Im Sommersemester kamen vier neue Studentinnen nach Heidelberg. Zwei davon studierten Medizin, eine andere war bereits achtunddreißig Jahre alt und studierte Cameralistik. Die vierte hatte eine Lehrerinnenausbildung absolviert, was gerne gesehen wurde, weil die Professoren dann behaupten konnten, diese Dame haben schon den Ernst des Lebens kennengelernt und bringe daher mehr Reife mit für ein Studium.
Laura hatte inzwischen Rosa Derrenkott in ihrer Bude Am Hackteufel besucht. Eine Wohnung, die alles andere als eine Bude war, sondern aus zwei bequemen Zimmern bestand, und aus den Fenstern konnte man wirklich auf den Neckar schauen. Die Räume waren mit anspruchsvollen Möbeln eingerichtet. Laura wunderte sich und sagte: Ihre Wirtin muß viel Vertrauen in Studenten haben, daß sie Ihnen so schöne Möbel zur Verfügung stellt.
Rosa lachte, sagte, es seien ihre eigenen Möbel, ihr Vater sei Intarsienfabrikant, und sie habe die Wohnung leer gemietet. Ihre Eltern wollten, daß sie es hübsch habe, solange sie auf Männerfang sei, und der Mann, den sie schließlich kennenlerne, solle auch wissen, aus welchem Stall sie komme. Und selbstverständlich soll er zu mir passen, haben meine Eltern gesagt.
Und was verstehen Ihre Eltern unter »passen«? fragte Laura. Wieder lachte Rosa. Nun, zunächst muß er gut aussehen, damit wir einmal schöne Kinder bekommen, dann muß er in die Fabrik meines Vaters passen, also vielleicht Jura studieren oder Cameralistik, ferner sollte er, zumindest nach Meinung meiner Mutter, etwa acht oder neun Jahre älter sein als ich, eine Promotion anstreben, selbstverständlich praktizierender Katholik sein und ... Rosa dachte nach und schnippte dann mit dem Finger, weil sie wußte, daß sie noch etwas vergessen hatte. Ach ja, seine finanzielle Basis muß geordnet sein.
Heißt das, er muß jede Menge Geld verdienen und schon jede Menge Geld besitzen? erkundigte sich Laura.
Neinnein, nicht verdienen, das kann er ja dann bei uns in der Fabrik, erklärte Rosa bereitwillig. Besitzen schon eher. Nicht wegen mir, aber wegen meinen Eltern.
Als Rosa sich kaum drei Monate später in einen Wandervogel aus der Umgebung verliebte, der nur ein armes Dorfschulmeisterlein war, das Gesicht voller Pockennarben hatte, ein halbes Jahr jünger war als sie und Lutheraner, lachte sie hellauf und sagte zu Laura: Stell dir vor, und das passiert mir! Meine Eltern werden mich enterben und sagen, daß dieses Semester glatt vergeudete Zeit war – falls nicht noch anderes geschieht.
Später, als Laura an dieses Sommersemester zurückdachte, wußte sie, daß es bei ihr genau umgekehrt war wie bei der Klage von Rosas Eltern: Es war die intensivste und zugleich schwebendste Zeit ihres Studiums gewesen. Sie sog das Leben in sich hinein, sie ließ sich treiben, versäumte keinen Ball, keine Böllerschüsse, keinen Fackelzug und keinen Tanzabend.
Später schien es ihr, als habe sie sich durch diesen Sommer hindurchgetanzt, habe weder gegessen noch getrunken, noch geschlafen. Alles, selbst die banalsten Verrichtungen wie Zähneputzen, die Schuhe reinigen, einen Knopf annähen oder Brötchen kaufen, schien ihr von Licht durchflutet, von Glücksgefühlen durchwoben. Sie hatte das Gefühl, nie zuvor so intensiv gelebt zu haben, das Gefühl, als sei kaum mehr eine Steigerung dieses Lebens möglich.
Es war zugleich der Sommer der Besuche, der unerwarteten und unangemeldeten Besucher, von denen Olga der erste war.
Sie klopfte eines Abends kurz vor Mitternacht an Lauras Tür, war kaum wiederzuerkennen in ihren vornehmen Kleidern, die von den besten Pariser Couture-Häusern zu stammen schienen, und fiel der im Nachthemd dastehenden Laura lachend um den Hals. Geht es hier immer so feuchtfröhlich zu? fragte sie dann und deutete nach unten. Jeden Abend, seufzte Laura, aber sie wohne billig.
Können wir hinuntergehen? fragte Olga und stellte ihre Reisetasche auf den Boden.
Zu diesen Burschen? sagte Laura entsetzt.
Olga lachte. Du bist prüde, mein Täubchen, sagte sie dann gespielt entsetzt, noch immer prüde. Oder bist du es am Ende nicht mehr?
Laura schloß die Tür, zog den Morgenrock über und fragte Olga, was sie ihr anbieten könne: Himbeerlimonade, Zitronensaft, Milch.
Olga lachte laut. Was trinkt man denn bei euch in Heidelberg, mein Täubchen? Bei uns in Rußland trinkt man Wodka.
Laura bot ihr Heidelbeerwein an, den sie geschenkt bekommen hatte, und sagte: Wenn du dich betrinken willst, damit schaffst du es auch.
Olga wehrte ab, sagte, sie wolle sich gewiß nicht betrinken, sie sei nur so glücklich, die Idee gehabt zu haben, hier abzusteigen. Verstehst du? Ich fahre da von Basel nach Paris, und auf einmal kommt mir der Einfall, in Heidelberg die Fahrt zu unterbrechen.
Ich wußte gar nicht, daß Heidelberg an der Strecke nach Paris liegt, sagte Laura verblüfft.
Olga sprang von ihrem Stuhl hoch, umarmte Laura ein zweites Mal und sagte: Du bist noch immer mein liebes kleines Schaf, mein Schäfchen. Natürlich liegt Heidelberg nicht an der Strecke. Aber wenn man will, liegt es eben an ihr.
Olga sah sich im Zimmer um.
Wenn du schlafen willst, sagte Laura, kannst du in meinem Bett schlafen. Ich nehme diesen durchgesessenen Sessel; man stellt einen Hocker davor und legt sich eine Decke auf die Füße.
Wie oft sie das schon ausprobiert habe, wollte Olga, verschmitzt lächelnd, wissen.
Gar nicht. Meine Besucher übernachten nicht hier.
Ich übernachte auch nicht, sagte Olga und drehte sich tanzend im Kreise. Ich will gewiß nicht schlafen. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Ich bleibe zwei Stunden, und dann fahre ich mit dem nächsten Zug weiter.
Fahren die Züge so oft nach Paris?
Nein, sagte Olga lächelnd, ich muß viermal umsteigen, aber das macht nichts, wenn man glücklich ist.
Laura schaute sie fragend an. Bist du es?
Olga reckte die Arme in die Luft, sprang dann auf den Hocker, um die Dachluke zu öffnen. Ist das der Neckar?
Den sieht man nicht bei Nacht.
Aber doch bei Vollmond.
Es ist kein Vollmond.
Olga stieg von ihrem Stuhl herab, küßte Laura und sagte: Wenn man will, daß Vollmond ist, dann ist Vollmond. Du hast es mir geschrieben, das mit dem Neckar.
Sie tranken Heidelbeerwein, spürten, wie er sie abtauchen ließ, die Konturen des Raumes verwischte. Olga ließ sich auf das Bett zurückfallen. Erinnerst du dich noch an das »Notturno«? An deinen sechzehnten Geburtstag?
Natürlich erinnere sie sich, sagte Laura.
Weißt du auch noch, daß mich deine Großmutter gefragt hat, für wen ich dieses »Notturno« gespielt habe?
Du hast gesagt, für jemand, den es noch nicht gibt.
Ja, das habe ich gesagt, meinte Olga und schwieg vor sich hin.
Gibt es ihn jetzt?
Olga nickte versonnen, setzte sich hoch. Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber es ist nun mal passiert. Sie machte eine Pause, sah vor sich hin, summte ein Lied dabei und stand dann abrupt auf. Ich dachte, ich könnte darüber reden, sagte sie, aber nun geht es nicht. Lustig, was?
Du mußt nicht.
Jajaja. Aber ich wollte es. Ich dachte, ich sei so voll, daß ich es nun irgend jemandem erzählen muß, einer Frau natürlich. Und da ich außer dir kaum Freundinnen habe, genaugenommen gar keine, dachte ich, ich steige hier aus. Aber nun geht es nicht, schade. Sie lachte, drehte sich wieder im Kreis, stieg nochmals auf den Hocker, und umarmte Laura dann. Leb wohl! Besuch mich mal! Falls du dieser Stadt einmal entrinnen willst, dann kommst du einfach zu mir, unangemeldet! Sie ging zur Tür.
Laura sagte entsetzt: Du willst doch nicht mitten in der Nacht wieder gehen? Am Ende noch zu Fuß! Es ist ganz schön weit bis zum Bahnhof.
Olga lachte. Paris ist gefährlicher als euer braves kleines Heidelberg, und wenn ich eine Reportage mache, so wie gerade jetzt, bin ich oft allein unterwegs. Und in solch einer lauen Sommernacht sind in Heidelberg gewiß keine bösen Menschen unterwegs. Sie küßte Laura, dann stieg sie, fröhlich vor sich hin summend, die Treppe hinunter.
Der nächste Besucher war Onkel Heinz, ebenso unangemeldet wie Olga, er hatte zwar eine Karte geschrieben, die jedoch erst eintraf, nachdem er wieder abgefahren war. Tante Minchen kam mit der Großmutter zur gleichen Zeit, was ganz gewiß nicht mit Onkel Heinz’ Plänen übereinstimmte, da er Heidelberg solo erleben wollte.
Die drei wohnten in einer kleinen Pension, die zu dieser Zeit überbelegt war, aber da sich die Großmutter insgesamt dreimal an- und ebensooft abgemeldet hatte, wußte Laura nicht, welche der beiden Frauen zu welchem Zeitpunkt auftauchen würde, so daß sie sich erst in letzter Minute um ein Quartier bemühen konnte.
Der Familienbesuch wurde der strapaziöseste Besuch dieses Sommers. Strapaziös, weil die Atmosphäre der Berliner Villa in diesen kleinen schäbigen Salon der Pension verlagert zu sein schien, wo sich an manchen Nachmittagen auch die anderen Gäste aufhielten. Ein Umstand, der die Großmutter allerdings kaum belastete, denn sie unterhielt sich mit Minchen und Heinz in der gleichen Lautstärke wie sonst und ohne jede Hemmungen über alles, was sie bewegte.
Auf der Molkenkur saßen sie gerne und oft. Tante Minchen konnte sich nicht satt sehen an den verschiedenen Mützen und Bändern der Korpsstudenten und wollte Aufklärung von Onkel Heinz. Der tat dies nur murrend, und nach dem Grund für seine Abneigung gefragt, erzählte er ihnen, daß es Burschenschaftler waren, die 1817 auf der Wartburg Bücher verbrannt hatten. Und überhaupt störe ihn dieses nationale Getue bei den meisten Burschenschaften, nicht zuletzt die Ausgrenzung von jüdischen Studenten.
Immer negativ, sagte Minchen abends zu ihrer Halbschwester. Kann er nicht mal diese schöne Molkenkur und diesen sonnigen, schönen Tag in Ruhe lassen?
Na, der Molkenkur sei doch gewiß nichts geschehen, korrigierte sie die Großmutter.
Du bist auch ein Schulmeister, beschwerte sich Minchen, oder zumindest kaum besser.
Und dann »Alt-Heidelberg«. Laura hatte sich überlegt, was sie ihrer Familie am letzten Abend bieten könnte, und hatte sich für dieses Theaterstück entschieden, das im Jahr zuvor Wilhelm Meyer-Förster verfaßt hatte und das inzwischen Zuschauerscharen in die Stadt zog und zu emotionsgeladenen Begeisterungsstürmen hinriß. Taschentücher, hatte Laura Tante Minchen empfohlen, solle sie unbedingt mitnehmen, was jene jedoch mit einer wegwerfenden Handbewegung abtat. Sie weine nicht im Theater, das sei unfein, sie bewahre Contenance. Daß Tante Minchen dann allerdings nicht nur ihr eigenes Taschentuch ausgiebig benutzte, um ihrem Tränenstrom Herr zu werden, sondern auch das von Laura, der Großmutter und gar das von Heinz benötigte, stellte den Höhepunkt sowie weihevollen Abschluß des Besuches dar.
Es war sehr lieb von Heinz, sagte Minchen gerührt nachts im Bett, während sie noch immer schniefen mußte, wenn sie an den fünften Akt und das Finale zurückdachte, bei dem Käthie ihren Karl Heinrich zum letztenmal sieht. Heinz hat nicht einmal gespottet, als er mir unauffällig sein Taschentuch zuschob.
Wilhelm stand eines Tages vor der Universität.
Er sah exotisch aus, trug einen Anzug, dem man ansah, daß er nicht in Europa geschneidert war, und sein Hut sah aus wie ein Stetson und schien aus Amerika zu kommen, was, wie sich später herausstellte, auch stimmte. Da er einen Schnauzbart trug und die Haare kurzgeschnitten hatte, blinzelte sie zunächst, als er ihren Namen rief, in die Sonne, weil sie ihn nicht erkannte. Als Wilhelm sagte, deinen Bruder wirst du doch noch erkennen, stieß sie einen Schrei aus, lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Sie küßten sich, und als sie im seitlichen Blickfeld zwei Professoren aus der Tür kommen sah, bei denen sie Vorlesungen besuchte, war es ihr egal.
Sie nahm Wilhelm in ihre bescheidene Wohnung mit und fragte, ob sie ihm etwas zu essen anbieten könne. Aber Wilhelm lehnte ab und sagte, er habe bereits im Zug gegessen. Im Zug, wunderte sie sich, wie vornehm. Dann einen Tee? Einen Tee, stimmte er zu, falls du einen zu machen verstehst. Hoho, protestierte sie aufmüpfig, zitiere jetzt bitte nicht den Großvater: Griechische Syntax, aber keine Ahnung, wie man ein Spiegelei brät.
Sie lachten, und Wilhelm trat neben sie an den Gaskocher. Sie holte die Kanne aus dem Schrank. Du wirst sie ja wohl vorher mit heißem Wasser wärmen, sagte Wilhelm mißtrauisch und nahm ihr das Gefäß aus der Hand. Setz dich! sagte er dann und verwies sie an den Tisch. Ich mach’ das schon. Sie sah zu, wie Wilhelm die Zubereitung des Tees zelebrierte, konnte sich nicht genug wundern. Du machst das wie ein perfekter Butler, sagte sie dann bewundernd.
Wilhelm zählte die Finger einer Hand ab und sagte dann bereitwillig: Ja, auch das sei einer seiner Berufe gewesen. Koch genauso wie Diener. Eine Zeitlang habe er sogar Autos geprüft, aber nicht lange. Du kannst dir nicht vorstellen, was da alles verkauft wurde.
Sie schüttelte verblüfft den Kopf. Du gingst weg als Feuerwerker, um in China die Kunst des chinesischen Feuerwerks zu studieren, und kommst wieder als Koch?
Wilhelm lachte, goß den Tee in zwei hauchdünne bemalte Tassen, die er aus einem kleinen Koffer genommen hatte. Mein Geschenk für Großmama, sagte er ernst und deutete auf die Tassen, aber das ist ja nun wohl vorbei.
Du weißt schon alles?
Ob ich alles weiß, bin ich mir nicht so sicher, aber bestimmt das Wichtigste. Daß es Großvater nicht mehr gibt. Ich mochte ihn. Trotz allem, wie er war. Und ich hätte ihm ein ruhmvolleres Ende gegönnt.
Als sie am Abend mit Wilhelm zum Schloß hinaufstieg, erfuhr sie seine Geschichte, die mehr als abenteuerlich war.
Also zunächst geriet ich wirklich in diesen Aufstand der Boxer, aber die Firma, bei der ich arbeitete, hatte ihren Sitz in einer kleinen Stadt, wo man nichts von dem Aufstand zu spüren bekam. Sie nahmen mich nur, weil ich billiger war als ein Kuli, quasi für Essen und Schlafen arbeitete.
Und was ließen sie dich machen?
Wilhelm lachte. Das, was bei uns die Lehrlinge machten: Ich durfte Hülsen füllen. Aber dann starb in diesem Betrieb von einem Tag zum anderen der Vorarbeiter, und so war ich plötzlich wichtig geworden, zumal ich mich um Geld wenig kümmerte. Ich lebte in der Familie und bekam mein Essen. Das klingt unwahrscheinlich, sagte Laura.
Nicht, wenn du erfährst, daß es in dieser Familie eine Tochter gab, für die man einen Mann suchte.
Und du schienst ihnen passend?
Wilhelm streckte sich. Hältst du mich für so häßlich, daß ich einem Mädchen nicht gefallen könnte?
Neinnein. Nur, du warst schließlich Ausländer, und die jagte man zu jenem Zeitpunkt gerade fort.
Das störte den Firmeninhaber nicht, er sagte, das werde sich legen. Und er wolle das Geschäft vergrößern. Also schickte er mich los, um das Terrain zu erkunden.
Sag mal, unterbrach ihn Laura, kam es dir nie in den Sinn, daß du eine Familie hast, die sich Sorgen machen könnte? Natürlich kam mir die Idee, aber schließlich schrieb ich Briefe, einen um den anderen, auch wenn keine Nachricht kam. Laura blieb verblüfft stehen. Wir bekamen aber keine Briefe von dir.
Das ist verständlich. Mein Chef hielt eure Briefe zurück, weil er nicht wollte, daß ich zurückgehe. Und meine Briefe kamen nie an, weil ihr für die Post verschollen wart.
Wie bitte?
Frag Großmutter! sagte Wilhelm. Sie gab lediglich die Adresse eines Freundes an, fragte dort aber nie nach. Und da sie heute in Paris und morgen in London und übermorgen weiß Gott wo war, riß der Kontakt völlig ab.
Und wann hast du China verlassen?
Als ich mit großem Zeremoniell verheiratet werden sollte, mit einer Frau, die ich nicht einmal gesehen hatte. Und gewiß nicht liebte. Ich floh kreuz und quer durchs Land, erarbeitete mir meine Schiffspassage und landete schließlich in Dresden.
In Dresden?
Ja, ich will dort meine Meisterprüfung machen. Die Leute, bei denen ich arbeiten möchte, sind weitläufige Verwandte von Vater. In den nächsten Tagen werden sie mir Bescheid geben.
Der nächste Besucher dieses Sommers kam ebenso unangemeldet wie die vorherigen.
Deine braungebrannten Männer erregen allmählich Aufsehen, sagte Rosa eines Tages bewundernd, als sie miteinander in eine Vorlesung gingen.
Welche braungebrannten Männer? wollte Laura wissen. Nun, erst der Chinese und jetzt dieser Scheich.
Laura blieb stehen. Dieser was?
In deiner Wohnung sitzt ein Scheich. Zusammen mit einem Chinesen.
Laura starrte sie an. Der Chinese ist mein Bruder, aber einen Scheich kenne ich nicht.
Sie habe beide gesehen, sagte Rosa beleidigt, vor einer Stunde, und es sei schließlich nicht Karneval und kein Kostümfest angesagt. Sie habe bei Laura geklingelt, um sich ein Buch auszuleihen, und da hätten diese seltsamen Männer geöffnet.
Laura verabschiedete sich in aller Eile, rannte nach Hause, nahm zwei Stufen auf einmal und stand dann atemlos vor ihrer Wohnung, aus der lautes Männerlachen drang. Sie öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. Wilhelm trug einen Kimono, hatte einen Zopf auf seinem Kopf und verneigte sich soeben mehrere Male hintereinander, wobei er nach rückwärts schritt, bis er den Schreibtisch berührte. Die Schreibtischunterlage verrutschte, der Tisch kam ins Kippen, was jedoch weder ihn noch den von Rosa als Scheich bezeichneten Mann zu beeindrucken schien. Dieser Scheich hatte die Hände emporgehoben, die Handflächen gegeneinander gedrückt und sprach in einer fremden Sprache auf Wilhelm ein, der sich immer noch verbeugte.
Das Gesicht des Scheichs war unter einem Turban weitgehend verborgen. Als er sich ihr zuwandte, kamen ihr die Augen in diesem Gesicht bekannt vor. Beide Männer verneigten sich nun vor ihr und sprachen jeder in einer anderen Sprache auf sie ein. Als sie unten im Hausflur Stimmen hörte, drückte sie schließlich die Tür hinter sich zu.
Viktor, sagte sie schwach, als der Scheich mit einem Ruck den Turban vom Kopf riß und ihr mit ausgebreiteten Armen entgegenkam. Mein Gott, Viktor.
Und jetzt erzähle mir, wie man in Heidelberg lebt! sagte Viktor vergnügt, nachdem sie miteinander gegessen hatten.
Sie lachte, legte den Finger an die Nase und flüsterte dann: In Heidelberg durchtanzt man alle Nächte. Polonaise, Walzer, Kotillon, Mazurka, Polka, Contredance.
Sie lachten, und Wilhelm drohte mit dem Finger. Schwesterlein, du mußt lernen, du bist später einmal für unser aller Gesundheit zuständig.
Später, sagte sie lachend, später sei später, und heute sei heute. Und heute, das heiße Damenrudern, Zuberfahren, Entenfang, Fechten, Reiten, Tennis. Und ab und zu sei sie Couleurdame. Dies alles mache Spaß, und sie werde gewiß nicht so dumm sein und einen Sommer verschenken. Diesen ganz gewiß nicht.
Viktor schüttelte den Kopf, wandte sich an Wilhelm: Hättest du gedacht, daß dieses Küken eines Tages jemand sein wird, der sein Leben als Couleurdame und mit Damenrudern, Entenfang und Zuberrennen verbringt?
Sie lachte. Es ist kein Rennen, es geht gemütlich zu bei uns. Auch beim Studium? fragte Viktor. Ich meine, findest du überhaupt Zeit für so unwichtige Dinge wie ein Studium? Oh, gewiß doch. Ich habe bereits zweimal die Note »ausgezeichnet« bekommen.
Trotz aller durchtanzten Nächte? wollte Wilhelm wissen.
Trotz aller durchtanzten Nächte, sagte sie lachend.
Die nächsten Tage verbrachte sie damit, den beiden Besuchern Heidelberg zu zeigen.
Sie schleppte sie mit auf den Philosophenweg, und Gregor lud sie auf den Königstuhl ein. Dort durften sie an dem Waltz-Reflektor drehen und den Sternenhimmel betrachten, während Professor Wolf ein Privatissimum gab. Viktor erzählte vom Sternenhimmel über der Wüste und geriet in ein Fachgespräch mit Gregor, der gestand, daß er jede Strapaze auf sich nehmen würde, wenn er nur in der Wüste sein könnte.
Einmal stiegen sie in der Dämmerung zur Molkenkur hinauf und bei Nacht wieder ins Tal. In der Stadt gerieten sie in einen Katzenfackelzug, und sie schlossen sich einer Gruppe von Studenten mit Katzenkostümen an, die singend auf sie zukamen. Ein andermal ruderten sie bei Nacht mit Lampions auf dem Neckar. Als ein Gewitter kam, kenterten sie und schwammen zu dritt lachend zum Ufer zurück.
Dieser Sommer sei schön, sagte Viktor, als sie ihre nassen Kleider in Lauras kleiner Wohnung auszogen – Laura hinter dem Vorhang ihrer Kochnische –, um in trockenes Zeug zu schlüpfen.
Wilhelm telephonierte zu dem vereinbarten Zeitpunkt mit dem Meister in Dresden und erhielt die endgültige Zusage, was sie in einem Lokal an einem lauen Sommerabend mit Wein, Bier und Brezeln kräftig feierten.
Eine Ärztin, ein Feuerwerker und ein Archäologe – was haben wir doch für interessante Berufe! sagte Laura voller Überschwang.
Noch haben wir sie nicht, sagte Wilhelm. Aber wenn er Meister sei, wolle er versuchen, das Haus in Berlin wieder zurückzukaufen.
Es wohne ein Seidenfabrikant darinnen, der die Hütten habe abreißen wollen, erzählte Laura, aber da niemand von der Familie je wieder dort gewesen sei, wisse sie auch das nicht sicher. Trinken wir auf die Villa! sagte sie zu Viktor, der als Kind wie Wilhelm und sie mit ihrem Vater dort hatte Sterne machen dürfen. Sie fragte sich, ob es die alten Schlupfwinkel wohl noch gebe, wo sie immer ihre verbotenen Sachen aufgehoben hatten, hinten im Wald in der Höhle.
Auf dem Heimweg gingen sie eingehakt, Laura in der Mitte. Sie sangen ebenso laut und ungehemmt wie andere Studentengruppen, die ihnen begegneten »Am Manzanares« und »Ach, Salome«, und sie bedauerten die alte Burschenherrlichkeit, die vergangen sei. »Verschwunden«, verbesserte Viktor, aber es störte sie nicht, zumal Wilhelm das Lied ohnehin nicht kannte. Kurz bevor sie in ihre Gasse einschwenkten, sang Wilhelm ein chinesisches Matrosenlied, Viktor brachte ein wildes Reiterlied zustande, und als sich die Tür in ihrem Haus öffnete und Birikoff wie üblich mit glasigen Augen aus dem Haus gezogen wurde, grüßte ihn Laura freundlich mit einem: Schönen guten Abend, Herr Professor!
Als Wilhelm abreisen mußte, überkam Laura eine seltsame Befangenheit. Es war so, als sei Wilhelm das Verbindende zwischen ihnen dreien gewesen, und da er nun wegging, hatte sie Mühe, mit Viktor ein neues Gleichgewicht zu finden. Sie brachten Wilhelm gemeinsam zum Zug, entließen ihn mit guten Ratschlägen und ermahnten ihn, sie es wissen zu lassen, wenn es mit der Meisterprüfung soweit sei, damit er ihnen ein Privatfeuerwerk vorführen könne. Du weißt ja, diese Riesensonne hoch oben in den Wolken, von der dein Vater immer träumte und die er nie zustande brachte, erinnerte ihn Viktor.
Wilhelm lächelte, versprach den beiden eine Riesensonne in einer Riesensonne, dazu eine Kugelbombe mit Blumen aus tausend farbigen Sternen, Römischen Kerzen, Fontänen und einen Niagarafall, wie es nie zuvor einen gegeben habe.
Wie war noch die Mischung für das Fliegende Feuer? fragte Viktor. Vierzig zu eins zu drei?
Wilhelm lachte laut. Damit kannst du das Heidelberger Schloß noch einmal abbrennen lassen.
Für den Abend hatte Viktor vorgeschlagen, auf dem Philosophenweg einen Spaziergang zu machen. Sie hatte zögernd zugestimmt und dann heimlich Gregor gebeten, sie beide wieder auf den Königstuhl einzuladen. Gregor hatte verwundert gesagt, sie seien doch bereits dort oben gewesen, und so werfe Professor Wolf mit seinen privaten Einführungen auch nicht um sich. Dann hatte sie Rosa vorgeschlagen mitzukommen, es sei doch so schön dort oben, aber Rosa hatte sie ebenso verwundert angeschaut und gefragt, ob sie etwa Angst habe, mit ihrem Scheich allein spazierenzugehen.
Also hatte sie schließlich Viktors Vorschlag angenommen, aber den Weg entlang des Neckars vorgeschlagen.
Und wieso? wollte Viktor wissen.
Es sei dort heller, man vertrete sich nicht so leicht den Fuß wie auf dem Philosophenweg.
Viktor hatte zugestimmt, lächelnd, dann gingen sie nebeneinander her, schweigend.
Es ist bald Vollmond, sagte sie.
Ja, sagte Viktor, das wird wohl sein.
Man kann es sich gut merken, erklärte sie: Rechter Bogen wie ein Z bedeutet zunehmender Mond, linker Bogen wie A bedeutet abnehmend.
Ja, bestätigte Viktor lächelnd, das habe er schon in der Schule gelernt. Aber es sei schön, wenn man sein Wissen immer wieder einmal auffrische.
In fünf Tagen wird hier ein großes Feuerwerk abgebrannt, erklärte sie, als sie zurückgingen, man sperrt dann die Straßen ab, die zum Schloß.
Ah ja, sagte Viktor.
Sie suchte nach einem neuen Thema und wollte gerade Gregors erwarteten Kometen ins Gespräch bringen, als Viktor seinen Arm unter den ihren schob und fragte, wen sie denn außer Gregor hier sonst noch kenne.
Sie kenne alle Mediziner aus ihrem Semester, sagte sie bereitwillig, dann einige Studenten aus der Botanik, der Zoologie und der Chemie, ferner besuche sie noch andere Vorlesungen und dort kenne sie selbstverständlich ...
Um Himmels willen, Laura, halt ein! wehrte Viktor lachend ab. Ich wollte keinesfalls das Matrikelverzeichnis des Sommersemesters von dir heruntergebetet haben.
Was er, bitte schön, dann wolle.
Viktor lachte. Nun also, dann direkt: Wie sieht dein Liebesleben aus?
Sie zog ihren Arm aus dem seinen, dann lachte sie ebenfalls.
Wie sieht denn dein Liebesleben aus?
Das fragen Damen Herren nicht.
Und weshalb fragen dann Herren Damen so etwas?
Viktor amtete durch, blieb stehen. Weißt du, dort, wo ich lebe, möchte man die Landschaft jeden Tag jemandem zeigen, weil sie so atemberaubend schön ist. Man erträgt es kaum, allein zu sein, es ist nicht so einfach, in dieser Einsamkeit der Wüste zu leben. Der Wind, er macht einen rebellisch, verstehst du, dringt einem in die Augen und den Mund. Manchmal hat man das Gefühl, als dringe er ganz in einen ein, durchbohre einen, lasse einen nie wieder zur Ruhe kommen, nachdem man ihm einmal ausgeliefert war.
Laura wollte das Gespräch über die Wüste fortsetzen, fühlte sich sicher bei diesem Thema, aber Viktor strich ihr das Haar zurück und sagte dann ernst: Da ist nicht viel Zeit für eine Begegnung. Zumindest für eine normale Begegnung – mit einem normalen Mädchen in einer normalen Stadt. Wenn ich den ganzen Tag über Tontafeln des Assurbanipal abgestaubt habe, dann setze ich mich am Abend mit meinen Kollegen zusammen, um etwas zu trinken.
Also kein Liebesleben, sagte sie abschließend und ertappte sich dabei, daß es ihr recht war.
Er schaute sie prüfend an, als müsse er überlegen, was er von sich preisgeben solle.
Gab’s da nicht einmal eine Adele, fragte Laura, eine ganz sanfte, brave, liebevolle Adele? Ich meine, in Tempelhof oder in Dahlem?
Diese ganz sanfte, brave, liebevolle Adele in Dahlem gibt es auch sicher heute noch. Sie wird inzwischen Monogramme in ihre gesamte Aussteuer gestickt, ihr Silber, zu dem damals noch einige Stücke fehlten, vervollständigt haben und auf ihrer prallgefüllten Truhe sitzen und auf einen Freier warten.
Irgendwer sagte einmal, ihr wärt verlobt, oder so gut wie.
Ach ja? sagte er interessiert. Das sei spannend.
Stimmt es?
Wieder schaute er sie prüfend an. Würde es dir etwas ausmachen?
Überhaupt nicht, wehrte sie ab, ganz und gar nicht.
Das freut mich, gab er amüsiert zurück. Aber nun zu Ihnen, meine Dame. Wie steht es mit Ihnen?
Ich sagte es dir doch schon, ich durchtanze die Nächte.
Heißt das, die Sommernächte in Heidelberg gehören anderen Männern?
Viktor! Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und tätschelte ihn. Vergiß nicht, daß du acht Jahre älter bist als ich!
Er blieb abrupt stehen. Was soll das heißen?
Daß du das, was ich jetzt tue, in meinem Alter vermutlich genauso gemacht hast.
Ich habe keine Nächte durchgetanzt, sagte Viktor schroff. Gutgut, du hast keine Nächte durchgetanzt. Und weshalb nicht?
Zu jener Zeit verdiente ich mir mein Geld für mein Studium, sagte Viktor mit zusammengebissenen Zähnen. Mein Vater war schon tot, er hatte die letzten Jahre seines Lebens mit einer anderen Frau zusammengelebt und ihr alles vermacht. Meine Mutter hatte drei unmündige Kinder durchzubringen, was mit ihrem Beruf nicht eben leicht war.
Laura schwieg betroffen. Ich fürchte, sagte sie dann, das haben wir nie so mitbekommen. Ich meine, wir wußten, daß es bei euch knapper zuging als bei uns, aber wir wußten nicht, wie knapp.
Das ist kein Grund für Mitleid, sagte Viktor abweisend, und ich erwarte auch keinesfalls Hoftrauer. Die Sache ist vorüber, meine Schwestern sind verheiratet, und meine Mutter lebt nicht mehr.
Am nächsten Tag, es war ein Sonntag, hatte sie Viktor zum Mittagessen eingeladen. Er kam etwas früher als verabredet, und Laura bat ihn, es sich bequem zu machen.
Viktor ging durch das Zimmer, zog ein Buch aus dem Regal, nahm eines vom Boden hoch. Schließlich blieb sein Blick an einem Buch hängen, das auf ihrem Nachttisch lag. Er blätterte darin, dann schaute er sie an. Deine Bibel? fragte er lächelnd.
Sie versteifte sich. Nein, nicht meine Bibel.
Was dann?
Ein Buch, in dem ich lese, sagte sie und nahm ihm den Band aus der Hand.
Nichts sonst?
Nichts sonst.
Und wie lebt diese Dame selbst, das heißt, setzt sie um, was sie verkündet?
Sie verkündet nichts, sagte Laura und steckte das Buch in ihr Bücherregal. Sie ist kein Prophet. Sie hat Frauen etwas zu sagen, und sie sagt es. Das ist alles. Es ist nichts Schlimmes.
Neinnein, sagte Viktor rasch, es habe ihn nur interessiert.
Zu welchem Zweck? fragte sie angriffslustig.
Um zu wissen, in welchen Welten du dich bewegst.
Wozu mußt du das wissen?
Mein Gott, Laura, du stellst seltsame Fragen! sagte er leicht verärgert. Weshalb wohl?
Also, weshalb es auch immer sein mag – kommst du heute abend mit uns auf den Philosophenweg?
Er schaute sie an. Wer ist uns?
Also Dora, Rosa, Hedwig, Gregor, Ulrich, Nikolaus und sicher noch andere Kommilitonen, dazu noch ein paar Leute aus dem Singkreis.
Er lächelte schief. Wenn du mir versprichst, daß heute der Abend ist, an dem man sich nicht den Fuß vertritt, komme ich mit. Aber selbstverständlich wäre ich lieber mit dir allein.
Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und sagte: Dann eben nicht, wenn dich meine Freunde stören.
Mich stören deine Freunde nicht, aber ich fahre morgen abend ab, sagte Viktor. Es bleibt nur noch ganz wenig Zeit. Ich, ich will sie nicht teilen. Mit niemand.
Sie verteidigte sich, sagte, daß dieser Spaziergang bereits seit vierzehn Tagen geplant sei und daß sie alle am übernächsten Sonntag in der Kirche singen würden. Es ist ein Madrigalchor.
Madrigalchor? Ich wußte nicht, daß du in einem solchen bist. Davon war vorhin nicht die Rede, sagte Viktor verblüfft.
Ich konnte dir ja auch nicht alles auf einmal erzählen, antwortete Laura freundlich.
Weißt du, Viktor hängte seinen Sakko über den Stuhl und überlegte ganz offensichtlich, ob er sich an den Tisch setzen solle, manchmal habe ich das Gefühl, du hast keinerlei Verwendung für mich. Woher das kommt, weiß ich nicht. Es ist neu, soviel steht fest, und in Berlin, damals in eurem leeren Haus an jenem letzten Abend, existierte dieses Gefühl noch nicht. Er machte eine Pause, überlegte wieder. Du grenzt mich aus, ohne Grund übrigens, wie ich meine. Du oder vermutlich ihr, ihr kocht euch ein Gebräu, das soll euer eigenes sein, aber im Grunde genommen ist es ein Menü nach Rezept. Nach dem Rezept dieser Frau zum Beispiel, dieser Helene Stöcker. Die mit diesem Buch und ihrer »neuen Ethik«. Laura ging zum Spülbecken und wusch sich die Hände, dann kam sie an den Tisch. Kann ich die Suppe austeilen? wollte sie wissen.
Viktor schaute sie an. Ich verstehe, daß ihr euch etwas schaffen wollt, was es vorher nicht gegeben hat, ein neues Leben. Was ich dagegen nicht verstehe, ist, daß es uns Männer darin ganz offensichtlich nicht mehr geben soll. Ihr lebt in einer Art von Euphorie, da scheint es nicht zulässig, daß jemand diese Euphorie auch nur durch seine Existenz stört. Vielleicht sollte ich dich nicht stören, offensichtlich brauchst du zur Zeit weder mich noch irgendeinen Mann überhaupt. Laura schöpfte die Suppe in die Teller und setzte sich. Ich denke, du weißt, daß mich diese ganze Frauenbewegung nie besonders interessiert hat, auch wenn sie das Herzblut meiner Großmutter ist, wie Tante Minchen immer sagt. Mich interessiert sie trotzdem nicht.
Weshalb dann dieses Buch von Helene Stöcker auf deinem Nachttisch?
Weil ich mich damit auseinandersetze.
Das ist alles?
Das ist alles.
Als sie Viktor am nächsten Tag zum Zug brachte, hatte sie das Gefühl, als verlasse sie nicht nur er, sondern auch der Sommer, als sei alles aufgebraucht, jedwede Wärme, alles Vergnügen. Und irgendwie hatte sie auch das Gefühl, als schwinde mit diesem letzten Sommerbesucher auch ein Stück der Unbeschwertheit ihres Studiums. Sie wußte, daß sie im Wintersemester würde lernen müssen, mehr lernen – damit hatte sie sich abgefunden – als ihre männlichen Kollegen.
Sie standen am Bahnhof und warteten auf den Zug, der Verspätung hatte. Viktor blickte sie prüfend an. Jetzt schaust du aus wie damals, als du noch im Wickelkissen stecktest und ich dich bei eurer Taufe auf den Feuerplatz schleppte.
Sie lachte. Eine lebhafte Phantasie hattest du schon immer. Ich wette, du weißt nicht mal mehr, welche Farbe mein Taufkleid hatte.
Weiß natürlich – wie alle Taufkleider.
Sie lachte. Du täuschst dich, meines war hellblau, und es war eigentlich ein Ballkleid, weil nämlich am Morgen der Taufe Tine beim nochmaligen Bügeln ein Riesenloch in das Taufkleid gebrannt hatte und man daher in aller Hetze irgendeinen Stoff aus der Stofftruhe – dieses Ballkleid eben – holte und die Näherin mit fliegender Nadel etwas daraus zurechtschneiderte, was den Namen Taufkleid kaum verdiente. Unser Pfarrer ist kurzsichtig, er sieht es sowieso nicht richtig, soll mein Vater beruhigend gesagt haben, als das Malheur bekannt wurde und meine Mutter entsetzt aufschrie.
Viktor lachte.
Sie betrachtete sein Gesicht, es war noch immer dunkel gebräunt und hob sich ab von den Gesichtern der Menschen um sie her.
Verträgst du das Klima eigentlich gut?
Viktor schaute sie an und nickte. Ich mag meine Arbeit, also vertrage ich auch das Klima.
Wie lange wird sie dauern, diese Arbeit?
Er zuckte mit den Achseln. Ich weiß nicht, das ist bis jetzt alles offen.
Und es macht dir nichts aus?
Was?
Nun, daß alles offen ist, sagte sie langsam. Ich meine, daß nichts abgesichert ist und du nicht weißt, wie es weitergeht und so ...
Viktor lachte. Für den Fall, daß du mich heiraten willst, brauchst du es nur rechtzeitig anzumelden. Ich verspreche dir dann, seßhaft zu werden.
Sie lachte auf, wehrte ab, das habe sie keinesfalls gemeint. Sie studiere, sagte sie dann, und bis sie fertig sei, vergehe noch viel Zeit.
Du meinst, daß du es eventuell einmal in Erwägung ziehst, dich mit der Idee des Heiratens zu beschäftigen, wenn du einmal das Fräulein Doktor bist, sagte er belustigt.
Ich meine gar nichts, erwiderte sie und stellte erleichtert fest, daß der Zug einfuhr.
Viktor schaute sie noch einmal prüfend an, nahm dann ihr Gesicht in beide Hände und küßte sie behutsam auf den Mund. Sie machte eine Gegenbewegung, der Kuß verrutschte, Viktor lachte. Beim nächstenmal machen wir es besser, sagte er dann.
Sie blieb stehen, starr wie ein Marmorblock, wie sie sich hinterher erinnerte. Viktor nahm sein Gepäck und stieg in den Zug. Du mußt selbstverständlich üben bis dahin, sagte er dann ernsthaft.
Üben? Was?
Na das, was wir soeben so stümperhaft gemacht haben, nimm deinen großen Bären dazu. Er hob die Hand und winkte ihr zu. Bis sie dazu kam, die ihre zu heben, war der Zug bereits halb aus der Halle.
Sie verließ den Bahnhof, ärgerte sich, ohne recht zu wissen, worüber. Dann fielen ihr Rosas Worte ein: Weshalb lebst du nicht einfach in den Tag hinein und freust dich an dem, was du haben kannst? Weshalb nur machst du alles so schrecklich kompliziert, es ist es doch gar nicht.
Sie überquerte die Straße, sagte halblaut: Nein, nein, nein! und nickte dabei heftig. Ein Mann, der ihr mit einer Frau am Arm entgegenkam, tippte sich an die Stirn und warf seiner Frau einen beziehungsvollen Blick zu. So fängt es bei den meisten an.