LUCE
Marty ist immer noch genauso charismatisch, unverblümt und gut aussehend, wie ich ihn in Erinnerung hatte.
Auch wenn es nur ein paar Monate her ist, fühlt es sich doch viel länger an.
Auf dem Weg zum Auto muss ich ihn die ganze Zeit anstarren.
Ich kann nicht glauben, dass er gekommen ist. Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich gemacht hat.
Es war so unwahrscheinlich, dass er sich ein Jahr Auszeit von seiner Doktorarbeit nehmen würde, nur um zu sehen, ob das zwischen uns funktionieren kann. Aber seit dem Augenblick, als wir uns kennengelernt haben, habe ich ihn keine Sekunde aus meinem Kopf bekommen.
Wegen ihm bin ich heute hier.
Wegen ihm hat Radioactive eine Platin-Single.
Ja, auch jeder andere hätte die Chance, mit seiner Lieblingsband um die Welt zu touren, sofort ergriffen. Aber Marty ist seine Arbeit so wichtig. Er arbeitet dafür, seit er fünfzehn war.
Trotzdem ist er hier.
Bei mir.
Und gibt uns eine echte Chance.
Auf diesem Gedanken schwebe ich dahin, bis wir den halben Weg zu meiner kleinen Wohnung in West Hollywood hinter uns haben.
Ich bin von einer Führungskraft im mittleren Management beim Label zum Bandmanager abgestiegen, was ungefähr zwei Gehaltsstufen darunterliegt. Ich kann mir daher nicht viel leisten, und L. A. ist unfassbar teuer. Aber in den paar Monaten, die ich die Band jetzt betreue, habe ich sie schon etwa zehnmal profitabler gemacht als vorher. Wenn wir so auf Kurs bleiben, kann ich mir bald meine eigene Villa kaufen.
»Also, hast du … na ja, also …«
Ich grinse. »Du kannst mich alles fragen, Marty.«
»Oh. Okay. Ähm, warst du mit jemandem zusammen, seit …« Er winkt mit dem Finger zwischen uns hin und her.
Okay, alles außer das.
Ich schüttle den Kopf. »Nein.« Aber sogar ich kann den ertappten Unterton in meiner Stimme hören, obwohl alles ziemlich unschuldig war.
Seit meiner Ankunft in L. A. habe ich gefühlt eine Million Angebote bekommen. Wenn die Band auftritt und die Leute merken, dass man sie mit hinter die Bühne nehmen kann, werfen sie sich einem nur so an den Hals. Es gab sogar ein Mädchen, das seinen Freund dazu gebracht hat, mir einen Blowjob anzubieten, als ich gesagt habe, dass ich schwul bin.
Niemand von denen hat mich in Versuchung geführt.
Aber dieser eine Kerl …
Ich seufze. »Okay, ganz ehrlich: Nein, ich hatte niemand anderen, seit ich aus Australien weg bin. Aber da war dieser Typ, der hier bei Joystar arbeitet. Er ist so eine Art Mädchen für alles, der für jeden mal arbeitet. So was wie eine permanente Aushilfe. Er ist immer da, wo er gebraucht wird.«
Ich sehe Marty an, und die Enttäuschung ist ihm deutlich anzusehen.
»Lass mich ausreden, okay? Zwischen uns ist nichts passiert, aber fast.«
»Hast du ihn geküsst?«
Ich verziehe das Gesicht.
»Luce, ist schon okay. Wir waren nicht zusammen, während du weg warst. Du hast mich ignoriert. Ich hatte massenhaft One-Night-Stands in den letzten Monaten.«
Ich packe das Lenkrad fester und frage mit zusammengebissenen Zähnen: »Wirklich?«
»Nein, natürlich nicht, du Vollidiot. Ich hab gearbeitet und versucht, dich aus meinem Kopf zu kriegen.«
»Genau das meine ich. Dieser Assistent. Rory. Er hat mich an dich erinnert. Er hat die gleiche Haarfarbe, das gleiche hübsche Gesicht. Wenn er gelächelt hat, musste ich an dein sarkastisches Grinsen denken. Ich dachte, das mit uns wäre zu Ende und dass ich nicht zurückkann. Ich dachte, eine Fernbeziehung funktioniert sowieso nicht und es würde uns beide nur verletzen, wenn wir versuchen, in Kontakt zu bleiben. Aber als er versucht hat, mich zu küssen? Da war es eben nicht das Gleiche. Mein Kopf wusste, dass du es nicht bist, und mein Herz sowieso. Das hat mich darauf gebracht, das Label zu bitten, deine Stelle zu schaffen, damit ich sie dir anbieten kann.«
Ich atme tief durch. Rorys und meine Lippen hatten sich nicht mal eine Sekunde lang berührt, bevor ich auf Abstand gegangen bin und ihm gesagt habe, dass ich kein Interesse habe, weil es zu Hause noch jemanden gibt, über den ich nicht hinweg bin. Und obwohl Marty und ich überhaupt nicht zusammen waren, hatte ich wegen dieser halben, vielleicht Dreiviertelsekunde ein so schlechtes Gewissen wie nie zuvor in meinem Leben. Wie ich es nicht einmal deshalb habe, weil ich meine Mutter damit quäle, dass sie mich Lucifer genannt hat.
»Du hast ihn nicht geküsst?«, fragt Marty mit Hoffnung in der Stimme.
Ich schüttle den Kopf. »Er hat versucht, mich zu küssen, aber ich habe ihn davon abgehalten. Und ich erzähle es dir jetzt, weil ich möchte, dass du weißt, warum ich dich in L. A. haben wollte und dir einen Job angeboten habe, für den du vollkommen überqualifiziert bist. Ich will, dass das mit uns von Anfang an richtig läuft.«
Marty sieht erleichtert aus, doch dann lässt er sich gegen die Kopfstütze fallen. »Das ist doch verrückt, Luce. Wie bin ich nur hierhergekommen?«
»Mit dem Flugzeug.«
»Wer lässt alles stehen und liegen, um einer Band und irgendeinem Typen um die Welt zu folgen?«
»Du natürlich. Man sollte meinen, mit einem Hirn wie deinem müsstest du dir diese Fragen selbst beantworten können.«
Marty senkt die Stimme. »Was, wenn es nicht funktioniert?«
»Du kannst jederzeit aus deinem Vertrag mit Joystar raus. Wenn du hier nicht glücklich bist, will ich dich nicht überreden zu bleiben. Es sind nur zwölf Monate, und acht davon sind wir auf Tour. Wir haben jede Menge Zeit, herauszufinden, was wir uns wünschen, wie wir als Paar und bei der Arbeit funktionieren und ob das alles etwas ist, was wir beide wollen. Wenn es nicht klappt, ist das eben so. Das hier ist ja nicht mal dein Berufsfeld, du riskierst also keine potenzielle Karriere. Das Einzige, was wir beide riskieren, sind gebrochene Herzen.«
»Ich will aber kein gebrochenes Herz.«
»Ich auch nicht«, gebe ich zu.
Unsere erste Unterhaltung seit Monaten ist schnell ganz schön ernst geworden, aber dann vertreibt Marty das bedrückende Gefühl mit einem Lächeln.
»Also geben wir der Sache zwölf Monate.«
Ich nicke. »Zwölf Monate.«