Bibertränen

 

 

 

Spät zu Hause, erhitzt und müde. Heute Abend genehmigt er sich einen Chivas Regal und den Rest von dem ausgezeichneten Roastbeef, das Jenny ihm im Eisschrank dagelassen hatte. Eingelegten Knoblauch, Schwarzbrot dazu. Käse, Cheddar mit Salbei; nicht ganz so lecker wie in der Werbung, aber okay.

Erschöpft lässt er sich neben den Fernseher plumpsen und dreht an den Knöpfen. Zu spät, gute Nacht, NBC. Weiter zu irgendwas von National Geographic. Kauend lauscht er dem Sprecher, der erklärt, wie man Biber ruhigstellt. Die Biber schauen unergründlich mit ihren gebleckten Zähnen. Marlboro-Musik. Männer stopfen die Biber in Säcke und die Säcke in Körbe auf einem Packpferd. Biber sind wichtig fürs ökologische Gleichgewicht. Er erfährt, dass die Biber auf einen im Tagebau ausgeräumten Berg gebracht und wieder frei gelassen werden. Dort werden sie neu anfangen, ihr Biberding durchziehen, Dämme bauen, Schlamm stauen, die Wälder wieder wachsen lassen. Sehr hübsch; die Wunder der Natur.

Er trinkt noch einen Chivas Regal und fragt sich, ob die Biber in den Säcken sich eigentlich mögen. Als der Mann sie frei lässt, huschen sie planlos in verschiedene Richtungen davon. Einige scheinen verletzt zu sein, doch die Kamera schwenkt schnell zu einem Biber, der okay ist und zu den Klängen von Disneyfilm-Musik in einer ausgetrockneten Schlucht verschwindet. Nächste Woche: Jagd auf den Riesenmanta.

Er würgt die Werbung ab und schlendert hinaus auf die dunkle Veranda. Immer noch heiß. Lichter ringsum. Als Jenny und er vor fünf Jahren hier heraus gezogen sind, war überall noch Wald. Das Gebiet galt angeblich noch nicht als Bauland, aber der Ausschuss ließ es an die Kanalisation anschließen und änderte das.

Er betrachtet den Himmel, zumindest das, was er jenseits der Lichter noch davon erkennen kann. Über dem Bald Peak westlich der Stadt braut sich ein Sommergewitter zusammen. Großflächiges Wetterleuchten. Vom Hof der Bannermans dröhnt aus der voll aufgedrehten Anlage Country & Western zu ihm herüber, schon wieder eine ihrer endlosen Partys. »Orgien« sagt Joan Bannerman dazu und grinst voll postmenopausialer Heiterkeit. Die Bannermans haben zwei dümmliche Söhne im Teenageralter. Joan kleidet sich, als wäre sie ihre Schwester. Bildet sich was ein auf ihre Figur. Lässt sich von ihnen auf ihren Harley Davidsons zum Postamt mitnehmen, du lieber Himmel. Wagenräder und Rinderschädel rund um ihren großen Swimmingpool.

Er seufzt und denkt liebevoll an Jenny, sogar an das Baby, jetzt, aus der Ferne. Nein, das ist nicht fair, er ist ein guter Junge. In zwei Tagen kommen sie zurück, Jenny und Jimmy…… Er grunzt treuliebend, während er sich den Hintern am Redwood-Tisch kratzt. Noch zwei Nächte. Wir besuchen Großmutter. Aber warum zum Teufel wohnt Großmutter in Santa Barbara? Eigentlich ganz gut so. Jetzt in milderer Stimmung, pfeift er einer gerade erwachten Spottdrossel zu, die auf den ohrenbetäubenden Lärm bei den Bannermans antwortet.

Ein dunkles Stück Wildnis gibt es noch, rund um das Haus der Jacksons. Die letzte schwarze Familie hier draußen. Ehemaliges Ackerland. Das Land gehört ihnen. Werden wahrscheinlich bald verkaufen. Nette Nachbarn; sechs Kinder, kein bisschen Lärm. Zweifellos auch wach gehalten von der wild gewordenen weißen Mittelklasse.

Da, ein gigantisches Flackern über dem Bald Peak, eine beeindruckende Darbietung. Jenny sagt, es gäbe keine »Sommer«gewitter, lediglich ein Unwetter in weiter Ferne. In diesem Fall ist das da oben recht ordentlich, bringt vielleicht Regen. Den können wir brauchen; der Wasserspiegel ist enorm gesunken, die Brunnen trocknen aus, seit sie den halben Landkreis zubetoniert haben. Sollte die Wettervorhersage hören, denkt er, geht augenblicklich zurück ins Haus und schaltet den Funkwetterdienst ein. Wieder mal kaputt, nichts als Gequäke. Ohne Jenny geht hier alles bald zum Teufel.

Er wechselt auf einen Nachrichtenkanal, findet irgendein Science-Fiction-Spätprogramm, dann wieder Rauschen. Jenny wird das wieder hinkriegen. Noch zwei Nächte. Soll er den Whiskey austrinken?

Er entscheidet sich dagegen; harter Tag morgen. Donnerstag, immer der schlimmste Wochentag, niemals donnerstags jemanden um irgendwas bitten. Das Tollhaus bei den Bannermans scheint sich noch zu steigern. Gekreische und lautes Gebrüll von Männerstimmen übertönen die Lautsprecher. Verdammt nochmal, Beschallungsanlagen im Freien sind inzwischen verboten, wenigstens eine gute Nachricht. Soll er rübergehen und sich beschweren? Nein, warte auf Jenny, sie kann sowas besser. Besonders, wenn das Baby davon wach wird.

Er lächelt einsam und schließt die Fenster auf der Bannermanseite. Gott sei Dank kühlt es ab, aber die Luft stinkt ganz schön. Nach Gas. Man stelle sich Smog hier draußen vor, denkt er angewidert und lässt die Schiebetüren zur Veranda zugleiten. Das Letzte, woran er sich erinnert, ist die plötzliche Stille drüben bei den Bannermans……

 

… etwas Abstoßendes, Glattes, Hartes unter seiner Wange. Er will es nicht wahrhaben, will es in weiche Bettlaken verwandeln. Zu hart – ein Boden, sagen wir, die Kacheln auf der Veranda. Bitte, lieber Gott, lass es die Kacheln sein, lass es sogar einen Herzanfall sein. Ich habe Schmerzen. Ein schwacher Herzanfall, das ist alles.

Aber der Schmerz sitzt nicht in der Brust, er sitzt im Bein. Im Arm auch. Oh ja, auch im Kiefer, den er unauffällig versucht hat zu bewegen. Ganz schlimm; er beschließt, keine weiteren Bewegungsversuche zu unternehmen, und liegt mit geschlossenen Augen da. Ich habe gekämpft

Er verdrängt jeglichen Gedanken und versucht, sich in Bewusstlosigkeit zu hüllen. Doch die Droge, das Gas, was auch immer, beginnt zu verfliegen. Der schreckliche glatte Boden unter seinem Gesicht fängt an zu brummen, das Geräusch surrt durch seine Knochen wie ein wütendes Insekt. Ich habe gekämpft

In diesem Augenblick ist alles wieder da, der grauenvolle Ausblick vom Förderband oder was immer das war, als er wieder zu Bewusstsein kam, ausgestreckt auf einem Metallgitter, das ihn höher und höher trug, hoch über die Landschaft, die im frühen Morgenlicht unter ihm lag. Das schrille Wimmern von Maschinen … Er erinnert sich vage daran, dass er den Kopf hob und hinter sich die verschwommenen Umrisse anderer Körper erblickte, die ebenfalls nach oben fuhren. Und dann, als das Ding in fast hundert Metern Höhe anhielt, mitten im Nirgendwo, hatte er sich umgedreht und den metallenen Felsen neben sich gesehen. Den dunklen Felsen, die noch dunklere, klaffende Luke, und SIE. Sie kamen, ihn zu holen, und streckten ihre Dinger nach ihm aus –

Genau in dem Moment begriff er mit absoluter Klarheit, dass er hier oben war, während Jenny und sein Kind sich in Kalifornien aufhielten, zweitausend Meilen entfernt; ganz offensichtlich wird er keinen von beiden je wiedersehen, wenn er jetzt nichts unternimmt. Er springt auf, wirft sich schmerzhaft gegen die fremdartigen Maschinen, versucht, von ihnen fortzuklettern, runterzurutschen – falls nötig auch runterzufallen – alles, um nicht von IHNEN mitgenommen zu werden, nicht DA rein – aber zu spät, die Dinger haben ihn gepackt und umwickelt, während er noch kämpft. Er rudert mit den Armen, tritt um sich und beißt auf Metall, bis der ekelerregende Nebel seine Welt auslöscht.

Ja, ich habe gekämpft. Er formt die Worte mit den Lippen, spürt das Harte, weigert sich, die Augen zu öffnen, sich seiner Lage bewusst zu werden. Doch vor dem Brummen kann er die Ohren nicht verschließen, auch nicht vor dem Wispern anderer Atemzüge um ihn herum. Etwas oder jemand macht ein hohes, dünnes, schnarrendes Geräusch, Ekkk-hnhnhn, Ek-kkk-hhhn, wie ein verrücktes Huhn.

Das Klopfen unter seinem Kopf ist jetzt lauter, so dass sein Kiefer unerträglich schmerzt. Zähne sind abgebrochen, als er versuchte, Metall zu zerbeißen oder metallenes Fleisch zu zerreißen. Die siedend heiße Erinnerung an spiralenförmige Fühler, die seinen Körper betasten, lässt plötzlich Erbrochenes im Hals hochschießen und buchstäblich gegen die Zähne klatschen. Explosionsartiges Erbrechen, er erinnert sich, dass man das so nennt. Ohne sich zu bewegen, lässt er das Erbrochene herauströpfeln und schmeckt den Whiskey ein zweites Mal, halb verdaut.

Obwohl er es nicht will, ist etwas Sichtbares durch die Wimpern seines unverletzten Auges gedrungen. Ein schwaches graues Licht, das von dem glatten Boden auszustrahlen scheint. In seiner Blickachse taucht ein nackter, gebräunter Knöchel auf. Unwillkürlich gleitet sein Blick an dem jungen Bein entlang, das in ausgebleichten Jeans steckt. Über den Jeans erkennt er ein hellviolettes T-Shirt und eine volle rotblonde Mähne. Das ist nicht Jenny. Das Mädchen liegt mit dem Gesicht nach unten, atmet regelmäßig. Das schnarrende Wimmern kommt von dahinter.

Ganz langsam lässt er die Augen sich öffnen. Er sieht die Ecke einer Zelle oder eines Abteils. Die Wände glänzen genauso wie der Fußboden. Ein Frachtraum. Wahrscheinlich ist das Schiff voll davon.

Gegen die Wand duckt sich, merkwürdig zusammengekauert, eine Frau. Im Schummerlicht, das ihr Gesicht von unten anleuchtet, sieht sie aus wie ein Frosch. Dann erkennt er sie: Joan Bannerman. Von ihr kommt das Keuchen.

Nach einer Weile entdeckt er in der weiter entfernten Ecke seines Gesichtsfeldes noch eine Gestalt. Er schielt über die Schulter, ohne den Kopf zu bewegen, und erblickt ein Gesicht. Vom Boden aus betrachtet es Joan Bannerman, ein rundes braunes Gesicht, verzerrt zu einer starren Maske über gebleckten Zähnen. Eine Erinnerung aus einer anderen Welt taucht schlagartig vor ihm auf: die Biber im Fernsehen. Aber das hier ist kein Biber, das ist ein Kind. Schließlich fällt es ihm ein. Evelyn oder Jaqueline, eines der Jackson-Kinder. Ungefähr acht. Sie umklammert ihren Arm, der offensichtlich stark geblutet hat. Er weiß, er muss sich jetzt der Realität stellen; er muss sich bewegen, aufstehen, dem Kind helfen.

Doch noch während er diesen Entschluss fasst, erschüttert ein anschwellendes, kreischendes Klirren das Verlies und reißt ihn beinahe in die Bewusstlosigkeit. Schmerz scheint ihn zu zerschneiden, ganz tief in seinem Herzen schließt sich für immer das Fenster zu einer Welt voller Grün und Sonnenlicht. Das Schiff startet. Jenny. Jimmy. Vorbei, denk nicht mehr dran. Beiß die Zähne zusammen.

Ihm ist schwindlig, er versucht, sich nicht nochmal zu übergeben; wir habens geschafft, denkt er. Was immer es war, wir haben unser Menschending durchgezogen. Wir haben alles so eingerichtet, wie sie es wollten. Beton, Kohlenmonoxyd, das Meer voller Plastik und Öl, wer weiß. Was wir auch tun, wir machens ihnen recht. Also nehmen sie jetzt ein paar von uns mit, damit wir anderswo damit weitermachen. Hunderte, vielleicht Tausende von uns. Biber. Eine Fuhre pro soundso viel zigtausend Quadratmeilen, vielleicht sogar pro Planet, wer weiß?

Inzwischen ist die Wirkung der Droge oder des Betäubungsmittels endgültig verflogen und die Schmerzen in der Hüfte und in seinem zerschlagenen Gesicht werden unerträglich. Sein Bein muss gesplittert sein, er braucht unbedingt ärztliche Hilfe. Er stöhnt unwillkürlich auf, als er versucht, sich auf die Seite zu drehen. Er fragt sich, ob ihm Joan Bannerman vielleicht helfen kann oder das fremde Mädchen auf dem Boden.

Joan Bannerman starrt blicklos vor sich hin, hat ihre Finger in den Mund gesteckt und murmelt ununterbrochen »Harry, Harry«. Keine Hilfe von ihr zu erwarten. Vielleicht von dem Mädchen?

Das Mädchen bewegt sich jetzt und wacht langsam auf. Anscheinend unverletzt. Rollt sich genüsslich, mit verschlafenem Behagen auf die andere Seite und furzt geräuschvoll.

»Mom?«

Oh Gott, das ist gar kein Mädchen. Das ist Oscar Bannerman.

»Mom!«, wiederholt Oscar mit quengelnder Stimme. Seine Mutter reagiert nicht. Plötzlich taucht aus dem Nichts eine Hand auf und schlägt Joan ins Gesicht. Jesus – dort, an der Wand hinter ihr, kauert noch ein Junge. Es ist nicht ihr zweiter Sohn, sondern der Freund der beiden, der, der die Katze erschossen hat. Billy Dee Irgendwas.

Joan Bannerman erwacht schlagartig aus der Erstarrung und beginnt ihren Jüngsten zu tätscheln, während sie immer noch ihren »Harry…«-Singsang fortsetzt.

»Schon gut, Mom.« Oscar schüttelt ihre Hand ab. Er und Billy Dee stehen benommen auf und sehen sich um. Ihr Blick ist nicht mitfühlend.

Jenseits der Schmerzen steigt in ihm tödliche Panik auf. Die Aliens, denkt er, wissen nicht viel über die Biologie der Menschen. Oder es ist ihnen egal. Vielleicht orientieren sie sich an einfachen Merkmalen wie Haaren, vielleicht hielten sie Oscar für ein Weibchen…… Ein Vorpubertärer und ein Weibchen ohne Gebärmutter, um was zu besiedeln? Ihre ökologischen Unternehmungen müssen von so gewaltigen Ausmaßen sein, dass kleine Schnitzer wie dieser keine Rolle spielen. Aus Flugzeugen werfen wir Millionen von Forellen ab, einige überleben.

»Bist du okay, Ossie?«, fragt Billy Dee.

Oscar furzt nochmal und kichert. Billy Dee nickt anerkennend, während seine kleinen, leicht schielenden Augen zwischen dem schwarzen Kind und dem verletzten Mann am Boden, ihm, hin und her wandern.

Niemand sagt ein Wort. In die Stille hinein dringt der ferne Widerhall der fremden Macht. Das kleine Jackson-Mädchen starrt Billy Dee aus stumpfen, angstvollen Augen an. Hinter ihr, im Halbdunkel der Zelle, wird jetzt die Anwesenheit einer weiteren Person spürbar.

Bitte, lieber Gott, denkt er, lass es jemand sein, der okay ist. Mühsam wendet er den Kopf, um besser zu sehen.

Es ist der dreizehnjährige Bruder des Mädchens, Payton, ein geschmeidiger schwarzer Junge, reglos kauernd, einen schimmernden Gegenstand in der Hand.

Nein. Im Klammergriff der Schmerzen lässt er den Kopf sinken und kommt zu dem Schluss, dass der keiner von den Erfolgreichen sein wird.