»Die Araber wollen keine Freiheit wie die Europäer und könnten auch nichts damit anfangen. Was sie brauchen und sich wünschen, das ist Stärke. Schon in der Frühzeit der islamischen Geschichte erwiesen sich diejenigen Gouverneure als die erfolgreichsten, die – wie etwa im Irak – Aufrührer und Gegner konsequent abgeschlachtet haben. So war der Irak ein ruhiges Land und so funktionierte es bis zu Saddam Hussein.«
Seit einer halben Stunde sitze ich am Bistrotisch in Marrakesch, umbrummt von Motorrädern, umknallt von den Peitschen der Taxi-Kutscher, umdröhnt von arabischer Popmusik und umsessen von französischen Mittsechzigern in Hawaii-Hemden, und lausche einer Wiedergabe dessen, was der palästinensisch-US-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said als »Orientalismus« charakterisierte: den Homo Arabicus, von westlichen Kolonialisten als Karikatur entworfen, als der ganz Andere: irrational, despotisch veranlagt, durch Gewalt allein zu bändigen.
Nur spricht hier eben nicht ein Kolonialist des 19. oder 20. Jahrhunderts, sondern M.M., jemand aus der Region.
Der Deutschsyrer ist bestens vernetzt, in seiner alten wie in seiner neuen Heimat. Wenn er in Damaskus ankommt, betont er, wird er dort wie ein VIP behandelt. Dort wie hier gehört er zum Establishment, lobt ebenso Deutschland für seinen Rechtsstaat als auch Assad als ein Bollwerk gegen den islamistischen Terror, und bietet sich gern als ein Mittelsmann an (daher hier das Pseudonym M.M.).
Während er seine Thesen entfaltet, ohne Lücken zu lassen, denke ich darüber nach, mit welchem Begriff man das zusammenfassen könnte, diesen Orientalismus spiegelverkehrt vom Orient in Richtung Westen reflektiert: Orientalissimus? Re-Orientalismus? Rorientalismus … Desorientalismus?
Dass wir uns im Frühjahr 2018 hier, im Café Elite befinden, am äußersten Rand der französisch geprägten Ville Nouvelle und am Beginn der langen Straße, die geradewegs zum Platz der Gaukler und Gehenkten, Dschamma el Fna, führt, hat einen Grund. Marrakesch ist M.M.s Lieblingsstadt. Gelegen in dem Reich, das von »dieser verfluchten Arabellion« verschont blieb, weil hier die starke Hand des Mächtigen, des Königs von Marokko, herrscht. Auch ich bin oft hier, und so hat M.M. kurzerhand ein Treffen vorgeschlagen. Es geht darum, ein Pressevisum für Syrien und meine Reise dorthin einzufädeln.
Nachdem er seinen »Freund den Kellner« mit Handschlag und Schulterklopfen begrüßt und einen Minztee geordert hat, erklärt er mir die Araber. An seinem Exkurs führt im Augenblick kein Weg vorbei.
Seit Deutschland zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs seine diplomatischen Beziehungen zum Assad-Staat auf Eis gelegt hat, fungiert M.M. als dessen inoffizieller Ansprechpartner und kann auch Journalisten Visa für Syrien beschaffen. Ein Anruf im Büro von Präsident Assad, sagt er, und der Weg ist für mich offen. Was umso interessanter wird, seit das Regime dank russischem und iranischem Eingreifen die Landesgrenzen wieder kontrolliert und Schleichwege so gut wie ausgeschlossen sind.
Und Syrien ist die Front, an die ich will, an der die große Auseinandersetzung stattfindet: Zwischen dem religiösen Fanatismus und der Vernunft. Der entfesselten radikalislamischen Gewalt und dem ordnenden Prinzip der Zivilisation. Hier versucht ein säkular orientierter Machthaber, sich dem bisher unaufhaltsam scheinenden Ansturm entgegenzustemmen. So jedenfalls stellen es er und seine Verbündeten dar.
Doch stehen sich hier wirklich zwei einander entgegengesetzte Prinzipien gegenüber?
Islam gegen Säkularismus, Diktatur gegen Religion? Wer kämpft hier wogegen und wer verbündet sich mit wem?
Um dem in Syrien nachzuspüren, brauche ich den Anschub von M.M., dem Mittelsmann, dem Wanderer zwischen den Ländern.
In seinem Abriss der arabischen Geschichte ist er jetzt bei der Herrschaft der Osmanen angekommen. Die hätten ihre arabischen Provinzen mithilfe einer besonderen Strategie erworben: Frauen. »Oft bildhübsche Tscherkessinnen, viele blond. Und die Araber, nicht wahr – sie lieben blonde Frauen! Und weil die Frauen bei uns zu Hause alles bestimmen, haben sie die Männer gezwungen, ihre Brüder und Cousins in hohe Ämter einzusetzen. So konnten die Türken die arabische Welt langsam durchdringen. Aber sie haben uns dann in einen vielhundertjährigen Schlaf versetzt.«
Endlich erreicht er die Gegenwart mit dem, den man verstehen müsse, statt ihn zu dämonisieren: Staatschef Baschar al Assad.
»Er hat ja blaue Augen und ich glaube, er ist selber ein Nachfahre der Kreuzritter. Aber der Westen wollte ihn nie. Weil er kritisch gegenüber Israel eingestellt ist. Deshalb blieb ihm am Ende keine andere Wahl, als die Verbindung mit Russland zu suchen.« Eigentlich sei Assad der geborene Verbündete, während die Favoriten der Bundesregierung, die syrischen Rebellen, Deutschland mit Flüchtlingsströmen vollpumpen und destabilisieren würden. Nur eine Kraft gebe es, die das in Deutschland offen ausspreche: die AfD. Aber … Er neigt sich zu mir über den Bistrotisch. »Aber gerade die wird derart zum Schreckgespenst gemacht, dass keiner sie zu wählen wagt. Dabei nimmt die Mehrheit in der CDU die gleichen Standpunkte wie die AfD ein! Ich weiß das. Ich lese ja viel, spreche viel mit Leuten, beschäftige mich viel mit den Dingen.«
Als wir 2018 zusammensitzen, gibt es in Damaskus nur eine einzige durch das Assad-Regime durchgängig akkreditierte deutsche Journalistin, Karin Leukefeld, die u. a. Russia Today Deutsch und die deutsche Tageszeitung junge welt bedient. M.M. lässt durchschimmern, dass sich dies vielleicht ändern, dass unser Treffen unter Umständen der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein könnte. Wenn ich nur anfinge, ebenfalls so »objektiv zu berichten«. Die »objektiven« Informationen von RT Deutsch und junge welt erreichen zu seinem Bedauern bisher die große Masse nicht, anders als die öffentlich-rechtlichen Sender. Nun konnte er neulich in der ARD einige meiner Saudi-Arabien-kritischen Berichte hören … kurz: M.M. scheint entschlossen, in Vorleistung zu gehen.
Andere von Deutschlands Öffentlich-rechtlichen hat er für kurze Zeit nach Syrien geschickt. Zurückgekommen sind sie mit sorgfältig gefilterten Marktszenen von der beginnenden Normalisierung Syriens unter Assad. Diesmal, verspricht er, wird er sich dafür starkmachen, dass sein Schützling hochrangige Interviewpartner aus der Assad-Regierung bekommt.
»Buchen Sie schon mal Ihr Ticket nach Beirut.« Die geschäftsführende Berliner Botschaft habe er auf meinen Besuch schon vorbereitet, dort werde man mir umgehend ein Pressevisum ausstellen. Von Beirut fahren Taxis für 100 Dollar direkt nach Damaskus. »Zahlen Sie nicht mehr als 100!« Alle angefragten Gesprächspartner ständen bereit.
Beirut, einige Zeit später. Ein schweigsamer Chauffeur fährt mich morgens um drei durchs Zentrum, vorbei am Mausoleum Rafik Hariris, durch schummrige Straßenschluchten, dem Stadtrand entgegen bis zu einem weiteren Taxistand. Die Fahrer dort verhandeln untereinander, offensichtlich über den Preis für den Mann, der mich über die Grenze bringen soll, und über die Provision für den, der diesen Fahrgast anbringt. Ein weiterer kommt, fordert per Kopfbewegung auf, in seinen klapprigen Mercedes einzusteigen. Was, wann, wie, welche Route, und wie lange? Fragen ist zwecklos, er gibt keine Antwort. Nicht 100, sondern 120 Dollar. Das Gepäck hat schon den Kofferraum gewechselt. Also los. Straßenlampen werfen trübes Gelb. Sonst bleibt alles schwarz. Das erste Sonnenlicht zeigt Feldsteine in hellem Grau. Grüne Täler. Berghäuser, die sich an Felsen klammern. Serpentinen, kleine Orte. Hier eine Kirche, dort eine Moschee. Manchmal Schilder: Damascus – Damas.
Während der Fahrt bleibt Zeit, das bisher gesammelte Material aufzurufen. Angefangen mit dem Alexander-Gauland-Interview, damals, am Wendepunkt des Syrienkriegs, als mit dem Eingreifen Russlands und des Irans die Konstellation entstand, die mich jetzt hierhergeführt hat.
Potsdam, September 2016.
Ein Gespräch für eine WDR-Sendung. Alexander Gauland sitzt alleine an der Stirnseite eines langen Tisches. Den Kopf in die Hände gestützt, die Fäuste an den Schläfen, die Augen zusammengekniffen.
An seiner Stirn pellt sich die Haut, sein Gesicht trägt noch die Spuren eines Urlaubssonnenbrands.
Bei unserem Treffen hinter friderizianischer Fassade, im entkernten Potsdamer Stadtschloss, in dem der Landtag von Brandenburg untergebracht ist, fungiert Gauland zu der Zeit noch als Fraktionsvorsitzender der AfD. Weit über dieses Bundesland hinaus ist er allerdings die meistgehörte Stimme dieser Partei.
Die Legislaturperioden vor seinem Urlaub sind vom Syrienkrieg geprägt gewesen, von der »Flüchtlingskrise«, die sich durch Russlands Eingreifen stetig verschärfte. Syrer, die jetzt aus dem Bürgerkriegsland fliehen, bringen den Islam mit nach Deutschland, weshalb die AfD Alarm läutet. Seit ein paar Monaten erlebt sie einen ungeahnten Höhenflug, und es sieht aus, als häute Gauland sich nach seinem Sonnenbrand zugleich für eine neue, ungleich bedeutendere Position in Deutschlands Politik.
Während im Vorzimmer die Mitarbeiter den Optimismus einer aufstrebenden Partei verströmen – »Hi! Käffchen, Wässerchen?« –, wirkt ihr Chef weder locker noch zugewandt oder auch nur unverkrampft. Die Augen hält er weiter geschlossen. Liegt es am Stress, ist seine Gesundheit nicht die beste, deprimiert ihn gerade etwas? Zwingt er sich mit letzter Disziplin ein Interview mit einem ab, von dem nichts Gutes zu erwarten ist? Wenn er etwas wie Verbindlichkeit aufbringt, dann zeigt sich das allenfalls darin, dass er sich auf alle Fragen einlässt, spontan und ohne Vorbereitung.
Der Islam, so hält er gleich zu Anfang fest, gehört grundsätzlich nicht zu Deutschland.
Schon Ayatollah Khomeini, für ihn so etwas wie der Ur-Dschihadist, habe den Kurs vorgegeben mit dem Diktum: »Der Islam ist entweder politisch oder er ist nicht.«
Und von dort aus leitet Gauland weiter ab: Das Politische am Islam ist die Scharia. Ein Gesetzeswerk, das über Staatsaufbau, Frauenrechte, demokratische Gesellschaft bestimmt. »Und das ist rundheraus mit unserem Wertesystem nicht vereinbar.«
Sein zweiter Kronzeuge ist der türkische Staatspräsident. Der äußere sich völlig unzweideutig. »Ich kann das nie auswendig, er hat das viel farbiger ausgedrückt«, aber die Demokratie sei für Recep Tayyip Erdoğan etwas, auf das man zeitweise mal aufspringen könne, damit man hinterher auf die Toleranz der westlichen Gesellschaften nicht mehr angewiesen sei.
Nachhaltig beeindruckt hat Alexander Gauland Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung.
Darin nutzen Islamverbände, finanziert von Sponsoren am Golf, die französische Demokratie, formen sich zu politischen Parteien um. Sie kooperieren mit alteingesessenen Parteien, mutieren schließlich zum Zünglein an der Waage, um dann eine Bedingung nach der anderen aufzustellen, bis die Schlüsselpositionen in Politik und Bildung nur noch mit Konvertiten besetzt sind, entweder Überzeugten oder Opportunisten, die die von den Golfstaaten fürstlich dotierten Positionen locken. Am Ende tragen Studentinnen den Hijab und die Pariser Shopping Malls dürfen nicht mehr »unbedeckt« betreten werden. Dieses Szenario hält der AfD-Grande für durchaus realistisch.
»Es gibt keine kräftige Spiritualität mehr in diesem Lande.«
Alexander Gauland im Interview
Die Islamisten wollten Europa für den Islam übernehmen, Gauland erkennt da eine klare Strategie. »Nicht heute, nicht morgen, aber eben langfristig.« Die Front verlaufe zwischen uns, der demokratischen Gesellschaft, auf der einen Seite. Die Muslime und mit ihr der Scharia-Islam seien auf der anderen Seite, verkörperten Denkweisen, »die uns existenziell herausfordern«. Und gerade Deutschland scheint ihm für diesen Anwurf des Islam besonders schlecht gerüstet. Hilflos im Bann seiner Vergangenheit. Gelähmt, eingeschüchtert, handlungsunfähig, unfähig, selbst die einfachsten, für seine Interessen notwendigen Entscheidungen zu treffen. Ein Land, auf das sich der Geist von 1968 gesenkt habe. Alles Fremde werde da erst mal grundsätzlich für gut befunden, selbst die Vollverschleierung von Frauen. Der Ausländer, der Ansprüche stellt, sehe sich von unseren politischen Eliten reflexartig hofiert. Weil die Devise laute: »Seid gegenüber dem Islam, dem Fremden, wie auch immer, aufgeschlossen. Denn wenn ihr das nicht seid, erinnert ihr wieder an Auschwitz …«
Aber warum, Herr Gauland, ist der Islam so dynamisch? Weil er über etwas verfügt, das wir schon lange nicht mehr haben, urteilt Gauland: »Es gibt keine kräftige Spiritualität mehr in diesem Lande.« Nicht bei uns und auch im übrigen Westeuropa nicht. Und, merkt er nach einer kleinen Pause bitter an: »Natürlich ist der Islam spirituell sehr kräftig, auch Haltungen im Islam, die wir zutiefst ablehnen, haben in dieser Religion eine breite und fest verwurzelte Basis. Und das Christentum ist bei uns« – ja, wie solle man das ausdrücken, ohne evangelische und katholische Kirche zu beleidigen – »ziemlich ausgewaschen durch bestimmte Verhaltensweisen …«
Die Klage über den Verlust von Spiritualität bildet nicht nur bei Alexander Gauland, sondern bei den Neuen Rechten insgesamt ein Leitmotiv und eine intellektuelle Grundtendenz, darauf gab es bei der Vorbereitung auf das Interview einige Fingerzeige. Neurechte Zeitschriften und Plattformen greifen dabei immer wieder auf die drei großen Vordenker der konservativen Revolution zurück und erheben sie auch heute wieder zu ihren Leitgestirnen: Martin Heidegger, Carl Schmitt, vor allem aber Ernst Jünger. Bei dem schriftstellernden Frontoffizier ziehen sich die Warnungen vor einem säkularisierten, amerikanisierten, traditionsvergessenen Westen durch das ganze Werk.
In seinem Buch Strahlungen sagt Jünger sinngemäß: Eine Gesellschaft, die den Verlust von Bindungen zu beklagen hat, darf sich nicht wundern, wenn zerstörerische Kräfte nach oben kommen.
Würde das auch der AfD-Politiker unterschreiben? Als Jüngers Name fällt, blickt Gauland zum ersten Mal auf und seinem Gesprächspartner groß und forschend in die Augen.
Strahlungen hat er gelesen. An die konkrete Textstelle erinnert er sich nicht. »Aber natürlich ist es völlig richtig, dass, wenn die geistigen Kräfte in einem Land stark nachlassen, dann sich andere Kräfte von einer stärkeren Geistigkeit an die Stelle bringen. Das erleben wir ja mit den Einwanderern, deren Moscheegemeinden sehr viel mehr gefüllt sind als die christlichen Kirchen. Das ist nicht nur eine Sichtweise von Ernst Jünger …«
Der Zeitzeuge des Ersten Weltkriegs, der Autor der Stahlgewitter – seit der Vorbereitung auf das Gauland-Gespräch, auf Reisen, im Zug, im Flugzeug und wieder hier, im Taxi auf der Fahrt an die syrische Grenze, stöbere ich mich durch das Werk, so weit ich es bisher aufgetrieben habe. In Stahlgewittern, die Berichte aus dem Ersten Weltkrieg. Der Kampf als inneres Erlebnis. Strahlungen, die Tagebücher aus dem Paris der deutschen Besatzung und der, wie es Jünger nennt, anschließenden »Zeit der Okkupation« durch alliierte Sieger … Einiges davon erschließt sich direkt, ist blanke Action, wie die Kampfberichte von der Westfront 1917/18. Bei anderem muss man sich auf die penibel gedrechselten Gedankengänge und umständlichen Beschreibungen einlassen. Käfer, Meerestiere und Insekten als Inbegriff des Ewigen, angestammte Ordnungen, an die zu tasten an Urgründe der Elemente rührt …
»Mister: border Syria!« Nach etwa zwei Stunden die Grenze. Ein verstaubter Autobahn-Übergang. Wartehalle mit abgewetzten, an Stangen montierten Holzsitzen. Nur wartet keiner. Der Libanese mit der Tellermütze gähnt, stempelt, winkt weiter. Bei den Syrern am Schalter wird ein schläfriger Uniformierter jäh wach, als er den deutschen Pass sieht. Hm. Er nimmt ein rotes Plastiktelefon, spricht länger mit einem Vorgesetzten. Dann dreht und wendet er das Dokument umständlich, drückt schließlich den Stempel drauf und versinkt danach wieder in Apathie. Die Route führt durch Niemandsland, bis das erste Monumentalporträt Assads auftaucht. Von diesem Punkt an dauert es eine knappe Stunde, bis wir im Herzen von Damaskus sind, an der Mazze Street, an der sich auch das Business-Center und in dessen Innern das feudale Hotel befindet, das mir der Deutschsyrer in Marrakesch als die übliche Unterkunft seiner Schutzbefohlenen nahegelegt hat. Fahrstuhl. Getäfelte Rezeption. Flure, in denen Firmen ihre Damaskus-Büros unterhalten. An einem prangt der Name SIEMENS. Es öffnet sich eine Riesenhalle, mit mehreren Galerien. Im Erdgeschoss Palmen und Gummibäume, aus einem Brunnen rieselt Wasser. Von den Galerien gehen die Zimmer ab, auch meines. Weitläufig mit eigener Pantry, Schreibtisch, gepolsterter Sitzecke. Gegen 16 Uhr meldet sich auf meinem Zimmer Mr. Nihad vom offiziösen Tishreen Newspaper und stellt sich als mein Journalistenbegleiter im Auftrag des Ministeriums vor. Ein etwas aus der Zeit gefallener 55-Jähriger mit Bundfaltenhose, korrekt eingestecktem Oberhemd, Schnurrbart und schütterem graumelierten Haar, der ein überaus korrektes Englisch spricht und auf Umgangsformen achtet. Andererseits raucht er Kette, ohne vorher zu fragen. Das Fenster zu öffnen oder auf den Gang zu treten gehört nicht zu seiner Etikette. Über seine Position lässt er von Anfang an keinen Zweifel, stellt sich als Alawit vor, »aus derselben religiösen Gemeinschaft wie der Präsident«, und beginnt sogleich über die »falsche Opposition« zu sprechen. Terroristen, die unter diversen islamischen Logos firmieren und ihn vor einiger Zeit noch in seiner eigenen Nachbarschaft mit AK-47 in den Händen bedrohten. »Ich aber beschämte sie, als ich, die Waffe auf mich gerichtet, das islamische Glaubensbekenntnis sprach.« Es folgen ein paar Andeutungen. Im Informationsministerium, so schließe ich daraus, führt am Ende seine Expertise zur Entscheidung darüber, ob meine Terminwünsche auch umgesetzt werden und ob man mein Visum vom üblichen Vier-Tage-Visum auf Probe zu einem längeren Pressevisum machen wird.
Nihad, in Syrien der ständige Begleiter
Abgeschabte Fassaden, aufgerissenes Straßenpflaster, Autos mit Löchern und Rissen im Blech und unlackierten Beulen. Assad-Fotos an jeder Ecke und in zahlreichen Variationen. Damaskus, im siebten Jahr des Bürgerkriegs, überzogen mit einer Patina der 1970er oder 1980er Jahre, die schwer dingfest zu machen ist. Etwas hängt in der Luft von vordigitalem Zeitalter, obwohl das Handy im Stadtbild gang und gäbe ist, etwas von Kabeln, Blech, von zäh und mühsam ächzenden Wählscheiben, von Teer und Holz.
Oder sind es die Menschen, die diesen Eindruck verströmen? Du springst auf einen Bus, der eher ein Gehäuse ist und längst schon keine Türen mehr hat. Zwängst dich vorbei an einem abgespannten Fahrer, dem, während er am Steuerrad kurbelt, eine Zigarettenkippe zwischen den Fingern klemmt, hältst dich fest an einem rutschenden Ledergriff, zwischen schweigenden, die Augen senkenden Menschen. Die meisten Frauen tragen ihre Röcke bodenlang, Kopftüchern und einige dazu dick aufgetragenes Make-up. Herren mit großen Schnurrbärten, ausgeblichenen Bügelfaltenhosen zu zerknautschten schwarzen Schuhen, die Hemden spannen sich korrekt und knapp über dem eng sitzenden Gürtel. Auch von ihnen führen viele immer wieder Zigaretten an den Mund, pusten den Qualm wie einander überschneidende Kondensstreifen in den Muff des dicht besetzten Busses. Es hupt, wackelt, ruckt und knallt ohne Federung in die Asphaltlöcher.
Die Atmosphäre eines arabischen Landes, ja einer Welt, die dreißig, vierzig Jahre zurück ist, auch im Vergleich mit anderen arabischen Ländern.
Auf dem Nebensitz erörtert Nihad das spezifisch syrische, das Pressevisum auf Widerruf. Immer endet es nach vier Tagen, und heute ist der letzte Arbeitstag vor dem Wochenende, mit dem auch der Aufenthalt de iure schon wieder vorbei wäre. Höchste Eile ist geboten, um zunächst die Verlängerung zu erreichen, ohne die der Aufenthalt hier sinnlos wäre. Also zum Informationsministerium, ohne eine Minute zu verschenken.
Im Informationsministerium fliegt Mr. Alaa Ibrahim ins Büro hinein, ein noch junger Hipster im blauen Anzug mit modischem Dreitagebart.
Noch einmal nimmt er alles auf, die ganze Liste: Gespräch mit Seiner Exzellenz dem Großmufti; dem stellvertretenden Außenminister; dem Minister für die nationale Versöhnung. Das wird einige Tage dauern. Baath-Partei? Er wirft den Arm über den Kopf, macht eine wegwerfende Gebärde, als handele es sich um ein antiquiertes Thema … Na gut, fragen kann man. Für drei weitere Tage unterschreibt er erst mal provisorisch die Erlaubnis, sich in Damaskus zu bewegen, in Begleitung von Mr. Nihad, mit dem er einen raschen Blick wechselt. »Sie dürfen mit ihm zusammen Leute interviewen und Aufnahmen machen. Ich vertraue Ihnen.« Der Subtext ist klar: »Fremder, spuckst du in die Hand, die dir Hilfe anbietet?«
»Mit dem fatalen Gefühl eines Mannes, der sich auf ein ungewisses Abenteuer eingelassen hat, hörte ich neben mir das trockene Knistern der herausgerissenen Zündschnur und sah, wie Wohlgemut, um sich möglichst wenig zu zeigen, die Handgranate ganz flach über den Boden rollen ließ. Sie blieb im Gestrüpp, beinahe zwischen den Engländern liegen, die nichts bemerkt zu haben schienen. Es vergingen einige Augenblicke höchster Spannung.
›Krrrach!‹ Ein Blitz beleuchtete taumelnde Gestalten. Mit dem Angriffsschrei ›You are prisoners!‹ stürzten wir uns wie Tiger in die weiße Wolke.«4
Ernst Jüngers Stahlgewitter erzeugen nach mehreren Tagen Lektüre einen latenten Unterton von rollendem Kanonendonner. Erst beim Lesen, dann beim Einschlafen, wenn ich die Augen schließe, und schließlich auch beim Aufwachen, wenn ich das Buch nur von weitem betrachte, das, versehen mit meinem Flugticket als Lesezeichen, auf der Kommode am Fußende des Bettes liegt. Pünktlich zum Sonnenaufgang vermischt sich dieser innere Donner mit dem hiesigen, der dann heranrollt und sich über den ganzen Tag erstreckt.
Kaum scheint er direkt über einem, geht er in Schwirren über. Kurz darauf schlägt etwas dumpf ein, entfernt und nicht sehr laut. Auf dem kleinen Kühlschrank neben dem Bett klirrt das Kaffeeglas. Schwarzer Rauch kräuselt sich am Horizont. Und jeden Morgen gegen zehn füllt Rauch und Dampf das Zimmer.
Die weißen Schwaden auf dem Nachttischchen stammen vom Wasserkocher. Die grauen an der Tür von Zigaretten. Auch heute schiebt sich wieder augenbeißender Rauch unter der Schwelle durch.
Eigentlich war die Pension »Brazil« in Damaskus in den 1930er oder 1940er Jahren als Wohnung konzipiert worden.
Im Korridor sitzt Georges, der Rezeptionist, tagein, tagaus zwischen dem WELCOME- und dem DO-NOT-SMOKE-Schild und qualmt, bis sein Aschenbecher an Kippen erstickt. Ich sitze auf dem kombinierten Schlaf-, Ess- und Arbeitsbett, den Laptop auf dem Schoß und ein paar Kekse frühstückend.
Auf dem Stuhl neben dem Bett fummelt mein Überwacher Nihad die nächste Zigarette aus der Schachtel. Kein Termin kommt ohne Nihad zustande, kein Gespräch ohne seine Begleitung, kein Mikrofon kann gezückt werden, ohne dass er danebensteht. Inzwischen begreife ich, weshalb er ständig qualmt, als gälte es sein Leben. Nihad betrachtet Rauchen als Körperfunktion des gesunden Mannes. Dass jemand so etwas nicht aushält, es zudem für retro, antiquiert und 1980er Jahre hält, bleibt ihm suspekt. »Im Westen«, so sein Argument, »erlasst ihr alle möglichen übertriebenen Restriktionen; dafür kauft ihr dann an jeder Ecke Drogen.« (Mit seinem arabisch-nationalistischen Schnurrbart wirkt er in der Tat etwas retro.)
Auf dem Balkon, hinter der halb geöffneten Glastür, sitzt heute dieser Leutnant als Verbindungsmann zu Assads Streitkräften, vielleicht 28 oder 30 Jahre alt. Seinen grauen Rauch lässt er in der Loggia aufsteigen. Den Instant-Kaffee hat er abgelehnt. Stattdessen beißt er in die Droge seiner Generation, einen von den sündhaft teuren Äpfeln, die sie unten zu Stückpreisen verkaufen, auf dem kleinen Markt des Wohnviertels. Der Leutnant ist von der Politischen Abteilung des Militärs. Ein junger, untersetzter Mann, ein Fast-Food-Klops in Tarnfleck. Wenn ich auf seine Frage hin weiter aufzähle, worin sich Syrien von Deutschland unterscheidet (in Syrien rauchen alle immer), lacht er bei jedem Punkt, kurz und meckernd. Er scheint gutmütig, zum Scherz bereit, allerdings immer unruhig und in Eile. Während er den Apfel eilig abnagt, stampft er unablässig mit dem Springerstiefel auf. Nur ungern hat er sich bewegen lassen, vor unserem Aufbruch schnell etwas zu sich zu nehmen. Er kneift die Augen zusammen, blickt vom Balkon in den Himmel, ortet die Luftlage. In Yarmouk, wo wir hinwollen, wird nicht mehr bombardiert, der IS dort gilt als sturmreif. Russische und syrische Jets stoßen jetzt nur auf Hadschar al Aswat herunter, auf das andere der letzten beiden Viertel, die in der Hauptstadt noch unter Kontrolle der Rebellen sind. Und wo es anders zugeht als in diesem leicht verstaubten und verarmten, aber intakten Wohnviertel mit seiner Ansammlung von Kramläden, kleinen Moscheen, Märkten, Cafés und Elektronikgeschäften.
Damaskus ist erwacht. Ein neuer Jet donnert heran. Schwirren. Pfeifen – bumm. Die Flugzeuge sind nicht zu erkennen. Nihad betont, es seien keine russischen, sondern ausschließlich syrische Maschinen.
»Die Terroristen verschanzen sich in den Gebäuden, in den Kellern, in den übrig gebliebenen Stockwerken. Die Regierung hat keine andere Wahl, als die Luftwaffe einzusetzen«, sagt er in dem korrekten Englisch, das in den 1980ern sein Studienfach gewesen ist.
Schutt knirscht unter unseren Schuhen, als wir eine Dreiviertelstunde später durch die Ruinen von Yarmouk stapfen, der Leutnant, Nihad und ich hinter einem anderen Offizier in Tarnfleck her, der uns zur Frontlinie führt. Die beiden Militärs in ihren Springerstiefeln, mein kettenrauchender Begleiter mit geputzten schwarzen Straßenschuhen, Bundfaltenhose und stramm darin steckendem Oberhemd. Dann ich, wie ein wandelnder Gegenentwurf in Schlabberhemd und beiger 1000-Taschen-Hose, diverse Utensilien dort eingesteckt, vom Mikrofon über die Batterien bis zum Fotoapparat.
In den Ruinen von Yarmouk
Hier, in dem ehemaligen Palästinenserviertel, klingt der Krieg nicht mehr dumpf und weit entfernt. Der Schuss, der jetzt zu hören ist, knallt laut und trocken. Er könnte hinter einem dieser Schutthaufen abgegeben worden sein. Er kommt von vorne, meint der Frontoffizier, der vor dem Leutnant jetzt die Führung übernommen hat, vielleicht von irgendeinem Punkt hinter der nächsten Straßenecke, an der ein halb zerstörtes Gebäude aufragt. Wo wir stehen, ist die Grenze. »Dahinter kann der IS dich sehen, sie haben Scharfschützen auf den Stockwerken von noch stehenden Häusern postiert.«
Zwei Soldaten, die uns entgegenschlurfen, trauern um einen Kameraden, einen Freund, den gestern ein IS-Scharfschütze in den Hals traf.
»Soldaten« nennt sie Nihad. Alle hier wissen, dass alle wissen, dass es sich um regimefreundliche Milizionäre handelt, durchsetzt mit ein paar Offizieren der Armee.5
Der IS-Miliz und den anderen Dschihadisten stehen oft keine Soldaten mehr gegenüber, sondern die Privattruppen einiger Geschäftsleute und Warlords aus der Assad-Entourage. Offiziell nicht existierend und daher auch an keinerlei Rücksichten oder Kriegsregeln gebunden. Hinzu kommt die Hisbollah, kommen die anderen Garden aus dem Iran oder, wie Quellen das von Yarmouk berichten, irreguläre Verteidigungskräfte, von Iranern ausgebildet.
Männer aller Altersstufen bewegen sich durch diese Trümmer, in höchst unterschiedlichen oliv, grün, beige gescheckten Tarnuniformen, wie sie der Second-Hand-Markt weltweit als Militaria anbietet. Keiner trägt Schutzweste oder Helm. Manche haben sich im Erdgeschoss hinter den zerstörten Fassaden einen Kochplatz eingerichtet oder Schlafmatten dort hingelegt. Einige bereiten auf Gaskochern ihren Tee. Wieder andere knattern auf Mofas ihren Einsatzpunkten entgegen.
Yarmouk lässt sich nur noch in seinem Grundriss ausmachen. Waren die Straßen hier vorher asphaltiert? Jetzt jedenfalls führen sie als Schotterpisten zwischen Fassaden entlang, von denen meist nur noch Teile stehen. Dahinter: alles ausgeweidet. Mehrstöckige Etagen, zu Steinhaufen zerbröckelt, aus denen Eisenträger und rostige Drahtgestänge aufragen. Manchmal liegt eine Betonplatte wie von einem gewaltigen Handkantenschlag zerteilt quer über den Resten eines Hauses. So geht es kilometerweit. Vergleiche mit Hamburg 1943 oder Dresden 1945 bieten sich an. Doch hier erstreckt sich das Flächenbombardement lediglich auf die Stadtviertel, in denen die ISler sich verschanzt haben. Brandflecke im ausgefransten Orientteppich Damaskus.
Das letzte Gebäude vor der Front ist das noch recht gut erhaltene, wenn auch ausgebombte Gericht des sogenannten Islamischen Staats. Über den leeren Fensterhöhlen des Eingangs prangt das Hoheitsabzeichen, weiße Schrift auf schwarzem Grund. Der Nervenkitzel, da hineinzugehen, lässt sich dank einer intakten Außentreppe sofort befriedigen. Ein kahles Büro, ausgeweidet, verkohlter Schutt bedeckt den Boden.
Was spielte sich vor Tagen noch hier ab, wer ging hier ein und aus? Jünglinge mit langen dünnfaserigen Bärten, Teenager, die Familienvätern unter Segensformeln ihr Todesurteil vorlesen und sie anderen überantworten. Andere Teenager, die den um ihr Leben Bettelnden gleich an der nächsten Ecke den Genickschuss verpassen. Oder sie an irgendeiner Laterne aufhängen, kichernd und feixend über das Strampeln ihrer Opfer, das erst langsam schwächer wird. Oder waren es vielleicht Ältere? Buchhaltertypen? Der nette Metzger von nebenan, der mit dem geübten Schlag des Fleischers eine Hand abhackt und dank seiner Erfahrung dem Blutstrahl routiniert ausweicht, während eine aus den Kellerlöchern ringsum hastig zusammengeklaubte Menge zum Zusehen genötigt wird?
»IS« – für Nihad sind solche Namen Schall und Rauch. Islamischer Staat, Dschabat al Nusra, Armee des Islam – alles dasselbe. Unterschiedliche Islam-Vorstellungen? Alle dieselben Terroristen.
Im Gerichtsgebäude des »Islamischen Staats«
»Die Namen sind austauschbar, je nachdem, wer gerade Geldgeber ist: Katar, Türkei, Saudi-Arabien …«
Der Kampfkommandeur von Yarmouk, ebenfalls ein Untersetzter in oliv, pflichtet ihm bei.
Seinen Gefechtsstand hat er in einer der Ruinen eingerichtet und zeigt auf Satellitenkarten die Positionen des Feindes. Für ihn ist dies hier gleichzeitig die Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation. Die Barbarei verkörpert durch die von den arabischen Golfstaaten, von Saudi-Arabien und Katar geschickten islamistischen Horden. Aber auch durch Israel und die USA, durch diejenigen, die sich in der Region als Bollwerke westlicher Werte gerieren. Hier also zeigen sie ihr wahres Gesicht. Die Zivilisation verteidigt, stellvertretend für die Menschheit, allein das Assad-Regime.
»Ein wüstes Spiel wickelte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Ich hielt meine Pistole mitten in ein Gesicht, das mir wie eine blasse Maske aus der Dunkelheit entgegenleuchtete. Ein Schatten schlug mit quälendem Aufschrei rücklings ins Drahtverhau. Es war ein schrecklicher Schrei, etwa: Uäh – wie ihn der Mensch vielleicht nur findet, wenn ihm ein Gespenst entgegentritt.« Ernst Jüngers Stahlgewitter … Hier in Damaskus ist Jünger mir fast zur makaberen Unterhaltungslektüre geworden, während Georges’ Rauchschwaden allabendlich unter der Türschwelle hervorschweben und das Licht der Nachttischlampe die Absätze aufhellt.
Die Passage könnte auch den Alltag in Yarmouk wiedergeben.
Und, auch das gehört zur Wahrnehmung dazu: Zeilen wie diese liefern ein paar Rückschlüsse darauf, was mich selbst hierher führt. Natürlich bin ich hier, um Politik zu verstehen, verborgene Strukturen aufzuspüren oder – wie M.M. hofft – den Dämonisierten zu »entdämonisieren«. Was ist es aber, was einen reizt, den Kopf ein paar Sekunden über die Mauer des letzten eroberten Gebäudes zu heben und auf das Dahinter zu spähen? Was bringt einen dazu, bis dorthin zu gehen, wo der Schuss nicht nur zu hören ist, sondern auch der damit verbundene Luftdruck spürbar? Weshalb ist man eigentlich überhaupt hier und nicht in irgendeinem Büro? Nur der politischen Analyse wegen?
Dort, wo es bequemer ist, nicht weiterzudenken, taucht Stoßtruppführer Jünger mit seinem Beutel voller Handgranaten auf – fordert einen auf, neben ihm Deckung zu nehmen und erzählt raunend, wie er einfach nur aus dem Alltag wegwollte, zuerst als Wandervogel mit der Botanisiertrommel bei den Insekten die Urgründe des Lebens suchte: Kampf! Sieg oder Tod! Schönheit oder Mimikri! Und wie er dann als Siebzehnjähriger kurz vor dem Abitur zur Fremdenlegion aufbrach, einfach nur weg vom scheinbar ausweglos vorherbestimmten Leben des fortschrittsgläubigen Fin de Siècle, das jede Abweichung bestrafte und jede Initiative in die ausgetretene Bahn zurückverwies.
Und was treibt die Männer in den unterschiedlichen Tarnfleckuniformen an, die einander hier gegenüberliegen? Nur der Glaube auf der einen und der Zwang sich zu verteidigen auf der anderen Seite? Von Bagdad über Damaskus bis Beirut, Kabul, Kundus, Sanaa und Aden, überall laufen sie herum in Kampfdress, Springerstiefeln, Knarren, »wie geschmeidige Raubtiere auf dem Asphalt« – so beschreibt Jünger diesen kampfgestählten neuen Menschen. Wobei an den meisten dieser Orte vom Asphalt inzwischen nicht mehr viel geblieben ist.
Junge Männer um die zwanzig, die vorher ihre Mütter und manchmal ihre älteren Schwestern darum bitten mussten, ihnen Geld fürs Café oder den Billardraum zu geben. Die ihre Augen senkten, wenn sie Altersgenossen oder Älteren begegneten, die mit Aktentaschen auf dem Weg zur Arbeit waren.
Ist es allein der Kampf für Ideale? Und wenn der Sieg einmal errungen ist, hängen sie alle dann den Tarnfleck an den Nagel, ziehen die Springerstiefel aus und legen die Knarren weg? Werden sie wirklich auf den Kitzel verzichten, die Träger von Aktentaschen nach Belieben herumstoßen, ihnen Befehle erteilen und sie vor sich zittern sehen zu können? Oder ist es nicht vielleicht der Kitzel, der sie umgekehrt erst zu theologischen und politischen Begründungen führt?
»Links neben mir feuerte Wohlgemut seine Pistole ab, während Bartels blindlings eine Handgranate zwischen uns schleuderte. Beim ersten Schuß war mir das Magazin aus dem Pistolenkolben gesprungen. Ich stand schreiend vor einem Engländer, der sich entsetzt mit dem Rücken in den Stacheldraht preßte, und drückte immer wieder vergebens den Abzugsbügel zurück …«6
Liest man das in Hamburg, Köln oder Berlin, wird man aus der Routine herauskatapultiert. Nicht unbedingt in die Metaphysik. Aber mindestens in eine Welt hinein, in der Leben und Besitz nicht alles sind, in eine atavistische, wilde Welt, in der Männer kämpfen und kämpfen müssen und die Schicksale von Völkern nicht entschieden werden können, ohne dass getötet und geopfert wird. In diesem Viertel von Damaskus geht es laut Regime darum, die Zivilisation gegen die religiös Fanatisierten zu verteidigen, und für die ISler darum, die Gottesherrschaft gegen den Unglauben zu verteidigen – je nachdem. Für den von Gauland beanspruchten Vordenker Ernst Jünger war es nicht entscheidend, wofür dieses Opfer gebracht wird und wofür man den anderen tötet. Das Opfern und das Töten selber waren der Sinn. Der Feind war für ihn nur vordergründig derjenige, in dessen Schützengraben er hineinspringt, um ihn umzubringen. Diesen Feind zu haben ist ihm natürlich, und er lehnt den auf der anderen Seite nicht ab, nur weil der auf ebenso natürliche Weise gegen Feinde kämpft. Der eigentliche, der wirkliche Feind ist für ihn vielmehr derjenige, der Kampf und Schützengräben überhaupt ablehnt und Töten als sinnlos betrachtet. Allein die Frage nach dem Sinn des Kampfes betrachtet er schon als verfehlt. Der Kampf ist der Sinn. Deshalb trennt er auch die jeweiligen Kontrahenten nicht. Beide sind sie für ihn »Teile einer Kraft, zu einem Körper verschmolzen. (…) Der Tod für eine Überzeugung ist das höchste Vollbringen. Es ist Bekenntnis, Tat, Erfüllung, Glaube, Liebe, Hoffnung und Ziel: er ist auf dieser unvollkommenen Welt ein Vollkommenes und Vollendung schlechthin. Dabei ist die Sache nichts, die Überzeugung alles. Mag einer sterben, in zweifellosen Irrtum verbohrt; er hat sein Größtes geleistet. Mag der Flieger (…) tief unter sich zwei gerüstete Heere zu einem Gott um den Sieg ihrer gerechten Sache beten sehen, so heftet sicher eins, wahrscheinlich beide, einen Irrtum an seine Fahnen; und doch, ein Gott wird beide zugleich in seinem Wesen erfassen. Der Wahn und die Welt sind eins, der Sieg ist nicht die Wahrheit, wer für einen Irrtum starb, ist doch ein Held.«7
Anders gesagt: »Nicht wofür wir kämpfen, ist das Wesentliche, sondern wie wir kämpfen.«8 Die wirklichen Feinde im ausgehenden Ersten Weltkrieg sind also nicht die auf der anderen Seite, sondern alle, die im Angesicht der Niederlage Deutschland noch rasch in die »westliche Wertegemeinschaft« eingliedern möchten, wie man es später nennen würde:
»Deutschland verlor den Krieg, indem es stärkeren Anteil am westlichen Raum, indem es die Zivilisation, die Freiheit und den Frieden im Sinne des Barbusse gewann. Aber wie konnte man ein anderes Ergebnis erwarten, da man doch selbst beteuert hatte, an diesen Werten Anteil zu haben und um keinen Preis gewagt hätte, den Kampf zu führen außerhalb ›jener Mauer, die Europa umschnürt‹. Das geheime Urmeter der Zivilisation wird in Paris aufbewahrt, und wer es anerkennt, der wird gemessen, anstatt dass er die Maße gibt. (…) Bei uns heißt, an (europäischen) Werten noch teilnehmen, ein Mensch von gestern, ein Mensch des 19. Jahrhunderts zu sein.«9
Kann man sich auf die westliche Werteordnung berufen, mit Ernst Jünger als Idol?
Bei unserem Gespräch in Potsdam hatte der bloße Name des Frontschriftstellers Gaulands Anspannung gelöst. Er hatte aufgehört, die Augen zuzukneifen. Eine Saite war da angeschlagen, die bei ihm etwas zum Klingen brachte. »Ich habe ihn ja selbst noch kennengelernt«, bekannte er auf einmal.
Wirklich? Wie war der alte Herr denn so? Gauland lehnte sich zurück, geriet ins Erzählen von seinen eigenen Gesprächen mit dem Autor der Stahlgewitter und der Strahlungen. »Man konnte wunderbar mit ihm über alle politischen Erscheinungen diskutieren. Nur nicht über seine Bücher.« Er schmunzelte. »Was er einmal geschrieben hatte, war für ihn abgeschlossen, da wollte er nicht diskutieren. Das ist die einzige Schwäche, die ich von Ernst Jünger in Erinnerung habe.« Also: Teilt er dessen Klage über den Verlust an Spiritualität?
»Natürlich, das habe ich ja gerade darzulegen versucht. Die Sichtweise würde ich teilen. Und Jünger hat ja – ich will nicht sagen: gelitten, dazu war er ein zu sehr in sich selbst wurzelnder Schriftsteller und Künstler – aber er hat ja diese Probleme sehr deutlich auch in mehreren Büchern beschrieben.« Aber: Die verlorene Spiritualität in westliche Gesellschaften zurückbringen, das könne man nicht über die Politik erreichen.
Verlorene Spiritualität: Was genau bedeutet das für Jünger und die Jünger Jüngers? Den Schwund von Bindungen, von Hoch und Nieder, Aristokratie und Ritterschaft, Volk und Obrigkeit, Offizier und Mannschaft? Das verlorene Bewusstsein dafür, dass es etwas Höheres gibt als das Leben; für Opferbereitschaft? Klar ist, nicht nur Gauland, sondern auch andere Leitfiguren der Neuen Rechten zeigen sich von dem Kampfschriftsteller fasziniert. Das langsame und eingeschränkte Internet in der »Brazil«-Pension gewährt Einblick in diverse Veröffentlichungen; viele in der Sezession, einem der wirkmächtigsten Medien der rechten Intellektuellenszene.
Geht es um IHN, greift sogar ihr Verleger Götz Kubitschek zur Feder. Kubitschek, Gründer des Antaios-Verlages und des Instituts für Staatspolitik, erinnert sich in einer literarischen Skizze des Tags im Jahre 1998, an dem er vom Tod des Schriftstellers erfuhr. Als Bundeswehroffizier war er damals in Bosnien stationiert, er kleidet sich erzählerisch ins Alter Ego eines Leutnants Riebach, eines ebenso melancholischen wie hellsichtigen jungen Mannes.
»Nur zufällig«, so beginnt er, »hatte Leutnant Riebach zwischen zwei dienstlichen Gesprächen einer Radiomeldung entnommen, daß Ernst Jünger gestorben sei. Erst am Abend fand er Zeit, über diesen Verlust nachzudenken. War es überhaupt ein Verlust? Was lag an der Person des uralten Schriftstellers, den er nie kennengelernt hatte? Ernst Jünger: Das waren vor allem die frühen Kriegsbücher, die man als junger Offizier ein Dutzend Mal las, auch die Marmorklippen, die zum literarisch Mutigsten gehörten, das er kannte: Ego non in gefährlichster Lage. Diese Bücher waren ja nicht mitgestorben. Was Riebach als Verlust empfand, hatte nur indirekt mit dem Tod Jüngers zu tun: Er spürte, daß das, was an den Alten verlorenging, nicht durch gleiche Kaliber ersetzt wurde. Lücken klafften auf und blieben unbesetzt. Das war es, worüber Riebach nachdachte, als er seinen abendlichen Gang auf der staubigen Zufahrtstraße auf das Tor des Feldlagers hin machte.«10
»Die frühen Kriegsbücher, die man als junger Offizier wohl ein Dutzend Mal las.« Dazu gehört In Stahlgewittern, wo Jünger die Erlebnisse beschreibt, die ihm als jungem Leutnant schließlich den selten vergebenen Orden »Pour le Mérite« einbrachten.
Demgegenüber Riebachs öder Dienstalltag. Wie mag der ausgesehen haben im bosnischen Bundeswehrlager zwischen Mülltrennung, RTL und Biomüsliriegel? All das, was Jünger schildert, will die Bundeswehr um jeden Preis verhindern. Riebachs Mission als Friedenswahrer beginnt nicht mit Tod und Opfer, sie würde dadurch aufgehoben. Gäbe es doch Krieg, würde es für die Bundeswehr heißen: zurück nach Hause. Bloß keine Verletzten, schon gar keine Verluste!
Im Bürgerkrieg der Serben, Kroaten und Bosnier kam es erstmals seit 1945 wieder zu Völkermorden in Europa, es gab Konzentrationslager, Gemetzel an Frauen, Kindern, Unbeteiligten, nur weil sie zu einer anderen Ethnie, einer anderen Religion gehörten. Und es gab die Schreibtischtäter, die so etwas befahlen. Aber nicht das beklagt Götz Kubitschek alias Riebach. Er trauert um das Kampferlebnis:
»Riebach blieb stehen und blickte in die rote Sonne, die hinter einem Hügel verschwand. Du kleiner Schwätzer, dachte er. Vergleichst dich selbst mit Jünger. Stundenlanger Dienst hinterm Schreibtisch und hin und wieder kalte Tage auf Erkundungsgängen. Abends dann ein Glas Wein zu den Stahlgewittern. Die Zeit gibt nicht mehr her. Du hast noch nichts bewiesen, Riebach.«
Der Staub der Straße, die zum Bundeswehr-Feldlager führt, rieselt auf all das hernieder, was Krieg und was Soldatentum bedeutet. Bosnien: ein Einsatz zum Erhalt des Friedens, der erst nach Ende eines blutigen Bürgerkriegs begonnen hat. Die Abendstimmung hier erscheint in Kubitscheks Skizze als Inbegriff des Späten, einer Zeit der Nachgeborenen, in der das Leben nur noch Hülle ist. Mut, Herausforderungen, Entscheidungen über Leben und Tod, ein starkes Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ernst Jünger hatte davon noch übergenug. Was bleibt davon im Bosnien des Jahres 1998?
»Die Sonne war untergegangen. Riebach beendete seinen Gang und trat in die matt erleuchtete Bar. Er traf auf Kameraden und setzte sich zu ihnen. Fast verwundert stellte er fest, daß sich das Gespräch um den Tod Jüngers drehte. Er beteiligte sich kaum, hörte jedoch bald heraus, daß sich die Diskussion mehr aus den Nachrufen der verschiedenen Zeitungen speiste, weniger aus den Ergebnissen eigener Jünger-Lektüre.«
Die knappe, scheinbar emotionslose Beschreibung. Die Kasino-Atmosphäre in der Bar, wo sich nach getanem Tagwerk, wenn es auch nur noch ein müder Abglanz des einstigen Offizierstagwerks ist, immerhin eine gewisse Elite zusammenfindet. Und vielleicht die Zeiten wieder aufleben lässt, da Deutschland nicht ein Friedensstifter im Auftrag einer Weltgemeinschaft war, sondern da es seine Vision von der Welt mit Blut und Eisen aufzuzwingen unternahm.
In der Beschreibung spiegelt sich die Optik und zusehends auch die Diktion Ernst Jüngers. Bürger in Uniform drücken sich jedenfalls anders aus:
»›Du bist zerstreut und beteiligst dich nicht an unserem Gespräch.‹ Leutnant Stutzer klopfte Riebach auf die Schulter und hob das Glas. ›Auf den alten Käfersammler!‹ Lachend stießen die Offiziere an.
›Morgen Abend gebe ich eine Lesung, ich werde einige Stellen aus den Stahlgewittern vorlesen. Dich, Kramer, bitte ich, daß du Klavier dazu spielst.‹ Er erhob sich: ›Und jetzt bin ich müde.‹«
Riebachs alias Kubitscheks Konzept von Stahlgewittern mit Klavierbegleitung wird im Bosnien des Jahres 1998 allerdings rüde angepfiffen durch ein bundesdeutsches Über-Ich:
»›Muß das sein?‹
Hauptmann Weiß folgte dem jungen Offizier in den Flur. ›Sie wissen doch, daß Jünger nicht unumstritten ist.‹
›Wer ist das schon?‹ Riebach war stehengeblieben. ›Außerdem bedeutet umstritten, daß der Streit noch nicht entschieden ist.‹«
Lässt sich einer, der Jünger zu seinen Vorbildern zählt, durch die Mahnung solch eines Vorgesetzten erschüttern?
»Am nächsten Morgen hängte Riebach einige Blätter mit der Ankündigung in die Kantine, daß am Abend eine kurze Lesung zum Gedächtnis Jüngers gegeben werde. Zur festgesetzten Stunde fanden sich fünf Soldaten im Klavierzelt ein, und Riebach hielt die Lesung ab, die Oberleutnant Kramer mit Klavierstücken von Rachmaninow gliederte.«
Offiziere im Auslandseinsatz versammeln sich zu einem Liederabend – es ist wie auf dem ikonischen Gemälde Anton von Werners aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870–71, mit dem der Künstler wohl die Gegensätze zeigen wollte: hier Sieg, dort Niederlage. In einem Prachtsaal, dessen plüschige Dekadenz ringsum die Dekadenz des Deuxième Empire andeutet, fängt man an, sich einzurichten. Krieger auf der Höhe ihrer Kraft, eins mit sich, dem Geist, der sie verbindet, und der ihnen daraus zuwachsenden Überlegenheit. Korpsgeist, Rittertum und Treue bis in den Tod unter dem angestammten und von Gott gewollten Herrscher triumphieren über die Pseudo-Legitimität Napoleons, des Dritten aus der Glücksritter-Dynastie der Bonapartes. Es ist die Momentaufnahme, eine Bild gewordene Antithese zu allem, was sich mit »Frankreich« verband, einer Führungsmacht des Westens.
Anton von Werner, Im Etappenquartier vor Paris
Während ein Offiziersbursche das Feuer im Kamin anfacht, sitzt bereits einer der Herren am Klavier, ein Husar singt, sammeln sich die übrigen Chargierten mit noch matschbespritzten Reitstiefeln zu einer andächtig lauschenden Runde. Nein! So etwas haben die Franzosen nicht und werden es auch niemals haben können.
Jüngers Stahlgewitter im Bosnien von 1998 zu Klavierbegleitung – eine doppelte Demonstration, sowohl gegenüber den Ortsansässigen als auch gegenüber all denjenigen, die einen deutschen Offizier nur noch als Ingenieur oder Sozialarbeiter in Uniform begreifen können.
Es kommt, was kommen muss. Das bundesdeutsche System setzt sich in Gang, es ist die Stunde der Juristen, der bleichen Bedenkenträger, eines militärischen Rechtsberaters, »eines Oberstleutnants«, der, wie Riebach alias Kubitschek bissig vermerkt, seinen Grad »natürlich nicht innerhalb einer militärischen Laufbahn, sondern als Jurist seiner Gehaltsstufe gemäß erhalten hatte«.
Das Buch des deutschen Frontschriftstellers verherrliche den Krieg, so halten seine Vorgesetzten Leutnant Riebach vor. Der hält seinerseits dagegen:
»Kriegsverherrlichend kann jemand die Stahlgewitter nur dann bezeichnen, wenn er für Pflicht, Mut, Tapferkeit und Ethos keinen Begriff hat. Suspekt an diesem Buch scheint die völlige Abwesenheit von Gejammer zu sein. Erschütterung findet sich darin, Schwäche, Panik – aber kein Gejammer, sondern ein Sich-Aufraffen selbst im Grauen. Ist das verdächtig? Ist es verdächtig, daß Jünger nie daran dachte, zu desertieren?«
Noch Jahre später hat der von Kubitschek tatsächlich organisierte Jünger-Abend in Bosnien einschneidende Folgen für sein Leben, denn er wird aufgrund rechtsextremer Bestrebungen aus der Bundeswehr entlassen. »Daß ich später rehabilitiert wurde«, fügt er in einer persönlichen Schlussnotiz an die Erzählung an, »war völlig egal: Ich habe jedenfalls seither nie wieder eine Kaserne betreten oder meine Uniform getragen.«11
Kubitscheks innere Emigration findet mit der Gründung des Antaios-Verlags ein Ende. Durch den Verlag und das von ihm gegründete Institut für Staatspolitik, durch eine Fülle von Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen hat er der Strömung in den letzten Jahren und Jahrzehnten das wichtigste publizistische Forum eröffnet. Darunter Bücher wie Der Weg der Männer des Macho-Phallosophen Jack Donovan, wo im Vorwort ein ehemaliger KSK-Soldat – später als Söldner in Syrien und bei den Donbass-Separatisten – unter dem Pseudonym »Raskolnikow« eine besondere Art Spritualität heraufbeschwört:
»Für uns ist das Opfer die ultimative Tat. Die vollkommene Hingabe, die nicht nur gut ist, sondern absolut männlich. Das Numinosum des Schwurs, der Treue bindet alle unerbittlich. Bruder tötet Bruder, weil der Eid ihn verpflichtet. Die Nibelungen sind das Ideal der totalen Männlichkeit, die jedem schlauen Menschen als wahnwitzig erscheinen muss. Dieser Heroismus erweckt bei den Gebildeten entweder Schrecken oder Hohn. Beides ficht uns nicht an.«12
Um die Wartezeit bis zu unseren Terminen zu nutzen, schlägt Nihad vor, zu ihm in die Redaktion zu fahren und dort die Politikchefin zu interviewen.
Schließlich ist er nicht nur Begleiter im Auftrag des Presseamts, sondern arbeitet auch als Redakteur bei Tishreen, einem staatsnahen englischsprachigen Organ zur Außendarstellung Syriens, bestens geeignet, die politische Haltung des Regimes wiederzugeben.
Im letzten Viertel vor der Kampfzone Hadschar al Aswat springen wir aus dem türlosen Bus und schlagen den Weg zur Redaktion ein. Gesichtslose Straßenzeilen, schadhafter Asphalt, Elektronikläden, Apotheken. Nur der sich steigernde Kampflärm verrät, dass wir uns einer Grenze nähern, hinter der nur noch die Grundmauern von Häusern zu erkennen sind. Gegen das, was hier laut wird, ist die Geräuschkulisse im Hotel nichts. Im Himmel heult es hier von den Jets, der Boden zittert durch die Bombeneinschläge, vielleicht ist auch Artillerie dabei. Vor Monaten, sagt Nihad, schlugen hier noch die Mörsergranaten des IS ein. Er weist auf Rückstände im Straßenpflaster, zeigt eine vereinzelte zerstörte Fassade, eine Polizeistation, die getroffen wurde.
Das Redaktionsbüro von Tishreen liegt nur wenige hundert Meter vom IS-Gebiet entfernt, im Blickwinkel der IS-Scharfschützen, das Ziel wurde bisher aber nie angegriffen, vielleicht in Verkennung seiner kritischen Infrastruktur.
An einen quadratisch angelegten Korridor reihen sich, abgeteilt durch Glasscheiben, die Büros der Redakteure. Nihad schließt seines auf, in dem in einiger Entfernung drei Schreibtische stehen.
Das Fenster klappt er zu, ohne dass das die Erschütterungen durch die einschlagenden Bomben dämpfen würde, die immer wieder den Fußboden erzittern und die Scheiben klirren lassen.
Von seinem Arbeitsplatz aus wählt er die Nummer der Ressortchefin für Politik, bittet sie herzukommen und weist einladend auf den Schreibtisch, der im rechten Winkel an den seinen grenzt. Dann loggt er den Computer an meinem Platz ein. Solange unsere Gesprächspartnerin noch nicht erschienen ist, könnte man die Zeit gut nutzen, schon mal meine bisherigen Berichte zu prüfen. Deutsch? Kein Problem, das ließe sich ja passagenweise übersetzen. »Und wenn du anschließend deine E-Mails abrufen willst, mach das gern von hier.«
Zum Glück drückt jetzt eine mittelgroße Mitdreißigerin in beiger Safarihose und blauer Bluse die Tür auf, mit dicker Brille, die Haare hellbraun, schulterlang, und bringt Nihad auf andere Gedanken. Wen sieht er da: Wem treiben auf dem Ozean der Sehnsucht seine Dhaus entgegen? Wer bläst allnächtlich auf der Flöte seiner Träume?
Maha Sultan quittiert Nihads Empfang mit einem Kräuseln ihrer Lippen, gibt dem Kollegen aus Deutschland zum Gruß die Hand und bedeutet, dass sie zum Gespräch über die Arabellion bereit sei. Unter der Bedingung, dass man bei den Ursachen beginne. »Lassen Sie uns also nicht über Syrien, sondern erst mal über Tunesien reden.«
Maha Sultan in der Tishreen-Redaktion
Tunesien. Das Land, aus dem ich immer wieder berichtet hatte, schon lange vor der Arabellion, Anfang der 2000er Jahre.
Das Reich des scheinbar unablösbaren Ben Ali. Ein Land, in dem der Taxifahrer anfing zu zittern, wenn man ihn fragte, ob der Herr auf dem Plakat der Präsident sei … und sich für den Rest der Fahrt ausschwieg. Das Internet funktionierte so gut wie überall. Außer, du warst Journalist und wolltest dein Postfach öffnen. Im Hotelfoyer immer die gleichen Zeitungsleser. Der Rezeptionist klopfte eines Morgens an die Tür und empfahl flüsternd durch den Spalt, beim Ausgehen stets das gesamte Material mitzunehmen, weil »sie«, sobald man weg sei, sofort ins Zimmer kämen. Auf der Straße stets dasselbe Auto mit demselben Nummernschild. Zeitungsleser auch vor den Wohnungen der NGOler und der Menschenrechtler. Darüber hinaus Richtmikrofone unter ihren Balkons platziert. Man brauchte nicht Islamist, nicht gegen die Regierung zu sein, es reichte schon, eigene Ideen öffentlich zu formulieren, um von Internet und Telefon abgeschnitten zu werden. Jeder, der so jemanden besuchte, wurde vermerkt und dadurch einer von ihnen, also für die Regierung ein Feind.
Motorradfahrer bedrängten auf dem Rückweg von der Schule die neunjährige Tochter einer Aktivistin, verfolgten sie, trieben sie in die Enge, sie kam schreiend zu Hause an.
Ein Oppositioneller, soeben aus dem Gefängnis entlassen, schilderte die gängige Foltermethode, die darin bestand, Menschen mit Honig einzustreichen und an Bäume zu binden, bis die Insekten kommen. Alternativ bot sich die »Darbouka« an, das arabische Wort für Trommel. Der Gefangene erhält über Stunden kleine rhythmische Schläge an die Schläfen. Beide Methoden sind hoch effizient, aber so »natürlich«, dass sie keine Hinweise auf klassische Folter liefern, da Folter in diesem Staat »natürlich« nicht existierte. Herzversagen, konstatierten stets die Ärzte, ehe der Tote dann ins Grab kam.
Wer waren diese Feinde der Regierung? Wollten sie ein islamisches System installieren? Nein, ganz im Gegenteil. Bei den erwähnten Menschenrechtlern handelt es sich um Demokraten, die nichts anderes forderten als die Standards, die auf der anderen Seite des Mittelmeers normal sind, in Frankreich oder in Italien. Darum ging es bei der Arabellion und darum ging es ja ursprünglich auch in Syrien, nicht wahr?
Maha Sultan hat aufmerksam zugehört, zwischendurch genickt, die Stirn gerunzelt, kurze Laute ausgestoßen, von denen sich nicht sagen lässt, ob sie Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken.
Jetzt geht sie erst mal zur offenen Kaffeeküche des Büros, kommt mit einer Flasche Sprudelwasser zurück. Während sie das Glas füllt, beginnt sie, ihre Sicht der Dinge zu entfalten, setzt ihre Szenerie Tunesiens dagegen.
Der Punkt mit der Zivilgesellschaft ist bei ihr angekommen. Zugleich scheint es, dass sie das Engagement der Wenigen für negierbar hält, wenn es ums große Ganze geht.
Sicher, nicht alle Teile der Gesellschaft genossen in Tunesien den Vorzug, am politischen Leben teilnehmen zu können. Gleichzeitig genoss die Gesellschaft aber als Ganze Sicherheit und Frieden. Sicherheit vor allem. Morgens um vier konnte man aus dem Haus und Einkäufe machen. Heutzutage kann man in Tunis nicht mal mehr um 12 Uhr mittags auf die Straße gehen! Die Sicherheit ist fort und die Leute fangen an zu sagen: Wir wollen keine Politik mehr, was schert uns das politische Leben, gebt uns die Sicherheit zurück!
Und dann geht es für sie um das noch größere Ganze, das große Panorama. Die Schnittstellen der Geschichte, angefangen mit der Agonie des Osmanischen Reiches und der Kontinuität, mit der Staaten wie Großbritannien, Frankreich und die USA bis auf den heutigen Tag versuchen, die Araber an ihrer Machtentfaltung zu hindern. In Tunesien waren es französische Kolonisatoren, die Ende des 19. Jahrhunderts am Gestade landeten. Eine Bevölkerung ließ sich von ihrem Materialismus und ihrer Lebensart verführen. Die Menschen nennen sich zwar Araber, sind aber in Wahrheit schon ihren eigenen Sitten und Gebräuchen entfremdet, Puppen einer ihnen nicht nur fremden, sondern auch gegen die Konsumenten selbst gerichteten Kultur. »Sie sprechen Französisch und erst dann Arabisch.« Französisch in allen Lebenslagen! Je länger Maha Sultan die tunesische Gesellschaft beschreibt, desto mehr redet sie sich in Rage.
Die Feinde der Araber hatten ein Ziel: im arabischen Nordafrika einen Fremdkörper zu schaffen. Frankreichs Auftrag lag darin, die Versklavung der Araber von Tunesien aus anzubahnen, durch Literatur, Musik, durch Savoir-Vivre, durch ihre schleichende Entkulturalisierung.
Ihr Gesicht beginnt sich allmählich zu röten. In den Schulen, ihre Mundwinkel zittern, als sie das ausspricht, lernen sie sogar Mathematik und Naturwissenschaften auf Französisch!
»Sie hatten zu viel Freiheit! Und wenn man zu viel Freiheit hat, dann kommt man auf die Arabellion!«
Führungsfigur und erster Präsident Tunesiens nach der Arabellion war ein Franzose. Ein Franzose, der sich als Araber ausgab: Moncef Marzouki – ein Pariser Literat, »der so gut wie keine Ahnung von der arabischen Sprache hat … Sie hatten doch schon alles«, ruft sie. »Es gab standesamtliche Hochzeiten zwischen unterschiedlichen Religionen. Es gab sogar ledige Mütter, die als Singles lebten! Was wollten sie denn noch?«
Während Frankreich in Nordafrika seine intellektuelle und kulturelle Dominanz ausbaute, hätten die zwei angelsächsischen Mächte Großbritannien und USA den Wahhabismus gefördert, als Instrument, um die Araber ewig klein zu halten und sie in ihrer Kraftentfaltung zu behindern.
Denn auch Großbritannien und die USA verfügten seit der Kolonialzeit unter den Arabern über ihre bis heute treu ergebenen Vasallen, die Öl-Protektorate. Nichts anderes als Kolonien. »Die Sicherheitschefs der Golfländer sind bis auf den heutigen Tag oft Engländer. Aber eigentliches Fernziel war stets Syrien.« Das stärkste arabische Land, das Land, das immer die Prinzipien hochgehalten habe, das Land, das mit den Feinden der Araber niemals Kompromisse eingegangen sei, das Land, das die Interessen der gesamten arabischen Nation stets gegen alle verteidige, egal welche Opfer das auch koste.
»Die syrische Regierung reagierte viel zu spät auf die Aktivitäten, die sich auf den Straßen abspielten. Sie hätte sich niemals vorstellen können, dass sich Teile der eigenen Bevölkerung gegen ihr eigenes Land wenden, dass sie die Infrastruktur ihres eigenen Landes zerstören könnten. Sie hätte nie gedacht, dass diese vom Ausland gesteuerten Projekte, dass all die ausländischen Konspirationen sich auf syrischem Boden einwurzeln und Blüten tragen könnten und dass diese Ausländer hier in Syrien willige Helfer finden würden.«
Kein Ruf nach Freiheit, sondern millionenfaches Kidnapping, Entführung in den Liberalismus durch Wahhabismus als einer neuen Form der Knechtschaft, in einen Werte-Kolonialismus 2.0.
So wurde mir die Arabellion noch nie erklärt.
Also gab es in Syrien keine selbst verursachten Defizite, die die Jugend dazu inspirierten, nach mehr Freiheit, nach Demokratie zu rufen? Wieso sprühten Jugendliche im Februar 2011, angestachelt von den Arabellionen in Tunesien und Ägypten, in der Stadt Daraa Graffiti gegen Baschar al Assad an die Wand?
Maha Sultan schüttelt den Kopf. Wie das, in einem Land, in dem es Demokratie und Meinungsfreiheit bereits gab? In dem man ihr niemals auch nur in einem Fall vorgeschrieben hätte, was sie veröffentlichen dürfe und was nicht? In dem ein Präsident bereits die volle Unterstützung der Bevölkerung genieße? In dem sich alle darüber klar seien, dass nur Einer in der Lage sei, das Land vor seinen Feinden zu schützen: Baschar al Assad?
»Würden von heute auf morgen Wahlen angesetzt, dann würde ich ihn wieder wählen. Weil ich glaube, dass er einfach der Beste ist.«
Die einzige Chance, Georges’ unter der Schwelle hindurchdringenden Nikotinschwaden zu entgehen, liegt darin, auf den Balkon zu fliehen.
Hier lässt sich rauchfrei sitzen, während die letzten Maschinen ihre Bombenfracht auf die beiden unkontrollierten Viertel ablassen, der von dort aufsteigende Rauch langsam im Glanz des Sonnenuntergangs verblasst, von den Moscheen die Rufe zum Abendgebet einsetzen und sich bald über die vereinzelten dumpfen Einschläge legen.
Balkon in der »Brazil«-Pension
Die Arabellion, ein kolonialer Angriff auf die Freiheit und die Unabhängigkeit der Araber und Assad als der einzig mögliche Verteidiger des Landes und der Araber vor ihren Feinden …
»Die größte Bedrohung, der unsere Region und die Gesamtheit der islamischen Welt ausgesetzt ist«, sagt Baschar al Assad in einer Rede 2014, »ist der Versuch des Westens, den Glauben und die Ideologie unserer Gesellschaft zu zerstören …«13
WIR und SIE, Araber und andere, Freunde und Feinde. Rudyard Kiplings Devise East is East and West is West, das Leitmotiv, von von M.M., dem Mittelsmann des Regimes, bereits angeschlagen und hier zum Prinzip erhoben, aber diesmal von der anderen, der orientalischen Seite. Und Baschar al Assad als der Beste, Einzige, der allein den östlichen Syrern (und den Arabern) den Rücken stärken und sie in die Zukunft führen kann. Freunde und Feinde.
Es gibt ein Bild vom Präsidenten, das ich neulich in einem Amtsgebäude aufgenommen hatte und das ich jetzt im Laptop-Speicher aufrufe:
Der Präsident mit Anzug und Krawatte, in die Ferne blickend, das Haupt in himmlisch-wolkigen Gefilden, umschwebt von einem Engel und von Schwalben. Wo Assads Oberkörper mit einem Strahlenkranz verschmilzt, versammelt sich ein Menschenschwarm um ihn. In einer Geste der Verehrung und ihm zugewandt, heben alle wie im Gebet ihre Gesichter und Arme zu ihm auf. Wo sie das tun, blüht und gedeiht das Land, fahren Bauern Ernte ein. Von ganz weit oben, sozusagen dem Himmel über dem Himmel, blickt der verstorbene Vater und Vorgänger, Hafez al Assad, aus himmlischen Gefilden segnend auf die Szene, als wollte er verkünden: Seht, das ist mein Sohn. An ihm habe ich Wohlgefallen. Glaubt an ihn, wie ihr an mich glaubt, und ihr werdet gerettet sein!
Der untere Rand des Bildes erscheint in fahles Grau getaucht. Hier drängen sich diejenigen, die sich trotz dieser Mahnung aus dem Himmel von Assad abwandten. Ihre Augen sind blutunterlaufen, ihre Gesichter hassverzerrte Fratzen. Einer, vermummt nach Art der Dschihadisten, schwingt eine Handgranate. Um sie herum nur Trümmer und Zerstörung. Feuer lodert. Ernten verkohlen. Das alles – hier ist es genau zu sehen, keiner sage, er habe es nicht gewusst –, das alles wird passieren, wenn man den Rat von Assad-Vater in den Wind schlägt, sich abwendet und mit anderen einlässt, wenn man nicht darauf hört, was er zu sagen und zu raten hat.
Wenn Maha Sultan die Vorreiter der Zivilgesellschaft als eine negierbare Minderheit betrachtet, dann könnte sie sich auch auf eine Äußerung von Assad-Sohn berufen:
Syrien verfüge über eine vieltausendjährige Geschichte. »Zu sagen, dass wir eine Zivilgesellschaft begründen wollen, heißt, dass wir diese Geschichte auslöschen und eine andere beginnen wollen. Das ist natürlich unrealistisch. Es ist widersinnig, nicht zu erwähnen, dass das bedeuten würde, unsere eigene Geschichte zurückzuweisen und sie aufzugeben. Und der, der sich außerhalb seiner eigenen Geschichte stellt, schneidet sich zugleich auch von der Gegenwart und der Zukunft ab.«14
Das Gemälde von Assad Vater und Sohn
Bewahrheitet sich Assads Äußerung von 2004 nicht als visionär? Würde er nicht heute darauf verweisen, was die Abkehr von den vermeintlich angestammten Traditionen bewirkt? Ist die Gegenwart nicht katastrophal und die Zukunft ungewiss?
Dabei hält sich Assad selbst für einen überzeugten Demokraten. Aber: »Natürlich kann das Kriterium oder das Paradigma dafür nicht der Westen sein, weil der Westen seine eigene Kultur hat und wir haben die unsere. Er hat seine Wirklichkeit und wir haben die unsere. Unsere Demokratie muss zugleich unsere Kultur, unsere Sitten und Gebräuche und unsere Wirklichkeit widerspiegeln.«15
In seinen Augen scheint es schlicht ein Missverständnis, die Demokratie stets mit dem zu identifizieren, was im Westen damit verbunden wird. Gibt es vielleicht auch eine andere, eine spezifisch arabische, spezifisch syrische Demokratie, mit eigenem Tempo und einer anderen Definition von Volk, Staatschef und Parlament? Und inwieweit wäre ihm da zu folgen?
Legt man das deutsche Grundgesetz, legt man Montesquieu, die US- oder die französische Verfassung und mehr noch die gesellschaftliche Praxis in all diesen Staaten als ein Raster an, die strikte Trennung von Exekutive, Legislative, Judikative – dann kann Syrien nur als Failed State erscheinen.
Für einige der Neuen Rechten ist Assads Staat akzeptabel, weil ihr Maßstab nicht Rousseau oder Montesquieu sind, weil sie scheinbar Nichthinterfragbares cool, tabulos und unvoreingenommen hinterfragen, die ausgetrampelten Pfade und Denkkategorien verlassen, denen westeuropäische Gesellschaften seit mehr als hundert Jahren folgen. Sie verfügen über einen anderen Kanon als den, den Aufklärung und Französische Revolution hervorbrachten.
schreibt Götz Kubitschek über seine Bekanntschaft mit einer völlig anderen Staatslehre. Nach seinem Ausschluss aus der Bundeswehr, inzwischen Chef eines neurechten Verlages, offenbart er in seiner Zeitschrift Sezession, wie es ihm bei der Lektüre ging:
»Beiläufig, schlagartig, nachhaltig stellt sich Klarheit in der eigenen Gedankenführung ein. Ich nahm mir vorgestern Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus vor und las vor allem die Vorbemerkung zur 2. Auflage von 1926 sehr langsam und genau: Schmitts Unterscheidung von ›Demokratie‹ und ›Parlamentarismus‹, seine Herleitung der für eine Demokratie zwingend notwendigen Homogenität der Stimmberechtigten, seine Dekonstruktion Rousseaus – das alles löst den Nebel auf, durch den wir auf unsere heutige Situation blicken.«16
Der revolutionäre Denker, dem Götz Kubitschek seine neue Tiefenschärfe verdankt, ist der deutsche Völkerrechtler und Staatsjurist Carl Schmitt. Die Hemisphären teilt er nicht nach Ideologien auf. Die eigentliche Trennung, die zwischen den Gesellschaften verläuft, ist für ihn die »Unterscheidung von Freund und Feind. Sie gibt menschlichen Handlungen ihren politischen Sinn; auf sie führen schließlich alle politischen Handlungen und Motive zurück.«17 Dabei geht es nicht um Ideologien, um konkurrierende Gesellschaftsentwürfe. Es ist vielmehr ein souveräner Willkürakt, der den anderen zum Anderen macht. Er ist der Andere, weil er den eigenen Interessen im Weg steht. Das ist zugleich auch alles, was man gegen ihn einzuwenden hat.
Nimmt man Schmitts Grundeinteilung in eine freundliche und feindliche Hemisphäre an, dann können die Feinde logischerweise nur bestrebt sein, mit allen möglichen Listen und Tücken einzelne Freunde aus der gemeinsamen Front herauszulösen. Und je verführerischer der Feind sich nähert, desto empfänglicher man für seine Sirenengesänge, für sein »Savoir-Vivre« ist, desto mehr gilt es, allen Verführungen zu widerstehen.
»Der politische Feind«, so konstatiert Carl Schmitt, »braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft und rentabel erscheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er bleibt aber ein Anderer, ein Fremder.«18
Das lässt an Maha Sultans Ausfall gegen die »ledigen Mütter« denken, an Assads Warnung vor dem Weg des Westens. Weder der Präsident noch die Politikressortchefin scheinen per se gegen bestimmte Freiheiten zu sein. In Mahas »Sie hatten doch schon alles« liegt kein Hass. Dennoch: Jeder noch so kleine Schritt auf den Feind zu kann nur im eigenen Untergang sein Ende finden. Ernst Jünger spricht vom »in Paris bewahrten Urmeter«. Wer anfängt, daran zu messen, hat schon verloren, hat sich den eigenen Feinden übergeben. Vergiss Ideale, moralische Normen oder politische Theorien, denen du in den Cafés nachträumen magst. Für Schmitt steht mehr auf dem Spiel als ein bisschen freie Rede in den Medien oder gleiche und geheime Wahlen, es geht hier um die bloße Existenz, das eigene Sein oder Nichtsein.
Wenn also in geheimen Wahlen Millionen Menschen eine Privatentscheidung treffen, besagt das in der Schmittschen Welt noch gar nichts. Es privatisiert das Volk lediglich, spaltet es auf, macht es zu Millionen streitsüchtiger Egoisten, anfällig für tausend Einflüsterungen des Feinds. Politik aber ist ein öffentlicher Akt. Demokratie bedeutet: eins mit sich selbst zu sein und mit dem, der die eigenen Interessen vertritt. Und Zustimmung kann sich Schmitts Ansicht nach bereits im bloßen Dasein eines Volkes ausdrücken (das allein schon die Art seiner Interessen begründet) wie auch in aktiven oder eventuell auch in schweigenden Akklamationen. Im Schmittschen Denken ist der Kampf zwischen Freund und Feind das politische Prinzip an sich, nach dem sich Staaten ordnen und Großräume der Macht herstellen. Nicht in diesem naturgesetzlichen Kampf besteht für ihn die eigentliche Grausamkeit, die eigentliche Barbarei. Nicht in denjenigen Opfern, die ein Staat im Kampf gegen seine Feinde fordert. Die wahre Barbarei liege vielmehr darin, die Gesetze der Natur durch künstliche Denkvorschriften unterbinden zu wollen, im Kampf Freund gegen Feind einen von beiden mit Sanktionen zu belegen unter Verweis auf irgendwelche unrealistisch angenommenen Normen, mit denen Außenstehende sich anmaßen, »gut« und böse« zu bestimmen. Der Krieg zweier Verfeindeter ist für ihn nicht der Unfall, sondern der Normalfall, nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Möge der Bessere gewinnen!
Erst durch Sanktionen verwandelt sich der »nichtdiskriminierende Staatenkrieg (…) in einen internationalen Bürgerkrieg und erreicht damit eine Art Totalität, die furchtbarer und vernichtender ist als alles, was eine oberflächliche Propaganda der völkischen Totalität vorzuwerfen hat.«19
»Um die Beziehungen zwischen den Staaten zu regeln, begriff das alte Völkerrecht (ius publicum europaeum), das nach dem Westfälischen Frieden den Glaubenskrieg beendete, den Krieg als Krieg, in dem jedem Teilnehmer sein Recht zugestanden wurde: justus hostis (der gerechte, das heißt: der legitime Feind), und nicht justa causa (die gerechte Sache)«, heißt es 2011 in der Sezession »zur Aktualität Carl Schmitts«. »Dies erlaubte es, den Krieg in einem bestimmten Rahmen zu hegen, woraus sich auch die Wichtigkeit eines ius in bello (Recht im Kriege) ableitet. Der diskriminierende Krieg, der den ›gerechten Krieg‹ des Mittelalters wieder auferstehen läßt, ist ein Krieg, in dem diese Errungenschaften verlorengehen. Der Feind ist nicht mehr ein Gegenspieler, der unter anderen Umständen genausogut ein Verbündeter sein könnte. Er ist zum absoluten Feind geworden.«
Haben Maha Sultan oder die Offiziellen des Assad-Regimes Carl Schmitt gelesen? Wohl eher nicht.
Bei Assads internationalen Freunden und Helfern von der europäischen Rechten, bei der AfD und bei Putin-nahen Intellektuellen kann man hingegen davon ausgehen. Schmitt gehört hier zu den Welterklärern, und Syrien ist der Modellfall, der beweist, dass Schmitts völkerrechtliche Lehre der demokratisch orientierten überlegen ist, dass sie über diejenigen triumphiert, die noch überkommenen liberaldemokratischen Erklärungsmustern folgen. In ihrem Sinne ist Schmitts Staatslehre ein Denkangebot, um das Assad-Regime international vom Odium der Menschenverachtung, der Grausamkeit, der Clankriminalität, des Failed State zu befreien.
Nicht Assad verübt die eigentlich zu verurteilenden Verbrechen, so pflegt sich Christian Blex zu äußern, der Syrienreisende der AfD, der ein paar Wochen vor meinem Eintreffen in Damaskus mit einer Delegation seiner Partei die Repräsentanten des Assad-Regimes besucht hatte.
In dem WDR-Interview, das ich mit ihm führte, ordnete er das Vorgehen von USA und Europäischer Union in den Kontext der US-Lügen vor dem Kuwait- oder Irak-Krieg ein. Im Falle Syrien spiele sich wieder genau dasselbe ab:
»Wir haben vor dem Einmarsch der US-Amerikaner 1990 gehört, dass da angeblich die ganzen armen kuwaitischen Babys da ermordet wurden, das waren alles große Fake News.
Dann haben wir 2003 gehört, dass es da Chemiewaffen gegeben haben sollte und das hat sich auch als Fake herausgestellt. Ich bin sehr skeptisch, wenn da so ’ne neue Sau durchs Dorf getrieben werden soll, wo’s dann plötzlich heißt: oh, schaut mal her, der ist ja so böse …«
Belege für Massentötungen durch Assad oder gar Chemiewaffeneinsätze sieht Blex nicht. Für ihn sind das Fake News, ähnlich den Meldungen über Saddam Husseins angebliche Giftgaslager. Belegbar ist aus seiner Sicht jedoch das Schema einer zutiefst verbrecherischen Politik, die sich der Westen zuschulden kommen lässt.
Sanktionen schafften das wahre Unrecht. In unserem Interview drückt er es so aus:
»Schauen Sie sich mal die US-Sanktionen gegen Syrien an, was die für Leid verursachen in dem Land. Und das trifft nicht die Elite, das trifft nicht … Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass ein Land – die Elite, auch in Nordkorea und so, die wird doch nicht von den Sanktionen getroffen. Ob die sich jetzt das neueste Handy kaufen oder das zweitneueste … aber wenn die Mittelschicht nicht mehr in der Lage ist, Babynahrung zu bekommen, das ist in Syrien dank der US-Sanktionen der Fall.«20
Noch ehe die »Dämonisierung Assads« für dessen Unterstützer zum geflügelten Wort, zum stehenden Vorwurf gegen die Syrien-Politik des Westens geworden ist, beschäftigt sich vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings Sezessions-Autor Alain de Benoist, der als Chefideologe der französischen Neuen Rechten gilt, mit dem Phänomen des vom Westen ausgegrenzten Schurkenstaats und seines jeweiligen Führers im Allgemeinen. Beliebig einzufügen wären Gaddafi, Assad oder andere Diktatoren, die gegen ihre Bevölkerungen vorgehen, um an der Macht zu bleiben.
»Verteufelt, kriminalisiert, als Figur des Bösen hingestellt, ist er ein Feind der Menschheit, der nicht nur geschlagen, sondern ausradiert werden muß. Infolgedessen darf jegliches Mittel – wirtschaftliche Sanktionen, Bombardierung der Zivilbevölkerung etc. – gegen ihn angewandt werden, denn Friedensverhandlungen mit ihm stehen außer Frage, es sei denn auf der Grundlage einer bedingungslosen Kapitulation.«
Hier also offenbart sich, folgt man der Logik von Alain de Benoist, die Heuchelei eines Westens, der Fanatiker mit Sanktionen abstraft, sich aber selbst so verhält, als kämpfe er für seine Demokratie den absoluten Glaubenskrieg. Der Westen verurteilt Diktatoren? Aber wer verhält sich denn eigentlich diktatorisch? Von wem geht das Diktat aus? Wer ist grausam, wer schert sich nicht um das Leid Unschuldiger? Benoist empfiehlt den Blick ins Werk des deutschen Staatsjuristen:
»Schmitt zeigt, daß die ideologischen und ›humanitären‹ Kriege der Moderne – die den Feind moralisch disqualifizieren, statt ihn als Gegner anzuerkennen, dem man, auch wenn man ihn bekämpft, seine Gründe zugesteht – den Verlauf von Religionskriegen angenommen haben. Sie zeigen den gleichen erbarmungslosen und totalen Charakter.«21
Oder, wie der AfD-Syrienreisende Christian Blex es in unserem Gespräch formuliert: »Wir nennen uns ja Demokratie. Westliche Demokratien begehen dort schlimmste Menschenrechtsverletzungen. Wenn ich Kinder töte, weil ich verhindere, dass Babymilch geliefert wird, dann ist das moralisch für mich nicht von einem Terrorangriff weit entfernt.«22
Badr el Din al Hassaoun erhebt sich aus einem Sessel und kommt uns entgegen, lächelnd, den Kopf zur Seite geneigt und mit zum Gruß weit ausgestreckter Hand, an der eine schwarze Perlenkette baumelt, der muslimische »Rosenkranz« mit 99 Perlen, jeweils eine für alle 99 Namen Gottes. Sofort und anhaltend beginnt er zu reden. Es freut ihn besonders, jemanden aus Deutschland zu begrüßen, denn das deutsche Volk ist das, das er in Europa am meisten liebt. Ihr Deutschen, ihr habt es geschafft, die Berliner Mauer niederzureißen, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Ihr seid den Weltmächten entgegengetreten, denselben Weltmächten, die auf eurem deutschen Boden einen Krieg angezettelt haben!
Moment: Großbritannien, Frankreich, die USA haben den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen? Das wäre …
Doch die Gedanken, die der Großmufti wie Perlen einen an den anderen reiht, folgen so rasch aufeinander, dass Einwände schwer einzupassen sind. Was hat euer Land nicht alles an den Israelis, aber auch an den Syrern getan, wie viel gibt es für seine türkischen Muslime und wie viel gibt Deutschland überhaupt der ganzen Welt. Gegeben! Immer nur gegeben habt ihr! Seine Augen leuchten, seine runden Wangen röten sich und scheinen vor Begeisterung zu brennen, so sehr erfüllt ist er vom Thema, über das er spricht.
Die Zugewandtheit lässt den Großmufti von Syrien jung erscheinen, schlicht und bescheiden, trotz seines Vollbarts, der zwar schwarz ist, aber schwarz gefärbt, und trotz der zeremoniellen Aspekte seiner Kleidung, einem schwarzen Gewand nach Art einer arabischen Gandora, durchwirkt mit golden schimmernden Fäden, dem steifen weißen Kragen internationaler religiöser Würdenträger und dem hohen weißen Turban. In der Gedankenreihe glitzert schon die nächste Perle auf, die sich zwangsläufig aus der vorherigen ergibt: die neueste Untat, mit der die Weltmächte des Westens versuchen, starke und gute Völker zu zerstören: der globale Wahhabismus.
Aber – schuf den nicht im 18. Jahrhundert der puristische Wüstenprediger Muhammad ibn Abd-al Wahhab auf der Arabischen Halbinsel, fand einen Stammeschef namens al Saud als Sponsor, gründete ein Reich, das die Osmanen als Konkurrenz zu ihrem Kalifat zerstörten, ehe al Sauds Erben Anfang des 20. Jahrhunderts wieder auftauchten, um ihr altes Reich neu zusammen zu begründen?
Erklärungen wie diese muss man sich als imaginäre Perle zwischen dem Gesagten und dem nächsten denken: Er meint wahrscheinlich, dass bis in die 1930er zunächst London dem neuen Saudi-Reich das Geld zuschusterte, ehe nach den Ölfunden die US-Amerikaner die Saudi-Patronage von ihnen übernahmen. So gesehen, klar: Ohne Westmächte kein Wahhabismus. »Und heutzutage residieren die Wahhabiten bei Ihnen, in Aachen.«
Auf der anderen Seite stehen der Säkularismus und sein Verteidiger in der Region: Baschar al Assad ist säkular! Repräsentiere Weltoffenheit und Modernismus. »Unsere jungen Leute wurden früher nur nach Russland geschickt. Aber Baschar schickte sie in die ganze Welt hinaus.« Was habe der Westen getan, statt sich für all das zu bedanken? Für Baschars Säkularismus? Für seine Offenheit? »Die EU und die USA schickten ihm 350 000 Dschihadisten nach Syrien. Allesamt mit modernen Waffen ausgerüstet!« In der Pause, die nun eintritt, scheinen diese Worte in ihrer ganzen Schwere nachzuhallen. Nichts weniger als die Erkenntnis, dass Deutschland, das Land seines Herzens, das der Menschheit so viel gegeben hat, sich mit den Falschen einlässt und (diesmal?) auf der falschen Seite der Geschichte steht. Das alles, was er jetzt sagt, würde er gerne auch in Deutschland sagen, so würde er sprechen, wenn er nach Deutschland kommen und dort sprechen könnte. Aber die Bundeskanzlerin lehne seinen Besuch ab. Sie habe sich entschieden, nur die eine Seite anzuhören, nämlich die der Kriegstreiber. Er richtet die Augen gen Himmel, breitet in fast komischer Gottergebenheit die Arme aus: Wann endlich wird die Dame Merkel verschwunden sein, wann endlich wird Deutschland von ihr erlöst? Wenigstens konnte er die Delegation der AfD bei sich empfangen. »Ich habe der AfD geraten: Bewahrt Deutschland als Land. Wenn Parteien Deutschland schwächen wollen, lasst das nicht zu. Nehmt euch in Acht vor den religiösen Extremisten, die nach Deutschland kommen … Wenn dagegen Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückwollen, lasst sie gehen. Lasst das deutsche Volk nicht für die Fehler anderer verantwortlich werden.«
Betrachtet er Syriens Krieg gegen die Extremisten als einen heiligen Krieg?
Der Großmufti schließt angesichts der groben Frage nachsichtig die Augen. »Ich rufe keinen heiligen Krieg aus, ich rufe gegen die Sunni-Extremisten die Reform aus.«
Nicht nur der syrische Staat ist säkular, er selber ist es auch. Kein Staat darf sich religiös definieren. Hätten die Propheten, Mohammed oder Jesus oder Moses zum Krieg mit dem Schwert zur Verbreitung ihres Glaubens aufgerufen, dann hätte er nicht an sie geglaubt.
Die Idee vom religiösen Staat sei von den Weltmächten des Westens nach Afghanistan getragen worden, um die Sowjetunion zu zerschlagen. Dann zum Iran und zum Irak. Und schließlich auch hierher. Dann deutet er aufs Herz, als spreche er angesichts dessen sein Glaubensbekenntnis aus. »Wir empfingen Abraham und glaubten an ihn. Wir empfingen Moses und glaubten an ihn. Wir empfingen Jesus Christus und glaubten an ihn. Wir empfingen Mohammed und glaubten an ihn. Alle sind gleich. Christen sind nicht besser als Muslime. Ein Muslim ist nicht besser als ein Jude … Wohin ich auch kam, ich habe die Christen aufgerufen, Syrien, den Libanon und Palästina nicht zu verlassen. Denn dieses ist das Land von Jesus Christus selbst. In Europa werdet ihr euch verlieren, Bleibt hier. Ihr seid hier seit zweitausend, dreitausend Jahren … So ist das syrische Volk. Dasselbe, das sie auslöschen und dessen Werte sie verändern wollen.«
Er scheint, obwohl er auf dem rot schwellenden Rokoko-Sofa sitzt, geistig am Rande eines hohen Berges zu stehen und über eine schweigende Gemeinde hinweg die ganze Menschheit anzusprechen. Er hat nicht nur die Gläubigen aller Religionen aufgerufen, hierzubleiben. Er hat auch Syriens Feinde, die Sunni-Extremisten, zur Versöhnung aufgerufen. »Mit der Folge, dass sie meinen Sohn ermordet haben.«
Am Abend nach dem Gespräch mit Großmufti Badr el Din al Hassaoun sitze ich wieder auf dem Balkon des »Brazil« zwischen den Wäscheleinen, blicke auf den verblassenden Rauch aus Yarmouk und lasse die Kette seiner Argumente zusammen mit den schwarzen Perlen des Gebetskranzes durch die Finger gleiten, den er mir zusammen mit dem Wunsch nach einem Abtritt Angela Merkels zum Abschied überreichte. Eine beeindruckende Gestalt. Der erste und einzige offiziell amtierende Religionsführer eines arabischen Staates, der nicht nur dem Dschihad eine Absage erteilt, sondern sich für den Säkularstaat einsetzt und der sich selber als Säkularist bezeichnet. In der großen Lehruniversität der sunnitischen Welt, in der Kairoer al-Azhar-Universität, hatte nach den Luftschlägen der USA auf Bagdad 2003 der Prediger die Muslime zum Dschihad, zur Verteidigung des Irak aufgerufen. Und von Rabat über Riad bis nach Karatschi einen weiteren Religionsgelehrten zu finden, der sich gegen das Scharia-Recht und für den Säkularstaat einsetzt, wäre ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen. Großmufti Hassaoun sitzt mit in Assads Kabinett, berät ihn bei allen Entscheidungen. Was dominiert bei ihm: die Toleranz, die er verkündet, oder die Zusammenarbeit mit Assad? Hat er beschlossen, Teil des Machtapparates zu sein, um von innen heraus friedensstiftend wirken zu können? Oder macht er sich so lange vor, ein Sachwalter der großen Propheten zu sein, bis ihm am Ende selber Tränen der Ergriffenheit in die Augen treten, wie ich es immer wieder während seines Vortrags beobachten konnte? Doch hat er nicht mit dem Tod seines Sohnes für seine Überzeugungen bezahlt? Ein beeindruckender, zugleich ein widersprüchlicher Charakter, aber weisen wir nicht alle Brüche, Widersprüche auf?
Der sunnitische Großmufti von Syrien, Badr el Din al Hassaoun
Feststeht, dass, wenn sich seine Vision vom Islam durchsetzte, der Terror keine Chance mehr hätte, sich islamisch zu nennen. Und hätte die AfD, hätten die neurechten Parteien in Europa ohne ihren offiziellen Lieblingsfeind Islam einen derartigen Aufschwung nehmen können?