Sie hatten ihr die Nachricht zukommen lassen, es sei alles bereits vorbei. Und »geregelt«.
Die Beerdigung, die Entscheidungen, der Absturz in das Nichts ebenso. Sie hatten alles ohne Laura entschieden, niemand hatte sie gefragt oder ihr Einverständnis eingeholt. »Glaub mir, es ist besser so«, hatte Tante Minchen geschrieben, die inzwischen in einem Stift außerhalb Berlins lebte. »Wir hatten keine andere Wahl, es ist ohnehin für niemanden von uns begreifbar. Großmutter wollte, daß Du Dich erst richtig erholst, und zu ändern war nichts mehr, es ging alles viel zu rasch. Wenn sie aus England zurückkommt, wird sie Dir alles erklären.« In einem Postskript war dann angefügt, daß das Haus jetzt einer Bank gehöre, die es versteigern lassen wolle, aber das stehe alles ausführlich in dem Brief, den die Großmutter ihr schreiben werde. Ihre gepackten Sachen seien bei Grete untergebracht, aber bis zum ersten Oktober sei der Schlüssel am gewohnten Platz. »Du weißt ja, wo«, hatte Tante Minchen in ihrem Drang, alles geheimzuhalten, noch an den Rand geschrieben.
Nun saß sie im Zug nach Berlin, starrte aus dem Fenster und ließ zu, daß ihr die Tränen ungehindert die Wangen herunterliefen, obwohl fast alle Plätze im Abteil besetzt waren und es jedermann sehen konnte.
Daß sie sich richtig erholt fühle, konnte sie kaum von sich behaupten. Es war ein regnerischer September gewesen, und das Vergnügen, mit nackten Füßen im Wattenmeer herumzulaufen und den Sand zwischen den Zehen zu spüren, hatte sie genau zweimal gehabt. An den Regentagen hatte sie mit einem alten General in der einen der beiden winzigen Kneipen der Insel Schach gespielt und in der anderen mit dem ebenso alten Direktor eines Weinguts Bridge. Dabei hatte sie stundenlang Vorträge über die Vorzüge des siebenundneunziger Rieslings gegenüber den Nachteilen des Jahrgangs 1898 über sich ergehen lassen müssen und alles über die Ursachen von Weinstein erfahren.
Die Wirtin ihrer Pension war freundlich gewesen, aber beim Frühstück knauserte sie, vermutlich um das Fehlen weiterer Gäste wettzumachen, die wegen des nassen Herbstes fernblieben, und so gab es wechselweise an einem Tag nur Rübenmarmelade und am anderen nur Stachelbeerkonfitüre, wobei weder die eine noch die andere durch besondere Süße auffiel.
Als Laura ausstieg, nieselte es, und die Dämmerung brach soeben herein. Sie vertraute darauf, daß Grete, der sie ihre Ankunft telegraphisch angekündigt hatte, sie abholen würde, aber sosehr sie sich auch umschaute, sie konnte Grete nirgendwo entdecken, weder auf der Rückseite des Bahnhofsgebäudes noch in der Bahnhofshalle.
Die Droschke, die sie schließlich nahm, nachdem sie ihr Gepäck abgeholt hatte, hatte einen unfreundlichen Kutscher, der sie dreimal nach der Straße fragte und dann etwas vor sich hin brummelte, was sie nicht ganz verstand, aber es kam ihr vor, als meine er, daß man diese kurze Strecke auch zu Fuß gehen könne.
Als sie dann das Gartentor öffnete, stellte sie fest, daß das Schloß klemmte. Auf dem Fußweg zur Haustüre wucherte das Unkraut, und im hinteren Teil des Gartens konnte sie im Dämmerlicht Sonnenblumen sehen, deren abgeblühte Köpfe geknickt waren und sich über den Nachbarzaun neigten.
Im Haus roch es kalt und muffig, als sie die Türe öffnete. Ihre Hoffnung auf Grete und einen warmen Tee verflüchtigte sich, als sie das Licht anknipsen wollte und dabei feststellte, daß offenbar bereits der Strom abgestellt worden war. Sie tastete sich durch die Diele, stolperte dabei über Umzugskisten, zusammengerollte Teppiche und mit weißen Tüchern verhängte Möbel. Zwischen Besen und Eimern hindurch gelangte sie schließlich in den Wintergarten. Der Raum war leer bis auf einen riesigen Karton. Im letzten Licht des Tages konnte sie die Aufschrift lesen: »Korrespondenzen/Ausland ab 1898«. Auf dem Karton stand eine Kerze, daneben lagen ein Päckchen Streichhölzer und ein offensichtlich in Eile geschriebener Zettel.
»Bein gebrochen, muß ins Krankenhaus. Sobald Adresse aus Heidelberg kommt, schicke ich Deine Sachen. Hoffe, Brief Deiner Großmutter hat Dich erreicht. Alles Gute! Deine immer an Dich denkende Grete.«
Sie hielt den Zettel in der Hand und war unschlüssig, ob sie das Haus sofort wieder verlassen solle, da es sich offenbar in einem hoffnungslosen Zustand des Chaos befand. Weder wußte sie, was mit dem riesigen Karton mit Korrespondenzen geschehen sollte noch mit den übrigen Umzugskisten, den verhängten Möbeln und den Teppichrollen, und da Grete keinen Hinweis auf das Krankenhaus hinterlassen hatte, war sie mehr als hilflos.
Schließlich entschied sie sich, die Kerze anzuzünden, sie setzte sich auf einen alten Hocker und starrte in den Garten hinaus.
Bis jetzt wußte sie nur, daß der Großvater tot war, ganz »plötzlich verstorben«, wie es in der Todesanzeige, die Tante Minchens Brief beigelegen hatte, stand, und daß die »Umstände« sie gezwungen hätten, alles zu verkaufen. Umstände? Sie grübelte über dem Wort, konnte ihm keinerlei Sinn abgewinnen, und der angekündigte Brief der Großmutter, die angeblich nach England gefahren war zu irgendeiner Tagung, von der sie allerdings bis zu Lauras Rückkehr hatte zurück sein wollen, war nie eingetroffen.
Sie grübelte weiter, versuchte sich Situationen auszudenken, die jemanden zwangen, ein Haus zu verkaufen, das sich seit Generationen im Besitz seiner Familie befand, aber da es keinen Börsenkrach oder ähnliches gegeben hatte, fiel ihr nichts Einleuchtendes ein. Ein Vermögen durchzubringen schien ihr unvorstellbar, auch wenn die Hagemanns nicht eben reich gewesen waren. Allein der Wert des Hauses war so hoch, daß niemand in Armut hätte leben müssen. Daß dieses Haus nun gar versteigert werden sollte, erfüllte sie mit Zorn, weil das Wort »versteigern« bei ihr das Gefühl auslöste, man betrachte das Haus als etwas so Ungeliebtes und Minderwertiges, daß man es nur durch eine Versteigerung loswerden konnte. Und sie stellte sich vor, wie Besucherscharen nun vermutlich seit Tagen durch dieses Haus geschwärmt waren, jeden Winkel ausgespäht und alle liebenswerten Macken notiert hatten, um den Kaufpreis zu drücken. Aber je mehr sie nachdachte, um so weniger ergab sich ein Sinn. Und so stand sie schließlich auf, um einen letzten Rundgang durch das Haus zu machen, in dem sie bis zu diesem abrupten Ende ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte.
Sie nahm die Kerze und betrat das Eßzimmer, dann den Salon. Einer der letzten Abende vor ihrer Abreise fiel ihr ein, das betretene Schweigen, als sie in diesen Raum gekommen war und das Gespräch zwischen dem Großvater und Erwin jäh abbrach. Aber sie hatte sich nichts dabei gedacht. Und gesagt hatte ihr auch niemand etwas.
Sie stieg die Treppe in das Obergeschoß hinauf, tausend Bilder stürmten auf sie ein. Ihr sechzehnter Geburtstag, an dem sie bei Nacht das alte Klavier in den Garten geschleppt hatten, um stundenlang zu spielen, nachdem sie die Großmutter wieder aus dem Bad geholt hatten, damit sie mit ihnen musizierte. Auch die lakonische Antwort des Großvaters nach jenem grotesken Ausflug zu der Kyffhäuserfeier, als Tante Minchen ihn gefragt hatte, worüber er mit seinen Regimentskameraden gesprochen habe, stand wieder vor ihr: Über Rheuma und Gicht. Aber an Rheuma und Gicht starb man nicht so schnell, zumindest nicht so plötzlich, wie es geschehen sein mußte.
Sie ließ den Dachboden nicht aus, fand in einer Ecke einige Glasbilderstreifen der Laterna magica, die beim Packen wohl übersehen worden waren, sowie ein altes Fernrohr in einem Lederetui, das von irgendeinem Vorfahren stammte. Sie nahm das Rohr aus dem Etui, ging zum Fenster und schaute in den Garten hinunter, der inzwischen in einem dämmerigen Zwielicht lag.
Und dabei sah sie den Rauch. Er schien aus einer der Hütten zu kommen und stieg kräuselnd zwischen den Bäumen empor. Dann hörte sie ein mehrmaliges Knallen, als würden Knallfrösche abgebrannt.
Zunächst glaubte sie, sich verhört zu haben, doch nun knallte es ein zweites Mal, und sie hatte den Eindruck, aus Richtung des Feuerplatzes einen hellen Widerschein zu sehen. Sie nahm das Fernrohr und die Laterna-magica-Bilder mit nach unten und ging in den Garten hinaus.
Als sie sich den Hütten näherte, sah sie, wie eine Gestalt soeben das Laboratorium verließ und gemächlich zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Feuerplatz verschwand. Zunächst blieb sie verblüfft stehen, überlegte, was das zu bedeuten haben könnte, dann beschloß sie, der Sache auf den Grund zu gehen, und schlug ebenfalls den Weg zum Feuerplatz ein. Sie war kaum bei der Lichtung angekommen, als die Gestalt, ganz eindeutig ein Mann, der soeben etwas auf dem Boden angezündet hatte, ein paar Schritte zurückging und sich umwandte.
Sie starrte ihn an, er trug eine dicke wollene Jacke, die sie als die Werkstattsjacke ihres Vater wiedererkannte, und er hatte die alte Schildmütze ihres Vaters auf dem Kopf. Viktor, sagte sie fassungslos, was um alles in der Welt machst du hier!
Er winkte ihr zu, deutete auf die Rakete, die soeben über den Bäumen emporstieg, und rieb dann seine kalten Hände. Sie standen in einiger Entfernung voneinander und schauten zum Himmel hinauf, an dem sich soeben eine Sonne funkelnd entfaltete. Sie drehte sich in einen feuersprühenden Wirbel einige Male um ihre eigene Achse, setzte die nächste Sonne in Brand und ging dann irgendwo zu Boden.
Es waren seine letzten Probestücke, sagte Viktor und schaute Laura an. Weißt du eigentlich, daß diese Sonne, die er immer für sein Wasserfeuerwerk geplant hatte, fast vollendet war, als es geschah?
Sie ging langsam auf ihn zu, stockte, als sie ihm gegenüberstand, und überlegte kurz, wie sie sich verhalten solle. Dann vertraute sie seiner Stimme, die sagte: Komm her!
Sie warf sich in seine Arme, er drückte sie an sich, ertrug ihr Schluchzen, von dem sie nicht wußte, woher es kam – vom Tod des Großvaters, dem ausgeweideten Haus, der Krankheit des Vaters, dem abrupten Ende ihrer Jungmädchenzeit oder von allem zusammen.
Viktor holte sein Taschentuch heraus, wischte ihr die Tränen vom Gesicht, dann sagte er: Komm, laß uns ins Haus gehen! Hier ist es kalt.
Im Haus ist es auch kalt, sagte sie, es ist niemand da.
Ich weiß, erwiderte er, Grete ließ mir vom Krankenhaus eine Botschaft zukommen, aber die Zeit reichte nicht mehr, dich vom Bahnhof abzuholen.
Dann laß uns ins Laboratorium gehen, dort fühlen wir uns beide zu Hause.
Sie gingen zwischen den Bäumen hindurch, er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, während sie sich mit seinem Taschentuch nochmals über das Gesicht wischte, ehe sie es ihm zurückgab.
Im Laboratorium brannte eine einzelne Kerze. Viktor schob Laura auf einen Stuhl, auf dem noch der Arbeitsmantel ihres Vaters hing.
Er hatte immer einen Schnaps in diesem Fach, erinnerst du dich noch? sagte er dann und ging zu dem Hängeschrank an der Wand. Aber er sagte nie Schnaps; er sagte immer, es sei Hustensirup.
Sie lächelte, sagte: Jaja. Weißt du noch, wie wir als Kinder einmal probieren wollten, was das für ein Saft ist? Und wie sie dann durch den Garten getorkelt seien und der Großvater sie fürchterlich ausgeschimpft habe.
Mich hat er ausgeschimpft, sagte Viktor mit Nachdruck und reichte ihr das Fläschchen. Ich war der Böse in eurer Familie. Von Anfang an.
Jaja, von der ersten Stunde an. Sie kostete, verschluckte sich und schüttelte sich dann. Ich mag so etwas nicht.
Es vertreibt die Kälte, sagte Viktor und nahm einen Schluck. Hast du den Brief deiner Großmutter bekommen?
Nein, sagte sie apathisch. Jeder erwähnt diesen Brief, aber ich kenne ihn nicht. Und daher weiß vermutlich auch jeder besser als ich, was hier geschehen ist. Ich gehe durch ein leergeräumtes Haus, das versteigert werden soll, ich weiß nicht, wie es dazu kam, ich höre nur, daß mein Großvater »plötzlich« gestorben ist, weiß weder, woran, noch ob er überhaupt krank war, obwohl ich weiß, daß er jeden Tag in der Bibliothek heimlich Tabletten nahm, damit es niemand am Tisch merkte. Aber als ich abfuhr, war er noch wohlauf, sagte sie unter Schluchzen und holte Viktors Taschentuch zurück. Meine Handtasche ist drüben im Haus, sagte sie entschuldigend.
Weißt du’s wirklich nicht?
Ich flehe dich an, sag mir, was geschehen ist, drängte sie ihn. Ich war zur Erholung an der Nordsee. Bei meiner Abfahrt gab es ein Haus, in das ich jederzeit zurückkommen konnte. Und nun gibt es dieses Haus nicht mehr. Mein Großvater ist tot, meine Großmutter ist in England, vermutlich wegen irgendwelcher Frauensachen, die ihr wichtiger sind als ihre Familie.
Neinnein, nicht England, verbesserte sie Viktor. Dorthin geht sie erst später. Sie ist irgendwo in der Mark bei einem alten Rechtsanwaltfreund. Sie hofft, daß wenigstens für ihren Lebensabend etwas zu retten ist und daß sie dein Studium noch ein bißchen besser polstern kann, als es jetzt der Fall ist.
Soll das etwa heißen, daß nichts mehr von ihrem Vermögen da ist? fragte Laura entsetzt.
Sie hatten Gütergemeinschaft, und du weißt, was das für eine Frau, deren Vermögen vom Zeitpunkt der Heirat an von ihrem Ehemann verwaltet wird, in solch einer Situation bedeutet. Dabei hatte sie sich mit ihren Frauen so für eine bessere Gesetzgebung eingesetzt und Petitionen an die Regierung entworfen. Daß nun ihr widerfährt, wovor sie andere Frauen hatte schützen wollen, ist mehr als tragisch.
Viktor, was war mit meinem Großvater? Was war mit diesem Haus? Ich weiß von nichts, und Wilhelm hätte es mir gesagt, wenn er etwas gewußt hätte, als er noch hier lebte. Viktor schaute sie ungläubig an. Nun, ich denke, ihr beide konntet doch kaum so naiv gewesen sein, daß ihr nicht gemerkt habt, was da hinter den Kulissen vor sich ging.
Und was bitte, ging hier vor sich? fragte sie aufgebracht. Und daß sie es jetzt von einem Fremden hören müsse, empöre sie noch mehr.
Ach, weißt du, Fremden? Meinst du das wirklich so? fragte Viktor und schaute sie prüfend an. Bin ich wirklich fremd für dich?
Neinnein, wehrte sie hastig ab, sie habe das nicht so gemeint, aber sie sei schließlich die Enkelin und er nur entfernt verwandt. Und als Enkelin habe sie doch ein Recht auf Auskunft. Er hat spekuliert, sagte Viktor hart, und ich nehme an, daß das nicht verborgen geblieben ist. Und als er nach mehreren großen Verlusten nicht mehr aus noch ein wußte, brachte er sich um. Mit seiner Pistole.
Er hat was? stieß sie hervor.
Er hat spekuliert, an der Börse.
Spekuliert? Sie starrte ihn verblüfft an, dann lachte sie. Doch nicht Großvater! Er war ein preußischer Beamter an der Königlichen Münze! So etwas macht kein preußischer Beamter, das ist lächerlich!
Vielleicht gerade deswegen, weil er ein so ganz und gar preußischer Beamter war, sagte Viktor, und weil er genau wußte, daß er mit seinem Gehalt höchstens seine Familie ernähren konnte. Aber das war etwas so Selbstverständliches, daß man ihn dafür nie bewundert hätte.
Weshalb sollte man ihn bewundern? fragte Laura fassungslos. Was tat er denn, wofür man ihn hätte bewundern können? Etwa wegen seiner Freundinnen, mit denen er die Großmutter betrog?
Nein, das war es ja. Er konnte nichts weiter als jeden Morgen in sein Büro in der Unterwasserstraße gehen, prüfen, ob alles in Ordnung war, und in der Schmelze nach dem Rechten sehen. Schmelzkönig, Gießflaschen, Zaine, Münzplatten, Helm, Schrotkopf, Adjustiermaschinen – das war seine Welt. Er war ein preußischer Beamter, ein Karrengaul, der immer im Kreis herumlief, sagte Laura, so wie Tausende von preußischen Beamten auch.
Aber das heißt nicht, daß sie es gerne tun. Und so verfiel er wohl auf die Idee, etwas mehr Würze in sein Leben zu bringen, sich eine Freundin zuzulegen, und als dieser Nervenkitzel nicht mehr reichte, begann er zu spekulieren. Er erzählte euch doch gelegentlich von diesem Abenteuer, oder etwa nicht?
Er erzählte uns, daß er an der Börse spekuliere, und wir lachten. Wir fragten ihn: Nun, wieviel setzt du denn? Und er sagte: Die Börse ist kein Pferderennen, man setzt nicht. Er kaufe Aktien, erklärte er uns, für fünfzig Mark. Klar, daß wir lachten. Alle, auch Großmutter. Er wollte mir erklären, was es mit der Börse auf sich habe, aber ich hörte nicht zu, weil es mich nun mal ganz und gar nicht interessierte.
Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, sagte Viktor, niemand bei euch in der Familie interessierte sich für Geld. Es war da, das genügte. Bei euch zählte, daß jemand wußte, was ein Libretto ist und eine Partitur, und vielleicht aus welchem Grunde Händel plötzlich anfing, Oratorien zu schreiben. Aber das war ganz sicher etwas, was euren Großvater nicht sonderlich interessierte.
Das ist mir schon klar, sagte sie zögernd, aber, nun ja, wir haben gelacht, das gebe ich zu. Es erschien uns irgendwie dilettantisch, wie er die Sache schilderte, obwohl keiner von uns etwas davon verstand.
Kannst du dir vorstellen, daß ein Mann wie dein Großvater gerne ausgelacht werden wollte?
Du meinst, er wollte sich an uns rächen für unser zugegebenermaßen nicht eben faires Verhalten? fragte Laura ungläubig zurück.
Durchaus nicht. Er wollte vermutlich eines Tages kommen und euch mitteilen, daß er, der bescheidene preußische Beamte, den ganz großen Coup gelandet habe. Und daß er nun eigenes Geld habe, nicht nur das seiner Frau.
Ich versteh’s trotzdem nicht.
Vergiß nicht, er hatte Erwin zum Freund. Und den bewunderte er. Erwin ist ein Mann, der es zu etwas gebracht hat. Als Börsenmakler kann er sich all das leisten, was für euren Großvater nicht erreichbar war.
Mit seinen Frauen hat er sich doch einiges geleistet, sagte Laura mit einer Spur von Schärfe in der Stimme.
Ach, weißt du, Viktor lächelte, wenn du darauf anspielst, so fand das auf kleiner Flamme statt. Ich bin mir sicher, daß seine Abschiedsgeschenke anders aussahen als die von Erwin. Dein Großvater konnte keine Brillantkolliers verschenken. Er konnte seinen Freundinnen auch keine Wohnung einrichten. Erwin mußte ihm die seine zur Verfügung stellen für diese gestohlenen Stunden.
Das ist spannend, sagte Laura ironisch. Wirklich spannend. Ich denke, du wußtest das.
Ja, sagte Laura, irgendwie wußte ich es, auch wenn ich nie zuvor mit jemandem in dieser Offenheit darüber gesprochen habe.
Du bist erwachsen, sagte Viktor, oder etwa nicht?
Laura seufzte. Ich muß es wohl sein. Auch wenn ich nicht weiß, wie das mit meinem Studium nun finanziert werden soll.
Dein Studium sei gesichert, hat deine Großmutter gesagt, erklärte Viktor, auch wenn du kaum auf großem Fuß leben können wirst.
Laura ging zum Abzug hinüber, nahm eines der schmalen Probestäbchen und zündete es an. Ich frage mich, wie sie leben will, sagte sie dann, während sie das langsam verglühende Stäbchen beobachtete, von dem perlendes Silber herabtropfte. Was wird sie tun? Wird sie ohne dieses Haus, ohne Geld noch ihre Frauen um sich scharen können?
Sie hat ihren Schmuck, hat sie gesagt. Und sie will international arbeiten. Frauen, die nichts von ihren Rechten wissen, gebe es überall auf der Welt. Sie sei nun frei, überallhin zu gehen. Und eigene Erfahrungen könne sie ja nun auch genug beisteuern.
Laura nickte, nahm ein zweites Stäbchen und zündete es an. Jaja, heute Oslo, morgen London, übermorgen Paris, sagte sie dann. Das hat sie mir einmal als ihren höchsten Wunschtraum geschildert. Ein Leben ohne Dinge, wie sie sagte, ein Leben nur aus dem Koffer, das macht ihr sicher Spaß.
Ich denke, du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen. Wenn es sein muß, wird sie auch für irgendwelche Frauen im hintersten Busch ein Wahlrecht erkämpfen, das die gar nicht wollen und brauchen können.
Sie lachte. Viktor stand auf und fragte: Wo wirst du übernachten?
Bei Nellys Mutter, erwiderte Laura, sie habe dort angerufen, nachdem sie die Todesnachricht erhalten habe.
Viktor strich seine Haare zurück und sagte dann: Du hättest auch bei meiner Mutter übernachten können.
Bei deiner Mutter! sagte sie verblüfft. Ich habe noch nie bei euch übernachtet.
Nun, bisher bestand ja wohl auch kein Anlaß dazu, sagte er langsam.
Sie sehe auch jetzt keinen, sagte sie abweisend. Und überhaupt könne sie sich vorstellen, daß bei ihnen auch andere Damen übernachten.
Bei uns übernachten keine anderen Damen, sagte Viktor grob und drehte Laura zu sich herum, so daß sie gezwungen war, ihn anzuschauen.
Na schön, dann tun sie das eben nicht, sagte Laura bereitwillig. Sie habe keinerlei Interesse an seinem Liebesleben. Laura, Viktor kniff die Augen zusammen, was soll das plötzlich? Habe ich dich je gelangweilt mit Schilderungen über mein Liebesleben?
Aber es findet doch statt?
Er starrte sie zornig an und rüttelte sie an den Schultern. Ich bin acht Jahre älter als du, solltest du das vergessen haben? Gewiß nicht, gab sie zu, im Sommer habe sie jemand gefragt, wer dieser vornehme gesetzte Herr sei, der bei ihnen im Garten sitze.
Ich war seit einem Jahr nicht mehr bei euch, sagte er grimmig. Na schön, sagte sie versöhnlich, dann war es eben jemand anderes. Aber sie wisse jedenfalls, daß das Studium in höchstem Maße dazu verführe, auch all das zu tun, wozu man sich sonst vorher nie getraut habe.
Er ließ sie los und schaute sie ungläubig an. Studierst du etwa deswegen?
Sie lachte. Nein, ganz gewiß nicht. Ich höre nur von allen Seiten, wie lustig das Studentenleben sei. Sorgenlos und ohne Bindung.
Das klingt nach Zügellosigkeit und Orgien, sagte Viktor. Naja, dann habe ich eben den falschen Leuten zugehört, sagte Laura sanftmütig.
Vielleicht sei es in den ersten Semestern so, lenkte Viktor ein, aber kaum noch, wenn man auf ein Examen hinarbeite.
Was willst du tun, wenn du fertig bist?
Ich weiß es noch nicht genau. Es gibt an vielen Orten deutsche Grabungen, in Babylon, in Mexiko, vielleicht bleibe ich auch hier. Man darf nicht wählerisch sein in dieser Fakultät. Als Ingenieur würde ich mich vermutlich bei der Firma bewerben, die die Bagdad-Bahn baut, aber nun habe ich eben einen anderen Beruf.
Wirst du, sie zögerte, wirst du immer unterwegs sein? Ich meine, mit diesem Beruf hast du ja wohl nicht viele andere Möglichkeiten?
Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, sagte er abweisend. Solange ich ohne Familie bin, geht es.
Eine Weile standen sie sich gegenüber, dann fragte Viktor, ob er bei den Nachbarn eine Droschke bestellen solle, das Telephon sei bereits abgestellt.
Sie finde allein hin, sagte sie rasch, es sei ja nur eine Straße weiter.
Er schaute sie an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schluckte es dann jedoch hinunter.
Sie schien zu warten. Er betrachtete ihr Gesicht, sah die Enttäuschung darin und setzte ein zweites Mal an: Laura ...
Sie sagte, dieser Pfänderkuß damals, das war kein Pfänderkuß, falls es das ist, worüber du dich zu reden nicht entschließen kannst.
Er atmete durch, nickte erleichtert. Nein, das war er nicht. Aber ich weiß bis heute nicht, was er sonst gewesen sein könnte, sagte sie sinnend. Schließlich war ich sechzehn und du vierundzwanzig. Ich nehme an, ich war nicht das erste Mädchen, das du geküßt hast.
Nein, das warst du nicht, gab er zu. Aber du warst das erste Mädchen, das mich so geküßt hat.
Wie bitte?
Weißt du es nicht mehr?
Nun, ich denke doch, daß mein Erinnerungsvermögen noch intakt ist. Du hast mich geküßt.
Natürlich. Aber anschließend hast du mich geküßt.
Also ... Sie begann nachzudenken, stutzte. Ich denke, es war kein Kuß, nur eine – ach was, es war nichts weiter als Zärtlichkeit. Eine Spur davon. Genaugenommen war es gar nichts, sagte sie dann hastig.
Und gerade dieses Garnichts hat mich bewegt, sagte Viktor leise. Es bewegt mich immer noch, bis auf den heutigen Tag. Die Bogenlampen gingen an. Sie blickten auf die Straße hinaus.
Gib acht auf dich, dort bei den Tigern und Löwen und Elefanten oder wo immer du deine Tonscherben ausgräbst! sagte sie und legte ihre Hand auf seine Wange.
Er hielt sie fest, küßte ihre Fingerspitzen und lachte. Also dann, leb wohl! Und, bitte, keine Zügellosigkeit im Studium, sagte er betont heiter und drohte mit dem Zeigefinger. Und vor allen Dingen keine Orgien!
Sie lachten, dann verließ sie ihn. An der Ecke wandte Laura sich noch einmal um, weil sie ganz sicher war, daß Viktor noch am Gartentor stand und ihr nachschaute.
Sie winkte.
Er hob ganz leicht die Hand.