursprungsort, treiben durch dunkle Wüsteneien und bereiten uns mit derart aufwändigen Mühen darauf vor, einer anderen Lebensform zu begegnen. Wir alle, jeder auf seine Weise, so bedauernswert unvollkommen wir auch sein mögen – irgendwie haben wir das hier zustande gebracht. Wirklich unglaublich, dieses aberwitzige Durcheinander von Gerätschaften, die tollpatschigen Männer in ihren Schutzanzügen, die Vorsichtsmaßnahmen, die Anstrengung, der Ernst – Jan, Bruce, Yellaston, Tim Bron, Bustamente, Alice Berryman, Coby, Kawabata, meine heilige Schwester, der arme Frank Foy, der dumme Aaron Kaye – ein Strom von Gesichtern fließt an seinem geistigen Auge vorbei, feindselige, lächelnde, leidende, jedes in seiner eigenen brüchigen Realität: wir alle. Irgendwie sind wir hierhergekommen und erleben dieses Wunder. Vielleicht retten wir wirklich unser Menschengeschlecht, vielleicht liegen Himmel und Erde wirklich neu vor uns …

Der Augenblick vergeht; Aaron betrachtet die Rücken der Männer in der China, die noch immer mit der Luke zum Frachtmodul ringen. Die Männer mit den Messsonden sind aufgerückt und verdecken jetzt die Sicht. Aaron wirft einen Blick hinauf zum bugwärtigen Ende des Korridors, wo Yellaston und Tim Bron postiert sind. Yellastons Arm liegt steif ausgestreckt auf seiner Konsole. Dort muss die Entlüftungssteuerung sein; sobald er sie betätigt, öffnen sich die Luftschächte und der Korridor wird innerhalb weniger Minuten drucklos gemacht. Das Gleiche geschieht mit dem Modul des Aliens, falls es offen ist. Gut; Aaron fühlt sich beruhigt. Er schaut prüfend auf seinen eigenen Freigabeschalter für die Behälter, stellt fest, dass er sich erneut von seinem Posten entfernt hat, und geht zurück.

Über den Kanal im Schutzanzug sind bestürzte Ausrufe und Grunzlaute zu hören; offensichtlich gibt es Schwierigkeiten mit der Luke am Moduleingang. Einer der Männer mit den Messfühlern wirft seine Sonde hin und geht hinein. Ein zweiter folgt. Was ist das Problem?

Der Bildschirm zeigt nur die Rücken der Schutzanzüge, das gesamte EVA-Team ist da drinnen – Oh! Plötzlich dringt ein Leuchten durch die Lücken zwischen den Männern, die sich jetzt als blaue Silhouetten gegen ein bizarres pinkfarbenes Licht abheben – Etwa Feuer? Aarons Herz bleibt fast stehen, er klettert auf einen Ständer, um über die Köpfe zu spähen. Kein Feuer, es gibt keinen Rauch. Ja, natürlich, jetzt versteht er – dieses Licht ist das Lumineszieren des Aliens! Sie haben das Modul geöffnet.

Aber warum bleiben sie alle da drinnen, warum treten sie nicht zurück, um die Messsonden hineinzuschieben? Überall leuchtet rosiges Licht auf, von Körpern verdeckt. Sie müssen die verdammte Luke weit geöffnet haben, anstatt sie nur zu entriegeln. Versucht dieses Ding etwa rauszukommen?

»Verriegeln, zurücktreten!«, brüllt Aaron in sein Schutzanzugmikro. Doch der Kanal überträgt nur chaotisches Rauschen. Außerdem drängen jetzt alle nach vorne zur Lukentür. Das ist gefährlich. »Captain!«, schreit Aaron vergeblich. Er sieht, dass Yellastons Hand immer noch auf dem Bedienungsfeld liegt, doch Tim Bron scheint seinen Arm festzuhalten. Die EVA-Männer stehen alle im Innenraum der China Flower, vielleicht sogar im Modul, das kann man unmöglich erkennen. Ein Aufflackern taucht den Korridor in rosa Licht, erlischt wieder.

»Zurück! Gehen Sie zurück auf Ihre Posten!«, hört man plötzlich Yellastons Stimme im zugeschalteten Kommandokanal, die Störgeräusche in der Sprechanlage ebben ab. Aaron wird sich plötzlich des Drucks um ihn herum bewusst und stellt fest, dass er bis zu den XB-Posten vorgerückt ist und jemand sich gegen seinen Rücken drängt. Hinter dem Visier der Sicherheitswachleute erkennt er Akins Gesichtszüge. Schwerfällig lösen sich die beiden voneinander und treten zurück.

»Alle zurück auf Ihre Posten! EVA-Team, berichten Sie.«

Aaron findet es merkwürdig anstrengend, sich zu bewegen. Er verspürt den starken Drang, seinen stickigen Helm zu öffnen.

»George, können Sie mich hören? Bringen Sie ihre Männer da raus.«

Der Bildschirm zeigt ein wirres Hin und Her und noch mehr farbige Blitze. Ist jemand verletzt? Eine Gestalt tritt langsam aus der Lukentür.

»Was ist da drinnen los, George? Warum ist Ihr Helm offen?«

Aaron gafft ungläubig, als der EVA-Leiter im Korridor auftaucht – sein Gesichtsschutz ist geöffnet und nach hinten gekippt, sein bronzefarbenes, beilförmiges Gesicht ist zu sehen. Was zum Teufel ist da los? Hat das Alien sie erwischt? George hebt den Arm und macht das Okay-Zeichen; der Schutzanzug-Kanal ist noch immer abgeschaltet. Die anderen kommen hinter ihm heraus, das seltsame Licht beleuchtet jetzt ihre Rücken und erzeugt ein wundervolles pfirsichfarbenes Glühen im Korridor. Ihre Visiere sind ebenfalls geöffnet. Aber sie scheinen in Ordnung zu sein, was immer dort drinnen passiert ist.

Der Bildschirm zeigt jetzt die Luke zum Frachtmodul; alles, was Aaron erkennen kann, ist ein großes Rechteck aus warmem, farbigem Licht. Es scheint sanft zu blubbern und sich zu verändern, wie eine Licht-Show – Kugeln in Rosa, Gelb, Lila – wunderschön, wirklich. Hypnotisierend. Sie sollten sie schließen, denkt er und hört, wie Yellaston den Männern befiehlt, ihre Helme zu verriegeln. Mit Anstrengung reißt Aaron sich von dem Anblick los und sieht den Captain, der noch immer mit steifem Arm an seinem Posten steht. Tim Bron scheint weggegangen zu sein. Alles in Ordnung, nichts ist passiert. Alles in Ordnung.

»Schließen Sie Ihre Anzüge, bevor ich den Druck ablasse!«

Der EVA-Leiter zieht langsam seinen Gesichtsschutz herunter, die andern folgen seinem Beispiel. Ihre Bewegungen wirken wenig präzis, unkoordiniert. Einer der Männer stolpert über die Biopsie-Ausrüstung. Warum hebt er sie nicht auf? Irgendwas stimmt nicht mit ihnen. Aaron runzelt die Stirn. Sein Gehirn fühlt sich ganz leicht an. Warum halten sie sich nicht an den Plan und unternehmen etwas gegen die Biolumineszenz? Wahrscheinlich ist trotzdem alles in Ordnung, Yellaston ist ja da. Er passt schon auf.

In diesem Moment wird Aaron heftig angerempelt. Er blinzelt, erlangt sein Gleichgewicht wieder und sieht sich um. Oh Gott, er ist am falschen Platz – jeder hier ist am falschen Platz. Der ganze Korridor ist blockiert, alle sind weiter vorne, als sie sein sollten, und starren in das unbeschreibliche Glühen. Die Wachen – sie sind nicht an den Luken! Irgendwas ist überhaupt nicht in Ordnung, begreift Aaron. Das ist dieses Licht, es beeinflusst uns! Schließt die Luke, gebietet er und versucht, auf seinen Posten zurückzukehren. Es fühlt sich an, als würde er durch Wasser waten. Der Notschalter – er muss ihn erreichen, wie ist er nur so weit davon weg geraten? Er sieht, dass sich an den Luken, hinter dem Vitrex, Gesichter drängen, die Leute stehen auf den Zugangsrampen und starren in den Korridor. Sie sind aus dem ganzen Schiff zusammengeströmt. Was stimmt hier nicht? Was geschieht mit uns?

Eiskalte Panik flammt in ihm auf. Er packt die EVA-Schleuse und klammert sich daran fest, kämpft gegen eine unsichtbare, zähe Strömung. Ein Teil von ihm will den Helm abwerfen und nach vorne rennen zu dem Leuchten, das aus der Luke dringt. Die Leute vor ihm öffnen ihre Visiere – er erkennt Jan Ings spitze dänische Nase.

»Halten Sie Abstand zur Luke!«, ruft Yellaston. Trotzdem stürzt Jan Ing nach vorne und stößt Leute beiseite. »Stopp«, brüllt Aaron in sein nutzloses Mikro und bemerkt, wie er selbst sein Visier öffnet und Jan Ing hinterherrennt. Stimmen, Geräusche füllen seine Ohren. Er packt einen anderen Ständer und zieht sich hinauf, um nach Yellaston Ausschau zu halten. Der Captain ist immer noch da; er scheint mit Tim Bron zu ringen, wie in Zeitlupe. Das Licht ist verschwunden, verdeckt von einem Gewimmel von Körpern rund um die Luke. Das Ding da drinnen macht das, sagt Aaron zu sich selbst; er spürt ein merkwürdiges, unwirkliches Entsetzen, sein Schädel brummt gewaltig. Außerdem ist er wütend auf die Leute dort vorne – gehen einfach da rein und blockieren alles. Verloren! Aber sind sie es, die verloren sind, oder das wunderbare Licht?

Jemand stößt frontal gegen Aaron und zieht ihn am Arm. Er sieht hinunter in Lorys glühendes Gesicht. Ihr Helm ist verschwunden.

»Komm mit, Arn! Wir gehen zusammen.«

Urmisstrauen bohrt sich wie ein Eiszapfen in sein Bewusstsein; er packt ihren Schutzanzug und sucht mit dem anderen Arm Halt an einem Konsolentisch. Lory! Sie steckt mit diesem Ding unter einer Decke, er weiß es, das also ist ihr wahnsinniger Plan. Er muss das verhindern. Es töten! Wo ist sein Notschalter? Zu weit, zu weit –

»Captain!«, schreit er mit aller Kraft, versucht, gegen Lory anzugehen und denkt, zwei Minuten, wir können hier raus. »Druck ablassen! Die Luft absaugen!«

»Nein, Arn! Es ist wunderschön – hab keine Angst!«

»Saugt die Luft ab, tötet es!«, brüllt er noch einmal, doch seine Stimme kann den Lärm nicht übertönen. Lory reißt ihn am Arm, ihr triumphierendes Gesicht versetzt ihn in Angst und Schrecken. »Was ist los?« Er schüttelt sie am Gürtel. »Was hast du vor?«

»Es ist Zeit, Arn! Es ist Zeit, komm schon – dort sind so viele Leute –«

Aaron versucht sie fester zu packen, hört hinter sich das Klirren von Metall und bemerkt zu spät, dass sich sein Griff von dem Konsolentisch gelöst hat. Doch jetzt versteht er allmählich die Bedeutung ihrer Worte – dort sind zu viele Leute, es ist wichtig, äußerst wichtig, dorthin zu kommen, bevor etwas völlig aufgebraucht ist. Warum lässt er zu, dass sie das Licht verdecken? Lory hat jetzt seine Hand ergriffen und zieht ihn nach vorne zu den sich drängelnden Menschen.

»Du wirst sehen, gleich ist alles vorbei, der Schmerz … Arn, Schatz, wird werden zusammen sein.«

Die Schönheit des Ganzen durchströmt Aarons Seele und spült alle Angst von ihm ab. Direkt hinter diesen Leibern liegt es, das Ziel aller menschlichen Sehnsucht, die Quelle – vielleicht sogar der Heilige Gral selbst, das lebendige Leuchten! Er erblickt eine Öffnung neben der Wand, zieht Lory dort durch – und wird plötzlich seitlich von noch mehr Körpern abgedrängt, von einer Menschenmauer, die aus der Zugangsluke quillt. Aaron ringt darum, seine Stellung zu halten, Lory zu halten, er merkt kaum, dass er gegen vertraute Gesichter kämpft – Åhlstrom neben ihm lächelt orgiastisch, er schiebt sich an Kawabata vorbei, duckt sich unter einem Arm hindurch. In diesem Moment trifft ein wuchtiger Schlag ihre Rücken – Aaron knallt gegen irgendwas, verheddert sich und stürzt unter ein XB-Analysegerät, dabei noch immer Lorys Handgelenk umklammernd.

»Arn, Arn, komm schon!«

Beine laufen an ihm vorbei. Es war Bustamente, der ihn geschlagen hat und jetzt weiter nach vorne prescht, gefolgt von einem Wald von Beinen. Alle sind gekommen, alle erheben Anspruch auf die strahlende Pracht in der Luke! Von wildem Zorn gepackt rappelt sich Aaron mühsam auf und stürzt erneut zu Boden, einen Fuß tief im Kabelgewirr verfangen.

»Arn, steh auf!« Lory reißt ungestüm an seinem Arm. Aaron wird plötzlich ruhiger, hört jedoch nicht auf, an seinem eingeklemmten Bein zu zerren. Neben seinem Kopf befindet sich ein kleiner Bildschirm der Sprechanlage, er sieht zwei winzige kämpfende Gestalten – Yellaston und Tim Bron, ihre Helme sind verschwunden. Wie im Traum, winzig … Tim reißt sich los. Yellaston nickt einmal mit dem Kopf und bringt Tim mit einem Schlag seiner ineinander verschränkten Fäuste von hinten zu Fall. Dann steigt er langsam über den am Boden Liegenden und tritt aus dem Bild. Rosa Licht flackert auf.

Sie sind alle reingegangen, erkennt Aaron todunglücklich. Es hat uns gerufen und wir sind gekommen – ich muss gehen. Doch er runzelt die Stirn und blinzelt; ein Teil von ihm zögert noch, dem Sog zu folgen, dem süßen Verlangen. Hier unten fühlt es sich schwächer an. Vielleicht schirmt dieser Haufen Material mich ab, denkt er verwirrt. Lory zerrt an den Kabeln um seinen Beinen. Er zieht sie zu sich heran.

»Lor, was passiert da mit ihnen? Was ist passiert mit…« – er kann sich nicht an den Namen des chinesischen Commanders erinnern – »… was ist passiert mit deiner, deiner Mannschaft?«

»Verwandelt«, keucht sie. Ihr Gesicht ist unglaublich schön. »Vereinigt, geheilt. Vervollständigt. Oh, du wirst sehen, beeil dich – Kannst du es nicht fühlen, Arn?«

»Aber –« Und ob er es fühlen kann, den Sog, die verheißungsvolle Eindringlichkeit, aber er fühlt noch etwas anderes – der Geist von Dr. Aaron Kaye schreit ganz leise in seinem Kopf und stößt Drohungen aus. Lory versucht, Aaron zum Aufstehen zu bringen. Er widersetzt sich ihr aus Angst, sie könnte ihn aus seinem abgeschirmten Schlupfwinkel herausziehen. Der Korridor um sie herum ist jetzt leer, doch in der Ferne kann er Leute hören, ein vielstimmiges Gemurmel weiter unten an der Lukentür. Keine Schreie, keinerlei Panik. Er beachtet Lory nicht, sondern reckt den Hals, um einen Blick auf den großen Deckenbildschirm zu werfen. Alle sind sie dort, drehen sich eher ziellos im Kreis, er hat noch nie so viele Menschen so dicht zusammengedrängt gesehen. Ein medizinischer Notfall, denkt Aaron. Ich bin hier der Arzt. Er stellt sich vor, wie Dr. Aaron Kaye sich zu den Hebeln durchkämpft, die die Ladeluken schließen, wie er der Menge unerschütterlich die Stirn bietet und sie vor dem Ding im Frachtraum beschützt, was auch immer es ist. Doch er kann nicht; Dr. Aaron Kaye besteht nur noch aus einer dünnen Schicht Angst über dem erbärmlichen, drängenden Verlangen, selbst dorthin zu stürzen und sich dem wunderschönen warmen Licht ganz hinzugeben. Er wird sich sehr schämen, denkt Aaron unbestimmt, festgebunden wie Odysseus gegen den Gesang der Sirenen, unter einen Labortisch mit Analysegeräten gekauert, während die anderen – Was? Wieder betrachtet er eingehend den Bildschirm, kann keine offenkundigen Probleme feststellen, niemand ist gestürzt. Die EVA-Männer sind unbeschadet dort rausgekommen, beruhigt er sich. Was ich tun muss ist, hier verschwinden.

Lory lacht und zieht ihn an den Beinen; sie hat ihn befreit. Er rutscht. Mühsam greift er in seinen Schutzanzug und sucht die Spritze gegen Panikattacken.

»Arn, Schatz –« Lorys schlanke Nackenmuskeln liegen ungeschützt vor ihm; Aaron packt ihre Haare und verpasst ihr das Mittel. Sie heult und kämpft wie eine Wahnsinnige, doch er hält sie fest und wartet darauf, dass die Injektion zu wirken beginnt. Sein Kopf ist jetzt klarer. Der schmerzhafte Sog hat nachgelassen; vielleicht durch die Menschenmenge irgendwie blockiert. Der Gedanke schmerzt ihn. Er versucht ihn zu ignorieren und überlegt: wenn ich über den Korridor komme, auf diese Zugangsrampe, kann ich sie hinter mir verriegeln. Vielleicht.

Plötzlich bewegt sich etwas zu seiner Linken – ein Paar Beine gehen langsam an seinem Schlupfwinkel vorbei. Helle goldene Beine, die er erkennt.

»Soli! Soli, bleib stehen!«

Die Beine halten an, eine kleine Hand legt sich auf den umgestürzten Ständer hinter ihm. Gerade noch in Reichweite – er kann aufspringen und sie berühren, dabei Lory loslassen – um sie zu erreichen, muss er Lory loslassen. Er stürzt auf Soli zu, spürt, wie Lory ihm entgleitet, und umklammert sie wieder fester. Er schafft es nicht. Solis Hand ist verschwunden.

»Soli! Soli! Komm zurück!« Ihre Schritte bewegen sich weiter den Korridor hinunter. Dr. Aaron Kaye wird sich schämen, schämen; er weiß es. »Die EVA-Männer waren in Ordnung«, brummt er vor sich hin. Lory wird allmählich schwächer, ihr Blick verschwimmt. »Nein, Arn«, seufzt sie und stößt noch einen tiefen Seufzer aus. Aaron dreht sie zur Seite, schließt seine Hand fest um den Gürtel ihres Schutzanzugs und kriecht hinaus in den Korridor.

Sobald sein Kopf aus dem Unterschlupf hervorlugt, wird er erneut von dem süßen Sog ergriffen. Dort – dort vorne ist das Ziel! »Ich bin Arzt«, stöhnt Aaron und bezwingt seine Gliedmaßen. Ein dickes Kabel liegt unter seiner Hand. Wie aus meilenweiter Entfernung erkennt er es – die Zuleitung zum XB-Computer, die bis zur Schleuse ins Schiffsinnere führt. Wenn er dem Kabel über den Korridor folgen kann, gelangt er zur Rampe.

Aaron umklammert es, beginnt, sich auf den Knien voranzuschieben und schleift Lory hinter sich her. Das Ding dort vorne zerrt an jedem einzelnen Atom seiner Seele, sein Kopf ist erfüllt von drängendem Leuchten, das ihn auffordert, das alberne Kabel fallen zu lassen und loszurennen zu seinen Kameraden. »Ich bin Arzt«, stammelt Aaron; es kostet ihn all seine Kraft, mit der behandschuhten Hand weiter an der Rettungsleine entlangzugleiten, denn dabei entfernt er sich immer mehr von einer Glückseligkeit, die seine kühnsten Träume übertrifft. Nur noch wenige Meter. Unmöglich. Warum verweigert er sich bloß und schlägt die falsche Richtung ein? Er wird umkehren. Doch etwas hat sich verändert … Er sieht, dass er die Schleuse erreicht hat; jetzt muss er das Kabel loslassen und Lory über die Schwelle ziehen.

Schluchzend macht er sich ans Werk; dann noch die schwere Luke mit dem Absatz anzustoßen, so dass sie hinter ihnen zufällt, das ist fast mehr, als er ertragen kann.

Hinter der geschlossenen Luke lässt das Verlangen spürbar nach. Metall, denkt Aaron halb abwesend, dadurch wird es ein bisschen abgeblockt, vielleicht handelt es sich um eine Art elektromagnetisches Feld. Er blickt auf. Neben der Schleuse steht eine Gestalt.

»Tiger! Was machen Sie denn hier?« Aaron richtet sich auf, Lory kauert zu seinen Füßen. Tighe sieht die beiden unsicher an und antwortet nicht.

»Was ist dort in dem Schiff, Tiger? Das Alien, haben Sie es gesehen? Was ist da drin?«

Tighes Gesicht bebt und verzerrt sich. »Mu … Muh«, seine Lippen zucken. »Mutter.«

Keine Hilfe zu erwarten. Gerade noch rechtzeitig bemerkt Aaron, dass seine eigenen Hände den Lukenhebel öffnen. Er klemmt sich Lory unter den Arm und schleift sie weiter fort, die Rampe hinauf, zum Schaltpult der Notfall-Sprechanlage. Ihre Augen sind immer noch offen, ihre Hände fummeln kraftlos an den Verschlüssen ihres Schutzanzugs.

Aaron reißt die Sprechmuschel heraus. Der Kanal wird im gesamten Schiff übertragen.

»Don! Commander Purcell, können Sie mich hören? Hier spricht Dr. Kaye, ich bin in Rampe sechs, es hat hier unten Probleme gegeben.«

Keine Antwort. Aaron ruft erneut, ruft Coby, ruft die Kommunikationsabteilung und die Sicherheitsbeauftragten, ruft jeden, der ihm einfällt, schreit sich heiser. Keine Antwort. Sind denn alle Besatzungsmitglieder in Korridor Gamma Eins, ist das ganze verdammte Schiff da draußen mit diesem –

Außer Tighe. Aaron sieht den lädierten Mann nachdenklich an. Er war hier drinnen, hat sich dem Massenansturm nicht angeschlossen.

»Tiger, waren Sie dort draußen?«

Tighe formt Worte mit den Lippen, stößt eine mögliche Verneinung aus. Er scheint nicht interessiert an der Luke. Was braucht man wohl, um in der Nähe dieses Dings da bei Verstand zu bleiben, fragt sich Aaron, Beruhigungsmittel für die Hirnrinde? Oder ist man nach einem Kontakt schon immunisiert? Können wir Medikamente herstellen, kann ich eine Lobotomie an mir selbst durchführen und immer noch funktionieren? Er bemerkt, dass er sich der Zugangsluke genähert hat, dass Lory darauf zu kriecht, den Schutzanzug schon halb abgestreift. Er zieht sie ganz heraus und geht mit ihr zusammen wieder die Rampe hinauf.

Als er nach oben schaut, sieht er auf der Sichtplatte der Luke einen Schatten.

Einen grauenvollen Augenblick lang ist Aaron sicher, dass das Alien ihn holen kommt. Dann erkennt er eine menschliche Hand, die langsam dagegen klopft. Jemand bittet um Einlass – doch er wagt es nicht, dort hinunterzugehen.

»Tiger! Öffnen Sie die Luke, lassen Sie den Mann rein.« Er gestikuliert heftig in Tighes Richtung. »Die Luke, sehen Sie, dort! Erinnern Sie sich, schlagen Sie auf die Klinke, Tiger. Machen Sie auf!«

Tighe zögert, dreht sich auf der Stelle. Dann wird ein alter Reflex aktiviert; er stellt sich seitlich, schlägt perfekt koordiniert mit beiden Händen auf die Klinke – und sackt ebenso schnell wieder in sich zusammen. Die Lukentür schwingt auf. Captain Yellaston steht davor. Bedächtig tritt er über die Schwelle.

»Captain, Captain, alles okay?« Aaron rennt schon nach vorne, besinnt sich jedoch. »Tiger, schließen Sie die Luke.«

Yellaston schreitet steif auf ihn zu und blickt starr geradeaus. Gesicht etwas blass, denkt Aaron, keine sichtbaren Verletzungen. Er ist in Ordnung, was auch immer passiert ist. Alles in Ordnung.

»Captain, ich –« Doch Aaron bemerkt noch mehr Gestalten an der Luke, Tim Bron und Coby, die an Tighe vorbei hereinkommen. Dahinter noch andere. Aaron war noch nie so froh, seinen Assistenten zu sehen, er ruft ihm etwas zu, dreht sich um und holt Yellaston ein.

»Captain –« Er möchte mit ihm erörtern, den Korridor zu versiegeln und alle zu untersuchen. Doch Yellaston würdigt ihn keines Blickes.

»Das Rote«, sagt Yellaston mit leiser, entrückter Stimme. »Das Rote … ist das korrekte … Signal.« Er geht weiter, auf die Brücke zu.

Eine Art Schock, denkt Aaron und sieht, dass sich an der Wand vor ihm etwas bewegt – Lory, die aufgestanden ist und sich stolpernd von ihm entfernt. Aber sie geht nicht auf den Korridor zu, sondern folgt einer Rampe hinauf ins Schiffsinnere. Sie gehört auf die Krankenstation. Aaron eilt ihr hinterher, überzeugt, dass das Medikament sie verlangsamen wird. Doch sein Anzug ist sperrig, und er hat nicht mit ihrer ungezähmten Kraft gerechnet. Sie bleibt ihm weit voraus, legt in der sich drehenden Röhre, in der die Schwerkraft nachlässt, noch Tempo zu. Er wuchtet sich hinter ihr her, an den Schlafebenen und Vorratslagern vorbei; jetzt schwebt er beinahe. Lory taucht in den zentralen Freifallschacht – hält sich jedoch nicht geradeaus, sondern biegt nach links ab, in Richtung Brücke.

Fluchend folgt Aaron ihr in den Schacht. Seine Füße verfehlen die Trittleisten, er prallt ab und hat Schwierigkeiten, wieder zu beschleunigen. Lory flitzt ihm voraus wie ein kleiner Fisch, der sich immer weiter entfernt. Sie schießt durch die Pforte des Kommandobereichs und stoppt. Verdammt, sie verriegelt sie vor seiner Nase.

Bis er die Pforte geöffnet und passiert hat, ist der zentrale Schacht leer. Aaron strampelt weiter bis zur Kuppel der Astro-Navigation. Niemand da. Er klettert aus dem Freifallbereich heraus und macht sich durch den Computergang auf den Rückweg. Auch hier ist niemand. Åhlstroms glänzende Lieblinge, völlig unbewacht. Das hat es noch nie gegeben. Wie ein Geisterschiff. Eine Station nach der anderen ist menschenleer. Bei den Physikern läuft eine Berechnung über den Bildschirm, aber niemand nimmt Notiz davon.

Ein Geräusch durchbricht die Stille, es kommt aus dem nächsten Ring weiter hinten. Oh Gott, Bustamentes Kommunikationsraum! Aaron kann die Zwischentür nicht finden, er biegt zurück in den Gang und rennt schwerfällig Richtung Heck, Panik ergreift ihn, als das Geräusch zu einem Kreischen anschwillt.

Der Kommunikationsraum ist offen. Aaron stürzt hinein und hält entsetzt inne. Lory steht in der heiligen Gyroskopkammer. Das Kreischen kommt aus dem geöffneten Gehäuse des Kreisels. Lorys Arm schießt nach vorne und befördert einen Schwall von Gegenständen – Kopfhörer, Steckerbuchsen, Schraubenschlüssel – in die rotierenden Räder.

»Stopp!« Aaron stürzt sich auf sie, aber das Geräusch ist zu einem schrecklichen Jaulen angeschwollen. Ein Todesschrei – die wunderbaren, unschuldigen Geschöpfe, die sich dort ein Jahrzehnt lang einwandfrei im Kreis gedreht und ihre Rettungsleine zur Erde aufrechterhalten haben, befinden sich im Todeskampf. Sie prallen und stoßen aneinander, schauderhaft. Eine Nockenscheibe schießt an ihm vorbei und bleibt in der Wand stecken. Sie hat sie umgebracht, seine wahnsinnige Schwester.

Aaron hat Lory gepackt und steht wie betäubt da, kaum in der Lage, noch weitere Schäden aufzunehmen. Das Gehäuse des Hauptlasers wurde zerstört, die Laserkristalle zertrümmert. Das spielt jetzt kaum eine Rolle, denkt Aaron benommen. Ohne das Gyroskop, das sie ausrichtet, kann der Laserstrahl nur wie ein idiotischer Finger über die Sterne zucken.

»Wir, wir gehen zusammen, Arn.« Lory hängt jetzt an ihm, völlig erschlafft. »Sie können uns – nicht mehr aufhalten.«

Aarons Urinstinkte brechen sich Bahn; er stößt ein Heulen aus und beginnt, sie am Hals zu schütteln, zuzudrücken, sie zu zerquetschen – doch eine Stimme hinter ihm lässt ihn vor Schreck erstarren; sie sagt: »Bustamente.«

Er wirbelt herum. Es ist Captain Yellaston.

»Ich sende … das Rote Signal … jetzt.«

»Das geht nicht!«, brüllt Aaron wutentbrannt. »Das geht nicht, es ist kaputt! Sie hat es kaputtgemacht!« Kindischer Zorn überflutet ihn, ebbt jedoch sogleich wieder ab, als er Yellastons entrückten, verständnislosen Gesichtsausdruck sieht.

»Sie senden jetzt… das Rote Signal.« Der Mann steht unter Schock, also gut.

»Sir, wir können nichts – wir können im Moment nichts senden.« Aaron lässt Lory los und packt Yellaston am Arm. Der blickt stirnrunzelnd auf ihn herunter und spitzt die Lippen. Eine Zwei-Liter-Nacht. Er lässt sich von Aaron umdrehen und zu seiner Unterkunft führen. Aaron empfindet Dankbarkeit, auch wenn das völlig absurd ist: solange Yellaston das Ungeheuerliche nicht begriffen hat, ist es noch nicht real. Er zieht den Handschuh des Captains zurück und fühlt im Gehen seinen Puls. Um die sechzig; langsam, aber nicht arrhythmisch.

»Die technische Kapazität …«, murmelt Yellaston und betritt sein Zimmer. »Wenn man die Effizienz hat … wacht man morgens auf …«

»Bitte legen Sie sich ein wenig hin, Captain.« Aaron schließt die Tür und sieht Lory hinter sich herumgeistern. Er nimmt ihren Arm und macht sich auf den Rückweg zu seinem Büro, wobei er dem schwachen Drang widersteht, Richtung Gamma Eins abzubiegen. Wenn er es nur ins Büro schafft, kann er wieder funktionieren und entscheiden, was zu tun ist. Was ist das bloß, was die Besatzung der Centaur erfasst hat, was hat das Alien getan? Eine elektrostatische Entladung vielleicht, wie ein Zitteraal? Am besten versucht er’s mit seiner Standardspritze, einem anregenden Adrenergikum, sofern die Herzfrequenz in Ordnung ist. Dieser überwältigende Lockstoff – er kann ihn jetzt noch fühlen, selbst hier im Beta-Korridor, auf der anderen Seite des Schiffes. Wie ein Sexualpheromon, vermutet Aaron. Dieses Ding ist eine stiellose Lebensform, vielleicht zieht es so seine Nahrung an, vielleicht wird es auf diese Weise befruchtet. Dass das auch auf Menschen wirkt, ist reiner Zufall. Ein Feld vielleicht, wie die Schwerkraft. Oder ein erstaunlich abgeschwächtes Teilchen. Die Schutzanzüge haben es nicht vollständig hemmen können. Ich sollte das Alien verplomben, gleich als Allererstes, sagt sich Aaron, während er die jetzt fügsame Lory am Arm führt. Sie kommen am Andockplatz von Dons Erkundungsschiff vorbei. Doch das Biest ist nicht hier, es ist jetzt Gott-weiß-wie-viele Meilen entfernt und posaunt seine Botschaft hinaus.

Jemand ist hier – Don Purcell, er steht neben der Zugangsrampe und starrt aufs Deck. Aaron zerrt stärker an Lory.

»Don! Commander, alles in Ordnung?«

Don wendet sich zu ihm um; das Grinsen ist da, die Lachfalten um die Augen. Doch Aaron sieht, dass die Pupillen ungleichmäßig erweitert sind, wie bei einem betäubten Schlachtrind. Wie heftig war der Schock bei ihm? Er greift nach Dons widerstandslosem Handgelenk.

»Können Sie mich erkennen, Don? Ich bin’s, Aaron. Der Doc. Sie haben einen körperlichen Schock erlitten und sollten nicht hier rumwandern.« Puls langsam, wie bei Yellaston; keine Unregelmäßigkeit, die Aaron feststellen kann. »Ich möchte, dass Sie mit mir zur Krankenstation kommen.«

Der kräftige Körper rührt sich nicht. Aaron zieht an ihm und begreift, dass er allein ihn nicht umstimmen kann. Er braucht dazu sein Spritzbesteck.

»Das ist ein ärztlicher Befehl, Don. Antreten zur Behandlung.«

Langsam und verdutzt richtet Don sein Lächeln auf Aaron.

»Die Macht«, beginnt Don mit einer Stimme wie beim Gottesdienst. »Die Hand des Allmächtigen auf dem tiefen …«

»Siehst du, Arn?« Lory berührt Dons Arm und tätschelt ihn. »Er hat sich verwandelt. Er ist freundlich.« Sie lächelt zitternd.

Aaron führt sie weiter und fragt sich, wie schwer die Leute wohl betroffen sind. Die Centaur kann tagelang automatisch gesteuert werden, dieser Teil ist kein Problem. An den weitaus beängstigenderen Schaden mag er gar nicht denken: das zerstörte Gyroskop; Bustamente – Bustamente kann sicher was machen, irgendwie. Doch wie lange werden die Menschen im Schockzustand bleiben? Wie viele hat dieses Ding erwischt, wer funktioniert noch außer ihm selbst? Könnten sie dauerhaft geschädigt sein? Unmöglich, versichert er sich zuversichtlich; ein so schwerer Schock hätte dem armen Tighe den Rest gegeben. Unmöglich.

Als er zur Krankenstation abbiegen will, zieht Lory plötzlich in die andere Richtung.

»Nein, Arn, hier entlang!«

»Wir gehen in mein Büro, Lor. Ich muss arbeiten.«

»Oh nein, Arn. Verstehst du denn nicht? Wir gehen jetzt, zusammen.« Ihre Stimme klingt wehleidig, schlaff und lallend. Aaron vergegenwärtigt sich, was er gelernt hat. Chemische Unterstützung, wie Foy es genannt hat – jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, dem Subjekt ein paar Antworten zu entlocken.

»Schwesterchen, sprich einen Augenblick mit mir, dann gehen wir. Was ist mit ihnen passiert, was ist mit Mei-Lin passiert und mit den anderen auf dem Planeten?«

»Mei-Lin?« Sie runzelt die Stirn.

»Ja. Hast du gesehen, was sie gemacht haben? Jetzt kannst du’s mir doch sagen, Lor. Hast du sie dort draußen gesehen?«

»Oh ja …«, antwortet sie mit einem unbestimmten kurzen Lachen. »Ich habe sie gesehen. Sie haben mich im Schiff zurückgelassen, Arn. Sie, sie wollten mich nicht dabeihaben.« Ihre Lippen beben.

»Was haben sie gemacht, Lor?«

»Oh, sie gingen zu Fuß. Der kleine Kuh hatte die Videokamera dabei, ich konnte sehen, wohin sie liefen. Die Hügel hinauf, zu den, zu den wunderschönen … Es dauerte Stunden, Stunden und nochmal Stunden. Dann eilten Mei-Lin und Liu voraus, ich konnte zuschauen, wie sie rannten – Oh, Arn, ich wollte auch so gern losrennen, du kannst dir nicht vorstellen, wie sie aussahen –«

»Was ist dann passiert, Lor?«

»Sie haben ihre Helme abgenommen, dann ist die Kamera runtergefallen, ich vermute, die anderen sind auch alle losgestürmt. Ich konnte ihre Füße erkennen – es sah aus wie ein Berg Juwelen, die in der Sonne –« Tränen laufen ihr übers Gesicht, sie versucht sie mit der Faust wegzuwischen wie ein Kind.

»Was hast du dann gesehen? Was hat das Juwelending mit ihnen gemacht?«

»Es hat gar nichts gemacht.« Lory lächelt und schnieft. »Sie haben es nur berührt, weißt du, mit ihrer Seele. Du wirst sehen, Arn. Bitte – lass uns jetzt gehen.«

»Noch einen Augenblick, Lor. Sag mir, haben sie gekämpft?«

»Oh nein!« Sie schaut ihn aus großen Augen an. »Nein! Ach das, das habe ich mir ausgedacht, um es zu schützen. Keine Verletzungen mehr, nie mehr. Als sie zurückkehrten, waren sie so freundlich, so glücklich. Sie waren alle wie verwandelt, sie hatten das alles abgestreift. Es wartet auf uns, Arn, verstehst du? Es will uns erlösen. Wir werden endlich wahrhaftige Menschen sein.« Lory seufzt. »Oh, ich wollte ihnen so gern folgen, es war fürchterlich. Ich musste mich festbinden, sogar im Schutzanzug. Ich musste es euch doch hierherbringen. Und das habe ich, nicht wahr?«

»Hast du das Ding ganz alleine ins Erkundungsschiff verfrachtet?«

Lory nickt mit verträumtem Blick. »Ich hab ein Kleines gefunden und es mit dem Frontlader ausgebuddelt.« Der Gegensatz zwischen ihren Worten und ihrem Gesicht wirkt unheimlich.

»Was haben denn Kuh und seine Leute die ganze Zeit gemacht? Haben sie nicht versucht, dich aufzuhalten?«

»Oh nein, sie haben zugeschaut. Sie waren dabei. Bitte, Arn, komm mit

»Wie lange hast du gebraucht?«

»Tagelang, Arn, es war so schwer. Ich kam nur Stück für Stück voran.«

»Du meinst, sie haben sich tagelang nicht erholt? Was ist mit dem Band, Lor; du hast es gefälscht, nicht wahr?«

»Ich, ich habe es ein wenig überarbeitet. Es hat ihn nicht … interessiert.« Ihr Blick weicht seinem aus. Die Kontrolle kehrt zurück. »Arn, hab keine Angst. Alles Schlimme ist jetzt vorbei. Kannst du sie nicht fühlen, diese Sanftmut?«

Aaron kann – sie ist da und zieht ihn leise und verheißungsvoll an. Er schüttelt sich, um zu sich zu kommen, und entdeckt, dass er sich von Lory schon fast bis zum zentralen Schacht hat führen lassen, Richtung Gamma Eins. Wütend zwingt er sich, den Handlauf zu packen und sie zurück zur Krankenstation zu schleppen. Es ist, als würde er durch Leim waten, sein Körper will ihm nicht gehorchen.

»Nein, Arn, nein!« Schluchzend zieht sie in die entgegengesetzte Richtung. »Du musst, ich habe so hart dafür gearbeitet –«

Aaron konzentriert sich verbissen auf seine Füße. Jetzt liegt die Tür zur Krankenstation vor ihm, und zu seiner unendlichen Erleichterung sieht er Coby drinnen am Schreibtisch sitzen.

»Du kommst ja gar nicht!«, jammert Lory und befreit sich mit einem Ruck gewaltsam aus seinem Griff. »Du – Oh –«

Er springt nach ihr, doch sie rennt wieder davon, rennt wie ein gottverdammtes Reh. Aaron gebietet sich Einhalt. Er kann jetzt nicht hinter ihr herjagen, er hat seine Pflicht ohnehin schon zu lange vernachlässigt. Tage, hat sie gesagt. Es ist entsetzlich. Und sie sind dort herumgelaufen. Gehirnschaden … Bloß nicht dran denken.

Aaron betritt das Büro. Coby blickt zu ihm auf.

»Meine Schwester leidet an einem psychotischen, dissoziativen Zustand«, erklärt ihm Aaron. »Sie hat unsere Kommunikationsausrüstung beschädigt. Beruhigungsmittel unwirksam –« Er erkennt die Irrationalität seines Handelns, er sollte zuerst die vorrangigen medizinischen Probleme in Angriff nehmen.

»Wie viele Personen haben durch das Ding einen Schock erlitten, Bill?«

Cobys unverwandtes Starren verändert sich nicht. Schließlich entgegnet er verständnislos: »Schock. Ach ja. Schock.« Sein Mund verzieht sich zu einem gespenstischen Lächeln.

Oh, lieber Gott, nein … Coby war auch dort im Korridor.

»Herrgott, Bill, hat es Sie auch erwischt? Ich gebe Ihnen eine AD-zwölf-Spritze. Es sei denn, Sie haben eine bessere Idee?«

Cobys Augen folgen ihm. Vielleicht ist er doch nicht so gravierend beeinträchtigt, hofft Aaron.

»Post coitum tristum.« Cobys Stimme ist sehr leise. »Ich bin tristum.«

»Was hat es mit Ihnen gemacht, Bill, können Sie’s mir erklären?«

Der stumme, traurige Blick verändert sich nicht. Gerade als Aaron den kleinen Arztkoffer öffnet, sagt Coby laut und deutlich: »Ich erkenne einen reifen corpus luteum, wenn er Hormone für die Einnistung der befruchteten Eizelle produziert.« Er stößt ein leises, unangenehmes Lachen aus.

»Was?« Obszöne Vorstellungen schießen Aaron durch den Kopf, während er Cobys Ellbogen freimacht und ihm die Nadel in die Vene sticht. »Haben Sie, hatten Sie denn eine Art Geschlechtsverkehr mit dem Ding, Bill?«

»Ge-schlechts-ver-kehr?«, wiederholt Coby flüsternd. »Nein … wir sowieso nicht. Falls jemand … Ge-schlechts-ver-kehr hatte, dann vielleicht Gott … Oder ein Planet …Wir nicht … Es hatte uns

Sein Puls ist langsam, die Haut kalt. »Was meinen Sie damit, Bill?«

Cobys Gesicht bebt, er blickt starr hinauf in Aarons Augen und kämpft darum, nicht bewusstlos zu werden. »Sagen wir mal, wir haben es getragen … haben eine Ladung Ejakulat in unseren Köpfen getragen, nehme ich an … Und das Ejakulat trifft … die betörende Königin, die betörendste Königin aller Zeiten … und es springt … springt über. Es entsteht eine befruchtete Eizelle … eine Art heilige … Zygote, da draußen … verstehen Sie? Nur wir bleiben zurück … leer … Was geschieht mit dem Schwanz eines Spermiums … danach?«

»Immer mit der Ruhe, Bill.« Aaron wird nicht zuhören, oh nein, nicht diesem Delirium. Sein bester Diagnostiker fantasiert.

Coby stößt erneut ein grausiges Kichern aus. »Guter alter Aaron«, flüstert er, »Sie haben wohl nicht …« Seine Augen werden ausdruckslos.

»Bill, reißen Sie sich doch zusammen. Bleiben Sie hier. Die Leute haben einen Schock erlitten, sie irren orientierungslos herum. Ich habe zu arbeiten, können Sie mich hören? Bleiben Sie hier, ich komme wieder.«

Vorstellungen von ihm selbst, wie er durch das Schiff hetzt, Menschen wiederbelebt – wichtiger noch, wie er obendrein den Korridor versiegelt. Er verstaut eine Packung mit stimulierenden subkutanen Spritzen, dazu herzstärkende und entgiftende Medikamente. Mit einer Stunde Verspätung ist Dr. Aaron Kaye wieder im Dienst. Er zapft heißen Kaffee für sie beide. Coby schaut nicht hin.

»Trinken Sie aus, Bill. Ich komme wieder.«

Aaron macht sich auf den Weg zu den Vorratslagern, hält Kurs gegen den Sog von Gamma Eins. Der ist hier schwach. Er kann es ziemlich leicht schaffen. Ist das Alien vielleicht in einer reizunempfindlichen Phase? Wird wohl sein Pulver verschossen haben. Wie lange braucht es, um sich zu erholen? Am besten als Erstes darum kümmern, kann nicht zulassen, dass es alle nochmal erwischt.

Miriamne Stein sitzt am Schreibtisch, das Gesicht völlig ruhig.

»Ich bin’s, Miri, der Doc. Sie haben einen Schock erlitten, das wird Ihnen helfen.« Hofft er zumindest, während er ihr die Spritze in den reglosen Arm verabreicht. Ihre leeren Augen wenden sich ihm langsam zu. »Ich möchte ein paar EVA-Seile überprüfen, verstehen Sie? Ich lasse Ihnen die Empfangsquittung gleich da, Miri. Sie bleiben hier, bis Sie sich besser fühlen.«

Draußen lässt er sich quer durchs Schiff treiben und folgt dem Sog. Freude erfüllt ihn, es ist wie ein köstliches Gleiten, wie sexuell ganz aus sich herauszugehen, im Kopf … Ist mein Handeln noch rational? Erschrocken stellt er sich auf die Probe. Doch – er kann sich zum Umkehren zwingen, kann sich zwingen, sich zur ersten Rampe vorn am Bug zu begeben. Er hat vor, alle Luken zu schließen, die die Horde auf ihrem Weg in den Korridor offengelassen hat. Vierzehn. Danach – danach kann er, das weiß er, den Korridor von der Innenbordseite aus entlüften. Das Druckablassen wird es natürlich umbringen. Das Vernünftigste, was er tun kann. Nein, bestimmt wird das gar nicht nötig sein? Er wird später darüber nachdenken, irgendwas tut ihm gerade weh.

An der Bugrampe fühlt sich sein Kopf noch immer in Ordnung an, das Ding übt nur noch einen … schwachen Reiz aus. Die Luke steht offen; wahrscheinlich ist Don hier herausgekommen. Vorsichtig riskiert Aaron den Weg hinunter, ohne sein Seil festzubinden. Gut; die Luke fällt langsam ins Schloss. Während sie sich schließt, späht er hinaus, den Korridor entlang. Heilloses Durcheinander, keine Leute, soweit er sehen kann – nur das lebendige rosige Leuchten – sein Herz setzt aus, springt – und die Luke schlägt fast vor seiner Nase zu.

Das war knapp. Bei der nächsten darf er keinerlei Risiko eingehen – sie liegt näher an dem wundervollen Licht, liegt genau hinter der Kommandokonsole, an der Yellaston stand. Aaron bemerkt, wie seine Füße vorwärts hasten, bleibt an der letzten Biegung der Rampe stehen und bindet ein Ende der Leine an einen Griff in der Wand. Das andere Ende knotet er um seine Taille. Mehrfachknoten, darf nicht in der Lage sein, sie schnell zu lösen.

Gut, dass er das getan hat, stellt er fest; schon tritt er hinaus in den Korridor, stolpert über Helme, Handschuhe und Kabel. Etwa zwanzig Meter vor ihm flammt das wunderbare warme Leuchten auf. Er muss zurückgehen, zurückgehen und die Luke schließen. An der Kommandokonsole zwingt er sich zum Stehenbleiben und schaut hinauf zu dem Video-Bildschirm, der noch immer auf das feurige Herz der China Flower gerichtet ist. Wirklich wie Juwelen da drin, denkt Aaron, von Ehrfurcht ergriffen – wundervolle, sanft glühende Kugeln, überwältigend, wie sie die Farbe wechseln, während er hinschaut … manche sind dunkel wie ein Haufen glimmender Kohlen, die langsam herunterbrennen. Stirbt es? Kummer wallt in ihm auf, er hebt die Hand, um ihn zu verbergen, und schaut beiseite. Dort stehen seine nutzlosen, unheilvollen Behälter … und der Korridor ein Schlachtfeld. Überbleibsel eines Massenansturms … Was hat Coby vor sich hin gemurmelt, Sperma. Sie sind hier durchgeschossen, mit zuckenden Schwänzen –

»Arn – da bist du ja!«

Aus dem Nirgendwo liebkost Lory seinen Arm.

»Oh, Arn, Schatz, ich habe gewartet –«

»Raus hier, Lor!« Doch sie nestelt an seiner Taille und versucht, die Knoten zu lösen. Ihr Gesicht wirkt ekstatisch – eine Ladung Ejakulat im Kopf, na klar. »Lass das, Lor. Ich werde den Druck ablassen.«

»Wir sind doch zusammen, hab keine Angst.«

Wütend schiebt er sie hinter sich. »Ich werde den Korridor entlüften, hörst du nicht? Die Luft ablassen!«

Aaron versucht, Lory zurück zur Rampe zu führen, doch sie entwindet sich keuchend seinem Griff. »Oh, Arn, bitte Arn, ich kann nicht –« Und sie rennt auf das Licht zu, auf die Lukentür der China.

»Komm zurück!« Er rennt ihr nach, doch das Seil stoppt seinen Lauf. Genau vor ihm steht die schwankende Lory, ihre Umrisse zeichnen sich vor dem hellen Feuer ab, sie dreht sich, dreht sich, steckt die Fäuste in den Mund und schluchzt: »Ich – ich gehe – allein –«

»Nein! Lor, warte!«

Seine eigenen Hände reißen jetzt an den Knoten, doch sie geht, gleitet von ihm fort durch das Gewirr auf dem Fußboden.

»Nein, nein –« Das warme Licht hüllt sie ein, sie hat sich umgedreht, läuft direkt hinein, ist verschwunden –

Ein brutaler Trillerton dringt an Aarons Ohren und lässt ihn hochschrecken. Er taumelt zurück und begreift schließlich: das Aufblinken an der Konsole ist eine Startwarnung. Jemand ist in der China Flower und will damit starten!

»Wer ist da drin? Anhalten!« Er schaltet wahllos alle Kanäle durch. »Sie da im Schiff, antworten Sie!«

»Auf Wiedersehen… Junge.« Bustamentes Stimme schallt aus den Lautsprechern.

»Ray, sind Sie da drin? Hier spricht Aaron, Ray, kommen Sie raus, Sie wissen nicht, was Sie da tun –«

»Ich weiß, wie man … den Kurs einstellt. Behaltet eure verdammte … Welt.« Die tiefe Stimme klingt flach, mechanisch.

»Kommen Sie raus! Ray, wir brauchen Sie. Bitte hören Sie zu, Ray – die Gyroskope sind kaputt. Die Gyroskope

»… Pech gehabt.«

Dröhnendes metallisches Surren lässt die Wände erzittern.

»Ray, warten Sie!«, schreit Aaron. »Meine Schwester ist da drin, sie wird sterben – Ihre Lukentür ist offen! Ich werde auch sterben, bitte, Ray, lassen Sie sie rauskommen. Ich schließe die Luke. Lory! Lory, steig aus!«

Aarons Augen suchen verzweifelt nach dem Bedienungshebel für die Lukentür, seine Hände zerren an den Knoten.

»Sie kann mitkommen.« Ein totenähnliches Kichern – daneben kurz eine andere, hellere Stimme. Rays Frauen – ist Soli dort drin? Die Knoten geben nach.

»Ich fliege zu … dem Planeten … Junge.«

»Ray, Sie werden aufwachen, eine Million Meilen weit draußen im All, um Himmels willen, warten Sie!« Aaron befreit sich mit einem Ruck – er muss dorthin, muss Lory rausholen – er muss diese lebendige Schönheit retten, diese Verheißung –

Weitere Lämpchen beginnen zu blinken, ein Beben geht durch die Wände. Das Schiff, Lory, schreit sein Gehirn mit letzter Kraft. Aaron reißt sich vom Seil los und sieht ihren Schatten, ihren wankenden Körper, blau vor dem Leuchten, das dort wartet, auf ihn wartet. Mit dem letzten Rest von Verstand drückt Aaron auf den Hebel der Lukentür und stellt ihn auf Schließen.

Die große Lukentür gleitet langsam vor die leuchtende Öffnung.

»Nein, wartet! Nein!« Aaron rennt los, darauf zu, seine Hand hält noch immer die Leine, er rennt auf das zu, wonach er sich immer gesehnt hat – doch das Klirren der Wände, ein tosendes Schrammen, ein Windstoß wirft ihn zur Seite. Reflexartig packt er das Seil, sieht Lory taumeln und in dem heulenden Luftstrom ausrutschen, alles rutscht auf die sich schließende Lukentür zu. Die China Flower startet, fällt nach unten – trägt es fort von ihm. Sie werden alle hinter ihr hinausgeweht werden – doch gerade als Lory sich der Lukentür nähert, fällt die ins Schloss, und der letzte Lichtstrahl erlischt.

Der Wind legt sich, im Korridor wird es vollkommen still.

Aaron steht da, ein törichter Narr, der ein Seil festhält und begreift, dass nun all die Süße vergeht. Das Leben selbst fällt hinab in die Dunkelheit unter ihm, verlässt ihn für immer. Komm zurück, flüstert er unter Schmerzen. Oh, komm zurück.

Lory regt sich. Aaron lässt das idiotische Seil los und tritt zu ihr, gebeugt unter einem Verlust, den er nicht ertragen kann. Was habe ich gerettet, was habe ich verloren? Da schwindet es dahin, wird schwächer, immer schwächer.

Lory blickt auf. Ihr Gesicht wirkt klar und ausdruckslos. Sehr jung. Jetzt ist alles weg, die Ladung in ihrem Kopf … Aaron spürt, wie eine dumpfe Masse ihn erdrückt. Die Centaur, das ganze wundervolle Schiff, auf das er so stolz gewesen ist und das jetzt in der Dunkelheit über ihm schwebt, schweigend und kraftlos. Der Lebensfunke ist erloschen. Verstummt, unwiederbringlich verloren in den eisigen Wüsteneien … Im Innersten weiß Aaron, dass es diesmal für immer ist, nichts wird je wieder so sein, wie es war.

Sanft hilft er Lory auf und geht mit ihr nirgendwo hin, sie vertrauensvoll an seiner Hand; die kleine Schwester, die sie vor langer Zeit einmal war. Als sie sich vom Korridor entfernen, sieht er einen Körper vor der Wand liegen. Es ist Tighe.

 

 

 

IV

 

 

 

… aufgezeichnet von Dr. Aaron Kaye. Die Geister, ich meine, die neuen Dinger, beginnen zu verschwinden. Ich sehe sie jetzt auch recht gut, wenn ich wach bin. Gestern – warten Sie, war das gestern? Ja, denn Tim ist nur eine Nacht hier gewesen, ich habe ihn gestern hergebracht. Seinen, seinen Körper, meine ich. Es war sein Geist, den ich gesehen habe – oh Gott, ich nenne sie immer noch so – die Dinger, die neuen Dinger, meine ich. Der Geist liegt in Tims Bett. Aber ich habe seines entschwinden sehen, es war noch dort draußen im Korridor Beta. Habe ich schon erwähnt, dass sie ihren Standort kaum verlassen? Ich vergesse, was ich gesagt habe. Vielleicht sollte ich alles nochmal durchgehen, Zeit hätte ich ja. Natürlich sind sie mehr oder weniger transparent, sogar zum Schluss. Sie schweben. Ich glaube, sie befinden sich teilweise außerhalb des Schiffes. Es ist schwer, ihre Größe zu schätzen, wie bei einer Projektion oder einem Nachbild. Sie wirken groß, etwa sechs bis acht Meter im Durchmesser, aber ein oder zwei Mal habe ich gedacht, sie könnten auch sehr klein sein. Sie leben, das kann man erkennen. Sie reagieren oder kommunizieren nicht. Sie sind nicht … rational. Überhaupt nicht. Sie verändern sich auch, sie nehmen andere Farben an oder etwas aus deinen Gedanken. Habe ich das bereits erwähnt? Ich bin nicht sicher, dass sie in Wirklichkeit überhaupt sichtbar sind, vielleicht spürt unsere Psyche sie nur und konstruiert eine Erscheinung. Aber durchaus erkennbar. Man sieht … Spuren. Die meisten von ihnen kann ich identifizieren. Tims sah ich bei Rampe sieben. Es war zum Teil Tim und zum Teil etwas anderes, sehr Außerirdisches. Es schien anzuschwellen und durch die Schiffshülle nach draußen zu schweben, als würde es gleichzeitig näherkommen und sich entfernen. Das erste, das uns verlassen hat, soweit ich weiß. Außer Tighes, seines habe ich im Traum gesehen. Sie lösen sich nicht auf. Es pulsierte – nein, das ist nicht ganz richtig. Es schwoll an und schwebte. Davon.

Es sind keine Geister, das möchte ich betonen.

Was ich glaube, was sie sind – mein subjektiver Eindruck, meine ich, eine mögliche erklärende Hypothese – Ach, zum Teufel, ich muss nicht mehr so reden. Was ich glaube, was sie sind, irgendeine Art Energie-Dings, irgendein –

Was ich glaube, was sie sind: durch Zellteilung entstandene Blastomeren.

Heilige Zygoten, hat Coby gesagt. Ich glaube nicht, dass sie heilig sind. Sie sind einfach da und wachsen. Auf keinen Fall sind es Gespenster oder Geister oder höhere Wesen, auch nicht die Person. Sie sind ein, ein Mischprodukt. Sie entwickeln sich. Sie bleiben eine Weile an einem Ort und dann … entfernen sie sich nach draußen.

Vielleicht sollte ich die Reihenfolge protokollieren, in der sie verschwinden, vielleicht korreliert sie mit dem Zustand der jeweiligen Person. Das wäre von wissenschaftlichem Interesse. Selbstverständlich ist diese ganze Angelegenheit von großem wissenschaftlichem Interesse. Aber für wen? Gute Frage. Vielleicht wird irgendjemand in tausend Jahren unerwartet auf dieses Schiff stoßen. Hallo, mein Freund. Sind Sie ein Mensch? Falls ja, werden Sie es nicht lange bleiben. Seien Sie so freundlich und hören Sie Dr. Aaron Kaye an, bevor Sie – Oh Gott, warten Sie –

Hier spricht Dr. Aaron Kaye, der eine Botschaft von großem wissenschaftlichem Interesse aufzeichnet. Wo war ich stehengeblieben? Egal. Tim – ich meine, Commander Timofaev Bron ist heute gestorben. Ich meine Tim höchstpersönlich. Der erste faktische Todesfall, abgesehen von Tighe. Oh, und Bachi – ihn habe ich zu Protokoll gegeben, oder nicht? Doch. Die anderen funktionieren noch mehr oder weniger. Wie Pflanzen. Hin und wieder nehmen sie Nahrung zu sich. Seit keine Mahlzeiten mehr zubereitet werden, verteile ich die Verpflegungsrationen. Wir gehen fast jeden Tag durchs Schiff. Ich bin ziemlich sicher, dass sonst noch niemand gestorben ist. Manche von ihnen spielen immer noch Karten im Gemeinschaftsbereich, sagen ab und zu sogar ein, zwei Worte. Ein paar Karten sind heruntergefallen, die Pik-Zehn liegt seit Tagen neben Dons Fuß. Gestern habe ich dafür gesorgt, dass sie Wasser trinken. Ich fürchte, sie sind extrem dehydriert … Kawabata geht es am schlechtesten, glaube ich, er schläft in einem Humusbeet. Erde zu Erde … Er wird wahrscheinlich bald sterben. Ich muss vermutlich lernen, alles zu organisieren. Falls ich weitermache.

… Ich weiß jetzt, dass ich niemals in der Lage sein werde, den Laser zu reparieren. Gott, ich habe eine ganze Woche in Rays Spukschloss verbracht. Der Witz ist, dass sie uns einen riesigen ungerichteten Notrufsender mitgegeben haben. Sein Signal bedeutet »Kommt her und rettet uns«. Aber wie kann ich senden »Haltet euch um Himmels willen fern«? Schwachstelle im Programm. Die Reichweite ist sowieso viel zu gering … Ich könnte das Schiff in die Luft sprengen, dafür würde ich vermutlich eine Möglichkeit finden. Aber was bringt das schon? Es würde sie nicht davon abhalten, herzukommen. Sie würden annehmen, dass wir einen Unfall hatten. Was für ein Pech, die Tücken des Weltalls. Baby, du wirst es noch rausfinden …

… Frage mich, wo Ray jetzt wohl sein mag, wie lange er durchgehalten hat. Sein, sein Dings ist hier, natürlich. In Gamma Eins. Die Frauen auch. Ich habe das von Soli entdeckt, es ist, nein, ich denke, wir sollten nicht darüber reden. Sie waren bei ihm, ihre Körper, meine ich. Sie … Er war so stark, er hat was getan, er hat gehandelt, danach. Natürlich sinnlos. Die Toten retten die Toten. Hilf mir, die Nacht zu überstehen – Schluss jetzt.

… Funktionieren, wir haben über das Funktionieren gesprochen. Am unversehrtesten ist Yellaston. Ich meine, er ist überhaupt nicht intakt, aber wir reden ein wenig, sozusagen, wenn ich zu ihm raufgehe. Vielleicht seine lebenslange Übung, immer weiterzumachen, obwohl seine halbe Hirnrinde hinüber war. Ich glaube, er begreift. Es geht schließlich nicht um etwas hoch Technisches. Er weiß, dass er sterben wird. Er hat es als Tod betrachtet, die ganze Angelegenheit. In seinem abgeschotteten Innersten hat er sie intuitiv gespürt, die Angst – Sex gleich Tod. Wie Recht du hast, alter Mann. Das Komische ist, dass ich früher Patienten behandelt habe, nur weil sie so dachten. Therapie – Natürlich ging es da um ein anderes, sagen wir mal, Verständnis von Sex. Er hat aufgehört zu trinken. Das, was er unterdrückt hat, die Bürde, alles weg … Ich denke an ihn als das, was von ihm übrig ist, aber verdammt, das ist er ja, der menschliche Anteil. Ich habe sein, sein Erzeugnis gesehen, neben der Luke am Bug. Äußerst merkwürdig. Ich frage mich, hat er es auch gesehen? Erkennt ein verausgabtes Spermium die Blastomere? Ich glaube, er hat. Einmal habe ich ihn weinend angetroffen. Vielleicht vor Freude, aber das bezweifle ich …

… Hallo, mein Freund. Hier spricht Dr. Aaron Kaye, Ihr freundlicher wissenschaftlicher Berichterstatter. Dr. Aaron Kaye ist auch ein winziges bisschen alkoholisiert, vielleicht verzeihen Sie mir. Ich betrachte es als eine Frage der wissenschaftlichen Gerechtigkeit, dass Coby die Ehre zusteht für die, die Formulierung der Hypothese. Ausgezeichneter Diagnostiker, Coby, bis zum Schluss. Dr. William F. Coby, Absolvent der Elitehochschulen Johns Hopkins und M.I.T., Schöpfer von Cobys Endlösung – Endhypothese, meine ich. Merken Sie sich seinen Namen, mein Freund. Solange Sie noch können. Ich wollte ihn überreden, das selbst aufzuzeichnen, aber er spricht nicht mehr. Ich glaube, er hat Recht; ich weiß, dass er Recht hat. Er funktioniert immer noch, allerdings stirbt er langsam. Bedient sich ziemlich ungeniert am Schrank mit den Betäubungsmitteln. Ich lasse ihn. Vielleicht will er etwas testen. Warum ist er noch so intakt? Hatte er weniger von dem, was ihnen dort abhanden gekommen ist, weniger Ejakulat? Nein – das ist nicht fair. Nicht einmal wahr … Seltsam, plötzlich stelle ich fest, dass ich ihn mag, ihn wirklich mag. Nichts Gefährliches mehr an ihm, vermute ich. Was sagen Sie dazu? Nennen Sie mich Lory – nein, über Lory werden wir auch nicht reden. Wir sprachen gerade über, ich sprach gerade über Coby. Seine Hypothese. Hören Sie zu, mein Freund. Sie, die Sie unterwegs sind mit einer Ladung in Ihrem Kopf.

Coby hat Recht, ich weiß, dass er Recht hat. Wir sind Gameten.

Keimzellen. Ein dimorpher Satz von – nennen wir es Sperma. Zwei Sorten, kleine Jungs-Spermien, kleine Mädchen-Spermien – die Hälfte des Keimplasmas von … irgendwas. Jedenfalls keine vollständigen Wesen. Die Hälfte der Keimzellen von irgendwelchen … Kreaturen, irgendeiner Rasse. Möglicherweise leben sie im Weltall, ich denke schon. Zumindest die, ihre Zygoten. Vielleicht sind sie nicht einmal intelligent. Sagen wir, sie benutzen Planeten, um sich darauf zu vermehren, wie Amphibien, die zu diesem Zweck ins Wasser gehen. Sie haben also ihre Ur-Keimzellen hier in der Gegend ausgesät, ihre Fischmilch und ihren Rogen, zwischen den Sternen. Auf geeigneten Planeten. Das Zeugs ist gekeimt. Und nach dem üblichen Intervall – sagen wir, drei Milliarden Jahre, so lange haben wir doch gebraucht, nicht wahr? – haben die Fischmilch und das Sperma ein bewegliches Stadium erreicht, verstehen Sie? Wir sind zu den Sternen vorgedrungen. Zu dem Rogen-Planeten. Um sie zu befruchten. Das ist alles, was wir sind, die ganze verdammte Angelegenheit – die Entwicklung, die Errungenschaften, die Kämpfe und Hoffnungen – all der Schmerz und die Anstrengung, nur, um uns hierher zu bringen, mit einer Ladung Ejakulat in unseren Köpfen. Nichts als Sperma-

schwänze. Menschliche Wesen – glaubt ein Spermium auch, dass es irgendwer ist? Diese wunderschönen Eierdinger, die Kreaturen auf diesem Planeten, die sich über Millionen von Jahren auf ihre eigene Weise entwickelt haben … vielleicht denken und träumen sie auch, vielleicht halten auch sie sich für Menschen. Die ganze Schose, nur um irgendwas anderes zu erschaffen, alles umsonst –

… Verzeihen Sie. Hier spricht Dr. Aaron Kaye, ich gebe zwei weitere Todesfälle zu Protokoll. Es handelt sich um Dr. James Kawabata und Quartiermeisterin Miriamne Stein. Sie habe ich entdeckt, als ich Kawabatas Leiche in den Kühlraum brachte. Sie werden alle dort sein, Sie werden sie finden, mein Freund. Fünfundfünfzig Eiszapfen und ein Häuflein Staub … vielleicht. Todesursache – habe ich die Todesursache protokolliert? Todesursache, akute – ach, zum Teufel, woran stirbt ein Spermaschwanz? Akuter Verlust der Fähigkeit, weiterzuleben. Akute postfunktionale Bedeutungslosigkeit … Symptome; vielleicht möchten Sie etwas über die Symptome erfahren. Das dürfte Sie interessieren. Die Symptome setzen nach einem kurzen Kontakt mit einer gewissen Lebensform von Planet Alpha ein – habe ich erwähnt, dass es anscheinend einen kurzzeitigen körperlichen Kontakt gab, allem Anschein nach durch die Stirn? Die offenkundigen Symptome sind Bewusstseinstrübung, Apathie, teilweise Aphasie, Ataxie, Anorexie. Alle Reaktionen geschwächt; Aprosexie, Echolalie. Reflexe schwach vorhanden, keine typische Katatonie. Herzfunktionen subnormal, nicht akut. Klinisch – ich konnte sechs von ihnen untersuchen – klinisch zeigt das EEG eine allgemeine Verflachung und Asynchronie. Frühe Theta- und Alpha-Defizite. Nicht vergleichbar, ich wiederhole, absolut nicht vergleichbar mit dem Krankheitsbild nach Elektroschock. Die Symptome können nicht als Folge eines körperlichen, elektrischen oder anderweitigen Schocks interpretiert werden. Das adrenerge System ist am stärksten betroffen, das cholinerge vergleichsweise weniger. Nebenniereninsuffizienz nicht, wiederhole, nicht durch standardisierten Hormontest bestätigt. Zum Teufel – etwas ist abgeflossen, das ist es. Abfluss von etwas … etwas Lebenswichtigem. Prognose … tja.

Die Prognose lautet: Tod.

Das ist von höchstem wissenschaftlichem Interesse, mein Freund. Aber Sie werden es natürlich nicht glauben. Sie sind auf dem Weg dorthin, nicht wahr? Nichts wird Sie aufhalten, Sie haben schließlich Ihre Gründe. Alle Arten von Gründen – das Menschengeschlecht retten, eine neue Welt aufbauen, nationale Ehre, persönlicher Ruhm, wissenschaftliche Erkenntnis, Träume, Hoffnungen, Pläne – hat jedes kleine Spermium seine Gründe, während es durch die Röhre zappelt?

Er ruft uns, verstehen Sie. Der Rogen ruft uns über die Lichtjahre hinweg, fragen Sie mich nicht, wie. Er ruft sogar Dr. Aaron Kaye, das Spermium, das Nein gesagt hat – Oh Gott, ich kann ihn spüren, den süßen Sog. Warum habe ich es gehen lassen? ... Verzeihen Sie. Dr. Aaron Kaye genehmigt sich jetzt noch einen Drink. Eigentlich ziemlich viele. Yellaston hatte Recht, es hilft … Unsere unendliche Vielfalt, alles umsonst. Wo war ich stehengeblieben? ... Wir machen unsere Rundgänge, ich sehe nach allen. Sie bewegen sich kaum noch. Ich schaue mir auch die neuen Dinger an … Lory begleitet mich, sie hilft mir, die Sachen zu tragen. Wie früher, meine kleine Schwester – insbesondere über sie werden wir nicht sprechen. Die Dinger, die Zygoten – heute sind drei weitere von uns gegangen, Kawabatas und die der beiden Dänen. Das von Don ist noch immer im Gemeinschaftsbereich, ich glaube, es wird auch bald verschwinden. Verlassen sie uns, wenn die, die Person stirbt? Ich glaube, das ist reiner Zufall. Wir sind völlig … bedeutungslos, danach. Die Zygote bleibt für einen unterschiedlichen Zeitraum nahe beim Ort der Befruchtung, bevor sie weiterzieht zur Implantierung. Wo nisten sie sich ein, im All vielleicht? Wo werden sie geboren? – Oh Gott, wie sehen sie aus, die Kreaturen, die uns geschaffen haben, für deren Fortpflanzung wir sterben? Kann eine Keimzelle einen König anschauen? Sind sie Teufel oder Engel? Oh Gott, es ist nicht gerecht, es ist nicht gerecht!

… Tut mir leid, mein Freund. Jetzt bin ich wieder okay. Heute ist Don Purcell zusammengebrochen, ich habe ihn im Gemeinschaftsbereich liegenlassen. Ich besuche meine Patienten jeden Tag. Die meisten von ihnen können noch sitzen. Sitzen an ihren Posten, in ihren Gräbern. Wir tun, was wir können, Lory und ich, um das Leben auf der Welt freundlicher zu gestalten … Es mag von höchstem wissenschaftlichem Interesse sein, dass jeder sie anders wahrgenommen hat, die Eierdinger, meine ich. Don sagte, das war Gott, Coby sah Eizellen. Åhlstrom flüsterte etwas vom Baum Yggdrasil. Bruce Jang sah Mei-Lin in ihnen. Yellaston sah den Tod. Tighe sah vermutlich seine Mutter. Alles, was Dr. Aaron Kaye sah, waren farbige Lichter. Warum bin ich nicht auch hingegangen? Wer weiß. Ein statistisches Phänomen. Ein schadhafter Schwanz. Mein Fuß hat sich verfangen … Lory sah ihre Utopie, den Himmel auf Erden, vermute ich. Wir werden nicht über Lory sprechen … Sie macht die Runden mit mir, kümmert sich um die sterbenden Spermien, unsere Freunde. All die Dinge in ihren Zimmern, ihr persönliches Leben, das ganze Schiff, auf das wir so stolz waren. Mono no aware, das Herzzerreißende der Dinge, hat mir Kawabata erklärt. Die Armbanduhr, nachdem ihr Träger gestorben ist, die Brille … das Herzzerreißende all unserer Dinge.

… Ja, Dr. Aaron Kaye ist mittlerweile stockbesoffen, mein Freund. Dr. Aaron Kaye, verstehen Sie, vermeidet es darüber nachzudenken, was er tun wird, danach … nachdem sie alle fort sind. Coby hat sich heute das Bein gebrochen. Ich habe ihn gefunden, ich glaube, es hat ihm gefallen, dass ich ihn ins Bett gebracht habe. Er schien nicht unter sonderlichen Schmerzen zu leiden. Sein, das Ding, das er gezeugt hat, es ist schon vor einer ganzen Weile verschwunden, ich fürchte, ich habe das nicht allzu genau protokolliert. Viele von ihnen sind fort. Yellastons noch nicht, als ich das letzte Mal nachgesehen habe. Er ist oben in der Astro-Navigation, ich meine, Yellaston selbst. Starrt aus der Kuppel nach draußen. Ich weiß, er will dort sterben. Ach Gott, der arme alte Tiger, der arme Affe, alles, was Lory gehasst hat – jetzt ist alles fort. Wer interessiert sich schon für die Persönlichkeit eines Spermiums? Antwort: Ein anderes Spermium … Dr. Kaye wird rührselig. Dr. Kaye weint, ja wirklich. Merken Sie sich das, mein Freund. Es ist von wissenschaftlichem Interesse. Was wird Dr. Kaye tun, danach? Es wird still werden hier in der guten alten Centaur, die wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit überdauern wird, es sei denn, sie stürzt in einen Stern … Wird Dr. Kaye den Rest seines Lebens hier verbringen, sechsundzwanzig Billionen Meilen vom heimatlichen Hoden entfernt? Mit Lesen, Musikhören, Gartenpflege und dem Niederschreiben seiner Notizen von wissenschaftlichem Interesse? Fünfundfünfzig tiefgefrorene Leichen und ein Skelett. Behalten Sie das Skelett im Auge, mein Freund … oder sehen Sie mal nach dem letzten Erkundungsschiff, Alpha. Wird Dr. Kaye eines Tages in der guten alten Alpha losfliegen und versuchen, irgendwohin zu gelangen? Wohin? Raten Sie mal … Das Schwanzende eines Trottels, des letzten Mannes im Eileiter. Über den Viadukt, via den Ovidukt. Verzeihen Sie.

… Nicht der letzte. Nicht im Geringsten, denken wir nur an all die Schiffsflotten, die von der Erde aus starten werden, sobald das Grüne Signal dort ankommt. Sie werden eine ganze Zeitlang auf uns zusteuern … Das Grün wurde gesendet, nicht wahr, was wir auch versucht haben? Das Ziel aller menschlichen Sehnsucht. Unmöglich aufzuhalten. Völlig hoffnungslos, wirklich.

Aber natürlich sind es nur eine Handvoll, die wenigen, die den Planeten je erreichen werden, verglichen mit der Gesamtbevölkerung der Erde. Etwa im Verhältnis von einem Samenerguss zur Gesamtproduktion von Sperma, finden Sie nicht auch? Sollte ich mal ausrechnen, wissenschaftlich höchst interessant. Also werden die meisten der Eierdinger auch sterben, unbefruchtet. Die allgemein bekannte Verschwendungssucht der Natur. Fünfzig Millionen Eier, eine Milliarde Spermien – ein Lachs …

… Was geschieht mit den Menschen, die nicht aufbrechen, sondern auf der Erde bleiben, mit dem ganzen Rest des Menschengeschlechts? Lassen Sie uns Mutmaßungen anstellen, Dr. Kaye. Was geschieht mit ungenutztem Sperma? Sitzt im Hoden fest und stirbt an Überhitzung. Wird wieder absorbiert. Erinnert Sie das an irgendwas? Kalkutta zum Beispiel, Rio de Janeiro, Los Angeles … Vorschauen. Zu früh geboren, oder zu spät – Pech. Verkommen ungenutzt. Funktion erfüllt, Organe verkümmert … Das Ende des Ganzen, zerfallen einfach. Wissen nicht einmal Bescheid – denken, sie wären Menschen, denken, sie hätten eine Chance …

Dr. Kaye ist inzwischen ziemlich endgültig besoffen, mein Freund. Dr. Kaye ist es allmählich auch leid, Ihnen zu berichten. Was bringt es Ihnen noch auf Ihrem Weg durch die Röhre? Können Sie noch anhalten, Mann? Können Sie? Ha ha. Wie – irgendjemand einmal sagte … Verdammt nochmal, warum können Sie es nicht versuchen? Können Sie nicht anhalten, können Sie nicht menschlich bleiben, selbst wenn wir – Oh Herr, kann die Hälfte von etwas, kann eine Keimzelle eine Kultur begründen? Ich glaube nicht … Armes Schwein, du bist dem Untergang geweiht: mit der Ladung in deinem Kopf wirst du dort ankommen – oder bei dem Versuch sterben –

Verzeihen Sie. Lory ist heute häufig gestolpert … Kleine Schwester, du warst ein gutes Spermium, eine zähe Schwimmerin. Du hast die Verbindung hergestellt. Lory war nicht verrückt, verstehen Sie. Niemals, wirklich nicht. Sie wusste, dass mit uns irgendwas nicht stimmte … Geheilt, vervollständigt? All diese Monate … nur eine Wand trennte sie vom Himmel, von Gottes goldenem Busen. Das Ende allen Schmerzes, die betörende Königin … die ganze Zeit dagegen angekämpft … Oh Lory, bleib bei mir, stirb nicht – Gott, der Sog, der schreckliche süße Sog

… Hier spricht Dr. Aaron Kaye. Melde mich ab. Möglicherweise ist mein Zustand von höchstem wissenschaftlichem Interesse … Ich träume nicht mehr.