Du wirst also kommen?
Wenn du es unbedingt willst, sagte Olga achselzuckend. Aber sie halte es für keine gute Idee.
Und sie sehe nicht ein, weshalb sie ihre beste Freundin auch noch an ihrem sechzehnten Geburtstag verstecken solle, an diesem Tag gingen manche schon ins Leben hinaus.
Manche, ja, sagte Olga kurz. Sie sei schon draußen, oder fast draußen. Und außerdem habe sie nie eine Tanzstunde besucht.
Das sei doch völlig egal, meinte Laura, tanzen könne man auch ohne Tanzstunde.
Naja, sagte Olga wenig begeistert, aber Freitag abend gehe es nicht.
Laura bot bereitwillig an, die Geburtstagsfeier auf den Nachmittag des Samstags zu verlegen. Wilhelm sei gewiß damit einverstanden.
Es wird deiner Familie nicht gefallen, wandte Olga ein.
Laura war der Meinung, es sei ihre Entscheidung, wann sie ihren Geburtstag feiern wolle.
Wir werden sehen, gab Olga zurück.
Aber Laura hatte das Gefühl, Olga zu etwas gezwungen zu haben, was diese nicht gern tat, und sie war zu stolz, zuzugeben, daß sie bereit wäre, auf alle übrigen Eingeladenen zu verzichten, wenn sie nur Olga bei sich haben könne – und wenn sie sich endlich zu dieser Freundschaft bekennen könne, die sie jetzt nahezu drei Jahre im geheimen verband.
Laura hatte außer Olga und Viktor vier weitere Freundinnen eingeladen, auf Viktor hatte sie bestanden. Immerhin befand er sich seit einiger Zeit auf bürgerlichen Pfaden. Er studierte zwar nicht Jurisprudenz, wie es sein Vater gefordert hatte, sondern zur allgemeinen Verwunderung Archäologie. Da kann er den ganzen Tag alte Sachen abstauben wie ein Putzweib, spottete der Großvater. Er wird sich noch nach dem Aktenstaub zurücksehnen.
Olga hatte gebeten, etwas früher kommen zu dürfen, und erschien einige Minuten vor drei. Sie balancierte eine große Schachtel vor sich her, die sie behutsam auf der Eingangstreppe abstellte, um den Klingelknopf zu drücken. Im gleichen Augenblick schoß die Katze des Nachbarn, die einen Vogel verfolgte, Olga zwischen die Füße, Olga stolperte, fiel zu Boden und riß die Schachtel mit sich.
Ich hatte so sehr aufgepaßt, sagte sie mit starrem Gesicht, als Laura die Tür öffnete und ihr aufhalf, nun kann ich gerade wieder gehen.
Aber nein, wehrte Laura ab und versuchte, die Schachtel aufzuheben.
Es ist nichts mehr zu retten, sagte Olga, meine Garderobe wohl auch nicht, fügte sie dann hinzu und schaute an ihrem beschmutzten Kleid hinunter.
Ich gebe dir eines von meinen Kleidern, sagte Laura rasch und zog Olga mit ins Haus. Du kommst mit in mein Zimmer, bevor die anderen da sind, sind wir wieder unten.
Nein, sagte Olga leise, das will ich nicht. Ich wußte es ja, ich hätte nicht kommen sollen. Und ich ziehe keins von deinen Kleidern an.
Aber weshalb nicht? wollte Laura wissen und rief nach Grete. Wir haben noch Zeit genug.
Ich komme zu früh, bringe das falsche Geschenk und mache es dann auch noch kaputt, bevor ich es dir geben kann.
Wir werden sehen, was sich noch retten läßt, sagte Grete, die hinzugekommen war, freundlich und übernahm den zerbeulten Karton, um ihn in die Küche zu tragen.
Ich will es vorher sehen, sagte Laura, wenn es schon kaputt ist, will ich es zumindest sehen.
Grete öffnete den Karton. Solch eine wunderbare Torte! sagte sie bedauernd. Was haben Sie sich für eine Mühe gemacht!
Laura betrachtete die zerdrückte Torte, die auf dem nun gesprungenen Zuckerguß einen hoffnungslos verschobenen Kranz aus blaßrosa Marzipanrosen trug.
Oh, sagte Laura, kann man das nicht mehr ...
Grete schüttelte den Kopf. Ich fürchte, nein. Das läßt sich nicht reparieren, das war ein Kunstwerk. Aber es gibt Torten genug, sagte sie dann tröstend. Machen Sie sich keine Sorgen, es werden alle satt!
Daran hatte ich auch nicht gezweifelt, erwiderte Olga steif, ohne hochzublicken.
Komm, wir ziehen uns um! sagte Laura unbehaglich und zog Olga in das Haus. Tine hilft dir beim Umziehen.
Olga lief rot an, schüttelte den Kopf. Nein, sagte sie dann, ihr Kleid habe ohnehin ein Blumenmuster, da fielen die Flecken nicht weiter auf. Sie werde auf der Toilette Wasser nehmen und Seife.
Laura schaute sie verblüfft an, gab dann Tine die Anweisung, Handtücher zu besorgen, und rannte die Treppe hinauf.
Später dann die Besichtigung der Geschenke. Olga hat eine wunderbare Geburtstagstorte mit blaßrosa Marzipanrosen mitgebracht, aber sie ging leider kaputt, erklärte Laura, nachdem die Geschenke alle ausgepackt waren und keins von Olga dabei war.
Oh, Sie können Marzipanrosen machen? wunderte sich Agathe.
Olga zögerte. Nein, sagte sie dann, sie habe sie nicht selber gemacht.
Eine Torte von einem Konditor, erklärte Wilhelm, der mit seinen Freunden hinzukam. Sie sei wunderschön gewesen.
Die Mädchen schwiegen, widmeten sich wieder der Begutachtung der Geschenke, und Olga konnte sich vorstellen, was in ihren Köpfen vor sich ging. Bringt eine teure Konditortorte und wirft sie vor der Haustüre auf den Boden! Wie ungeschickt. Und überhaupt, eine Torte vom Konditor, wer von den jungen Leuten hat schon das Geld für so was. Torten macht man selber.
Nach der Kaffeetafel dann Scharaden, die »Reise nach Jerusalem« und Pfänderspiele.
Ihre Kette, mein gnädiges Fräulein!
Olga schüttelt den Kopf. Sie habe keine Kette.
Und dieses wunderbare dünne Kettchen an ihrem Hals, ob das keine sei.
Das ist, sie zögert, das ist keine Kette.
Wilhelm lacht, die übrigen werden aufmerksam. Keine Kette?
Vielleicht eine goldene Schnur mit einem Medaillon, sagt Wilhelms Freund Raimund augenzwinkernd.
Gar mit dem Konterfei des Liebsten, sagt ein anderer lachend.
Nehmen Sie meine Handtasche! sagt Olga und legt ein kleines mit Perlen besticktes Täschchen auf den Tisch.
Auch gut, meint Raimund, der die Pfänder einsammelt. Es sieht sehr kostbar aus.
Olga schweigt und bemüht sich im weiteren Verlauf des Spiels nahezu verkrampft, kein Pfand mehr geben zu müssen.
Wovor haben Sie solche Angst? fragt Viktor, der neben ihr sitzt, leise, als die Pfänder eingelöst werden. Kann ich Ihnen helfen? Wenn Sie keine Küsse verteilen wollen, kein Gedicht aufsagen, können wir uns ja etwas anderes einfallen lassen.
Olga schaut ihn kurz an. Ich habe keine Angst, sagt sie dann hastig, aber trotzdem Dank für Ihr Verständnis.
Viktor, Sie sind dran! ruft Agathe fröhlich. Ich hoffe, Ihnen fällt etwas Spannendes ein.
Fräulein Olga soll singen, sagt Viktor und lächelt Olga zu, da ihr Perlentäschchen an der Reihe ist.
Sie singe nicht eben sehr gut, erwidert Olga zaudernd, aber sichtlich erleichtert. Aber wenn ein Klavier da sei, dann könne sie ja etwas spielen, wenn dies gewünscht werde.
Der beste Bechstein, den Sie sich denken können, sagt Wilhelm und führt die Gästeschar in den Salon.
Olga betrachtet unschlüssig den Flügel, dann Laura und wieder den Flügel. Sie setzt sich auf den Hocker, den ihr Wilhelm in die richtige Höhe schraubt, läßt die Hände im Schoß ruhen und zögert ganz offensichtlich, ob sie sich auf die Sache einlassen soll, so daß jedermann annimmt, nun könne nur ein Gestümper folgen. Schließlich steht sie auf und sagt: Vielleicht sollte ich doch besser etwas singen, ich habe jahrelang keine Taste mehr berührt.
Wer einmal gespielt hat, vergißt es doch nicht mehr, sagt Viktor und drängt Olga behutsam zum Flügel zurück. Was sie spielen wolle?
Nun, wenn schon, überlegt Olga laut, dann vielleicht ein Trio, falls das gefalle.
Die anderen lachen, meinen, es sei doch ihr Pfand, aber wieder ist es Viktor, der sich auf Olgas Wunsch einläßt. Welches Trio es denn sein solle, er spiele Geige, auch seit zwei Jahren nicht mehr viel geübt.
Aber Ferdinand studiert doch Musik, sagt jemand. Vielleicht könne man eine Flöte brauchen.
Nein, ein Violoncello, sagt Olga, sichtbar gelöst, ein Cello sei wunderbar, falls das jemand spielen könne.
Dann müssen wir Großmama holen, schlägt Laura vor. Sie spielt Geige und Violoncello.
Ein Konzert also, sagen alle, und plötzlich scheinen Scharade und »Blinde Kuh« und die »Reise nach Jerusalem« vergessen. O nein, o nein! wehrt Olga mit einem Male wieder erschrocken ab. Das werde kein Konzert, sei nur der ganz und gar unpassende Versuch, ein Pfand einzulösen.
Wir werden sehen, wir werden sehen, sagt Wilhelm entschieden. Die Frage wird nur sein, ob wir auch die entsprechenden Noten haben.
Schubert, sagt Olga rasch. Sie sei sicher, die Noten seien in diesem Haus vorhanden, das »Notturno« in Es-Dur.
Das »Notturno«, erwidert Viktor und schaut Olga prüfend an, sei nicht ganz leicht.
Dann üben wir so lange, bis wir es können, sagt Olga und lacht zum erstenmal an diesem Tag übermütig. Wir üben den ganzen Abend lang, bis wir es können.
Weshalb nicht, sagt Wilhelm, er werde Grete Bescheid sagen, daß man mit dem Essen warten solle, und Laura verschwindet, um die Großmutter zu holen. Ihre Frauensachen können warten, sagt diese und holt das Cello aus seinem Kasten. Morgen sei auch noch ein Tag.
Was dann folgt, verblüfft nach dem seltsamen, fast peinlichen Verhalten Olgas jeden der Zuhörenden. Bereits nach den ersten Tönen wird klar, daß hier kein Stümper spielt, sondern jemand, der möglicherweise auf dem Weg zu einer Pianistenlaufbahn ist. Olga spielt ohne Noten, sie spielt mit geschlossenen Augen, wirft nur ab und zu einen Blick zur Großmutter und zu Viktor, dann schließt sie die Augen wieder. Hier badet jemand in Musik, flüstert einer von Wilhelms Freunden seinem Nachbarn zu.
Sie müssen früh angefangen haben mit dem Klavierspielen, sagt Wilhelm bewundernd, als das »Notturno« verklungen ist, ohne daß Olga danebengegriffen hat. Es sei ein virtuoses Spiel gewesen.
Olga lächelt abwesend, scheint noch nicht ganz wieder dazusein. Ich glaube, meine Eltern dachten, sie könnten einen kleinen Mozart aus mir machen, und setzten mich bereits mit vier Jahren ans Klavier.
Haben Sie Hausmusik gemacht?
Ja, sagt Olga und schiebt sich die Haare aus dem Gesicht, wir haben Hausmusik gemacht.
Und machen es noch immer?
Nein, sagt Olga und steht abrupt auf, wir machen es nicht mehr. Entschuldigen Sie! sagt sie dann hastig und läßt Wilhelm stehen.
Später sitzen sie unter dem riesigen Holunderbusch neben dem Seerosenteich und reden über das, was nun auf sie zukommt.
Gouvernante, sagt Lauras Schulfreundin Nelly, wenig begeistert. Was sonst wohl. Andrer Leute Kinder erziehen und dabei grau und alt werden. Aber vielleicht falle ihr auch noch etwas Besseres ein.
Anne ist sich sicher, daß sie irgendein Studium ergreifen will, vermutlich Medizin, und wenn nicht in Deutschland, dann in der Schweiz. Sie habe nicht vor, bis zum neuen Jahrhundert zu warten. Und es sei einfach idiotisch, durch die Umwandlung der Realkurse in Gymnasialkurse den Mädchen das Abitur zuzugestehen und das Studium dann doch zu verweigern. Alma wird sich im elterlichen Geschäft einarbeiten, jeden Tag Brüsseler Spitzen zu verkaufen sei allerdings auch nicht eben besser als ein Gouvernantendasein. Das sogenannte Pensionsjahr wollen sie alle machen bis auf Agathe, die schon jetzt quasi verlobt ist. Mit einem Offizier, sagt sie voller Stolz, nicht mit dem von den Eltern ausgesuchten Juristen. Ein angesehener Beruf, wenn auch nicht eben ein einträglicher, aber sie sei bereit zu sparen.
Und Sie? will jetzt Viktor wissen und schaut Olga an. Was beabsichtigen Sie zu tun?
Olga schüttelt lächelnd den Kopf. Sie habe bis jetzt nur Träume, weiter nichts. Träume spreche man nicht aus.
Wir alle haben sie aber ausgesprochen, drängt Wilhelm, jetzt müssen Sie das auch tun! Wenn er hier offenbart habe, daß er für den Rest seines Lebens Knallfrösche machen werde, dann könne sie auch die Karten auf den Tisch legen. Vermutlich wolle sie doch Pianistin werden.
Ich werde eines Tages Korrespondentin für eine große Zeitung werden. In Paris. Und dann schreibe ich politische Artikel.
Zunächst bleiben alle stumm. Dann lachen sie.
Haben Sie etwa bereits eine Stelle? Bei welcher Zeitung bitte schön? In welchem Ressort wollen Sie arbeiten? Und worüber?
Olga schüttelt lächelnd den Kopf. Sie müsse zunächst das Studium hinter sich bringen, erst dann mache sie eine Volontärzeit bei einer Zeitung.
Bekommt man da gleich eine Stelle? Und ob das leicht sei. Olga lacht. Nein, natürlich habe sie noch keine Stelle. Und es sei auch keinesfalls leicht. Und für eine Frau schon gleich gar nicht. Aber was man wirklich wolle im Leben, das bekomme man auch, da sei sie sich sicher.
Und die Zeit bis zum Studium? will eines der Mädchen wissen. In welche Schule gehen Sie?
Wieder scheint Olga zu zögern, dann sagt sie, sie habe zunächst Privatunterricht gehabt, jetzt gehe sie auf eine private Schule. Sie nennt deren Namen, und er löst Verwunderung aus, da alle wissen, daß diese Schule zu den teuersten Privatschulen Berlins gehört.
Eine sehr gute Schule, sagt Viktor, da eine Weile Schweigen herrscht und Lauras Freundinnen zu tuscheln beginnen, als habe Olga eine Peinlichkeit gesagt. Eine sehr gute Schule.
Spät in der Nacht dann – sie haben die Verrücktheit besessen, ein altes Klavier aus dem Keller zu schleppen, die Großmutter, die soeben ihre Nachttoilette beenden wollte, dazuzuholen, und nun spielen sie zu dritt schon Stunden im Garten, Musik, zu der sie tanzen, obwohl es keine Tanzmusik ist – fragt Viktor Olga während einer Pause am Klavier: Für wen haben Sie heute nachmittag das »Notturno« gespielt?
Das »Notturno«? Olga legt den Kopf in den Nacken, ohne die Hände von den Tasten zu nehmen. Für jemanden, den es noch nicht gibt, sagt sie dann nach kurzem Nachdenken. Die Großmutter nickt, sagt, das könne sie verstehen.
Wilhelm wendet sich lachend an Viktor. Und du, lieber Vetter um sechs Ecken, für wen hast du gespielt?
Viktor schaut in die Runde, sein Blick bleibt für eine Sekunde an Laura hängen, dann legt er die Geige in ihren Kasten zurück. Für euch alle, sagt er lachend. Für das Leben, für diese wunderschönen Stunden und für unsere Träume, auf daß sie alle in Erfüllung gehen mögen.
Darf ich auch Sie fragen, für wen Sie gespielt haben? fragt Olga zögernd die Großmutter, die neben ihr steht.
Die alte Dame lächelt und streicht Olga übers Haar. Ach Kind, für jemanden, den es nicht mehr gibt, sagt sie dann so leise, daß es nur Olga verstehen kann. Dann nimmt sie ihr Cello und geht zur Haustür.