Irrgärten

Der Frosch hing fest gespannt in einem Stativ, eine Manschette um seinen Leib befestigte ihn an dem Metall. Berührte man den aufgespannten Frosch mit einer Pinzette, so zuckten seine Hinterextremitäten, betupfte man ihn mit verdünnter Essigsäure, so versuchte er, mit einer der Hinterextremitäten die Säure abzuwischen.

Der Frosch war ein Frosch ohne Kopf.

Er war ein sogenannter Rückenmarksfrosch, und der Versuch diente als Beweis, daß das Rückenmark ein autonomes System darstellt, das unabhängig von jeder Hirntätigkeit funktionieren kann.

Der Assistent hatte Laura aufgefordert, den Kopf des Frosches abzuschneiden. Ulrich – die Praktikumsgruppe bestand aus vier Studenten – hatte zwar versucht, für sie einzuspringen, aber der Assistent hatte, ohne auf Ulrichs ausgestreckte Hand zu achten, Laura den Frosch hingehalten. Als sie überflüssigerweise fragte, was sie mit diesem Frosch, der in den Händen des Assistenten zappelte, tun solle, hatte er sie verwundert angeschaut. Nun, was wohl, schönes Kind? Dekapitieren, hatte er dann fröhlich lächelnd gesagt. Und als er ihr Zögern merkte, hatte er sachlich hinzugefügt, daß jeder in diesem Praktikum einmal an die Reihe komme.

Ein paar Sekunden geschah nichts. Sie starrte wie hypnotisiert auf den zappelnden Frosch, schwankte, ob sie aufstehen und weglaufen solle, und hörte dann zum x-ten Male einen der spöttischen Kommentare ihres Großvaters: Ich gebe ihr ein Semester, nicht mehr. Dann läuft sie davon, wenn ihr irgend etwas nicht paßt.

Also nahm sie die Schere vom Tisch, schluckte, überlegte, ob sie wegschauen solle, aber es war klar, daß es dann vermutlich ein Gemetzel geben würde, ganz abgesehen von dem Spott ihrer männlichen Kommilitonen. Dann drückte sie die Schere zu.

Sie ließ wie in Trance den abgeschnittenen Kopf des Frosches auf den Tisch fallen, neben die Schale, die dafür vorgesehen war.

Der Assistent nahm mit einem mißbilligenden Blick den Kopf hoch und gab ihn Laura zurück, zusammen mit einer Stricknadel. Sie werden ihn ja wohl kaum so zurücklassen wollen, sagte er dann mit zusammengekniffenen Augen. Bohren Sie bitte das Hirn aus!

Sie schaute ihn an, zögerte wieder und tat dann mit der Stricknadel das, was von ihr gefordert wurde, ohne noch einmal nachzufragen.

Der Assistent sah in die Runde. Ich hoffe, meine Herren, niemand von Ihnen vergißt, dies zu tun. Hier hält niemand etwas von Tierquälerei, und niemand möchte, daß dieses Tier gequält wird. Und niemand von uns weiß, was in diesem Tier vor sich geht. Und seien Sie froh, daß er gleich beim erstenmal tut, fügte er dann hinzu und berührte den Frosch mit dem Tupfer. Naja, ein wunderschöner Wischreflex.

Daß er tut – Laura schaute Ulrich im Hinausgehen fragend an. Was meinte er damit?

Ulrich zuckte mit den Achseln. Nun ja, es funktioniert nun mal nicht bei jedem Frosch.

Und was macht man dann?

Man nimmt den nächsten, sagte Ulrich mit leichter Ungeduld. Sie müssen es durchstehen! Es hat keinen Sinn, sich dagegen zu sperren. Damit machen Sie die Sache nicht besser.

Ich sperre mich nicht, sagte sie zögernd, es ist nur, wissen Sie, ich habe den Eindruck, daß man ...

Jaja, gab Ulrich zu, mag sein. Aber wenn Sie sich jeden Tag dreimal vorsagen, daß man es auf Sie abgesehen hat, weil Sie eine Frau sind, dann werden Sie bald mit Paranoia im Irrenhaus landen. Manches widerfährt uns Männern genauso, und wir haben dann keine solche Entschuldigung parat.

Sie blieb stehen und sagte leise: Ulrich, weshalb braucht man diesen Versuch, ich meine, diesen Versuch mit dem Frosch?

Nun, um zu zeigen, daß ...

Ich weiß, unterbrach sie ihn, ich weiß das. Aber muß es jedesmal ein neuer Frosch sein? Könnte man nicht eine Photographie machen oder möglicherweise sogar einen Film, auf diesem Gebiet passiert doch jetzt viel. Es sind an einem Praktikumsnachmittag mit zwei Kursen mindestens dreißig Frösche, die umgebracht werden, wenn nicht mehr.

Ulrich stellte seine Tasche auf den Brunnenrand. Laura, auch auf die Gefahr hin, daß Sie es nicht hören wollen, aber Sie werden so etwas nicht ändern können. Im Dienste der Wissenschaft werden Versuche gemacht, auch an Tieren, verstehen Sie?

Sie nickte, wußte, daß er recht hatte, und glaubte zugleich, daß auch sie recht hatte. Und je mehr sie darüber nachgrübelte, verlor sie sich in den Windungen ihrer Vorstellungen und Mutmaßungen. Sie hatte das Gefühl, sich in sich selbst zu verlaufen, als sei sie in ein Labyrinth geraten, einen Irrgarten, dessen Ausgang für alle übrigen Besucher sichtbar war und nur ihr verschlossen blieb.

Das Tal lag tief eingeschnitten zwischen zwei mächtigen Bergrücken. Und doch war es ein sanftes Tal, durch das sich ein schmales Rinnsal von einem Bach schlängelte, für das man ohne weiteres die poetische Bezeichnung »murmelndes Bächlein« verwenden konnte.

Es war Sommer. Die Wiese, durch die der Bach sich hintastete, war hoch aufgeschossen, voller Blumen, die einen betörenden Duft ausströmten. Bienen summten, irgendwo sang eine Nachtigall. Sie durchschritt dieses Tal, das von einer nahezu himmlischen Musik durchdrungen schien, sie tanzte zu der ätherischen Musik über diese Wiese, ihre Füße nackt im Blumenmeer.

Dann ein schriller Riß in diesem Bild.

Das Tal war das gleiche wie zuvor, befand sich aber nun in einer Winterstarre, die alle Geräusche verstummen ließ. Noch immer barfuß, spürte sie, wie ihre Zehen zu erstarren begannen. Kein Vogel, der sang, keine Biene, die summte. Es war eine Welt, die menschliches Leben nie gekannt zu haben schien.

Dann mit einem Male ein seltsames Geräusch in der Ferne.

Ein rasselndes Geräusch, ein Geräusch, als würden Erbsen in eine Schüssel prasseln. Und über allem hing ein Nebel, der Berge und Talgrund ineinander übergehen ließ.

Sie blieb stehen, unsicher, ob ein Weitergehen sinnvoll sei, war neugierig nach der Ursache des Geräuschs, das aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Und dann dieser Nebel, der sich langsam lichtete, schemenhafte Gestalten freigab, zunächst nur als wabernde Umrisse, wie Geistergestalten aus einer anderen Welt. Dann wurden langsam die Konturen schärfer – es schienen Menschen zu sein. Beim Näherkommen entdeckte sie, daß diese Menschen in der einen Hand eimerähnliche Gebilde trugen und mit der anderen Gegenstände hinter sich her zogen, deren Gewicht sie wohl daran hinderte, sie leichtfüßig zu tragen.

Und dann der Augenblick, in dem ihr klar wurde, daß es sich nicht um Menschen handelte – es waren Frösche. Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Fröschen, Frösche in der Größe von Menschen. Sie kamen heran, lautlos, jedoch im Marschschritt. Das seltsame Geräusch kam aus den eimerähnlichen Gefäßen. Ein Geräusch, wie wenn Erbsen in eine Schüssel prasselten.

An diesem Punkt entschied sie sich zur Flucht. Sie wollte weder wissen, was nun geschehen würde, noch was der Inhalt der Eimer war. Bevor sie sich jedoch umdrehen konnte, stellte sie voller Entsetzen fest, daß ihr Körper in der Mitte von einer Manschette umschlossen und daß diese Manschette an einem mächtigen Stativ befestigt war.

Sie versuchte, sich der Fessel zu entledigen, aber je mehr sie sich bemühte, um so enger umschloß sie die Manschette, schnitt ein in ihren Leib. Sie verharrte einen Augenblick reglos, überlegte Fluchtmöglichkeiten, stellte aber fest, daß sie nicht mehr fähig war, richtig zu denken.

Die Frösche waren inzwischen noch näher gekommen. Sie behielten ihren lautlosen Marschschritt bei, gingen in Kolonnen geordnet, und aus den Eimern drang weiterhin das rasselnde Geräusch, das immer durchdringender wurde. Als sie auf Rufweite herangekommen war, hielten sie an, dann umringten sie sie in einem mehrfachen Kreis.

Erst jetzt sah sie, daß die Frösche ohne Kopf waren.

Sie waren marschiert, als gebe es ein inneres Gesetz, nach dem ihre Extremitäten mit aller Selbstverständlichkeit funktionierten, auch ohne Kopf.

Sie hatte inzwischen begriffen, daß es sinnlos war, weiter an Flucht zu denken. Sie war gefangen in diesem Stativ. Die Manschette schnürte ihren Leib ein wie ein Korsett zur Erlangung einer Wespentaille. Sie wußte, sie war den Fröschen ausgeliefert.

Als das Geräusch verstummte, atmete sie auf. Sie spürte jedoch, daß irgendeine Entscheidung nahte, da die Frösche ihre Eimer auf den Boden gestellt hatten.

Dann plötzlich eine lange Gasse in dem vielfachen Kreise, jemand kam schwerfällig, ebenfalls mit einem Eimer in der Hand, durch diese Gasse gewatschelt. Noch bevor sie sein Hohngelächter wahrnahm, wußte sie, daß es Birikoff war. Er blieb im Abstand von einigen Metern vor ihr stehen, rief dann ein lautes Vivat, vivat, vivat, worauf die Frösche ihre Eimer hoben, und sie an die Stelle des Mundes setzten. Sie hörte ein schmatzendes Geräusch, dann setzten die kopflosen Frösche die Eimer wieder auf den Boden.

Auch Birikoff stellte seinen Eimer ab. Er starrte sie aus weinseligen Augen an, und sie glaubte, seinen Alkoholgeruch wahrzunehmen. Dann schmetterte er ein weiteres dreifaches Vivat in die Luft, und die Frösche entleerten auf dieses Kommando hin ihre Eimer: Sie war daraufhin umringt von Froschköpfen, die, sobald sie den Boden berührten, laut zu quaken begannen.

Als sie vor Entsetzen nicht mehr atmen konnte, sah sie, wie Birikoff ein drittes Mal seine Vivatrufe in den eiskalten Nebel hinauspustete und wie die Frösche auf diese dritte Aufforderung hin die Gegenstände, die sie zuvor hinter sich her gezogen hatten, ihr entgegenstreckten – es waren Scheren. Riesige Scheren, die auch aus den hintersten Reihen ihren Körper erreichten und nun emporschnellten. Noch bevor sie einen Schrei artikulieren konnte, sah sie, daß auch Birikoff inzwischen seinen Eimer geleert hatte.

Und sie wußte, daß es der tausend Scheren nicht mehr bedurfte. Das letzte, was sie wahrnahm, war ein ganz langsam auf sie zurollender Kopf. Ihr Kopf.

Am anderen Morgen hatte sie Kopfschmerzen. Sie bemühte sich, diesen Traum zu vergessen, irgendwer hatte ihr erzählt, daß sie nicht die einzige sei, die von Träumen geplagt werde nach diesen Experimenten im Physiologiepraktikum.

Sie wußte, daß sie diesem Praktikum nicht entrinnen konnte, daß es genau in einer Woche wieder stattfinden würde und daß das nächste Thema Stabheuschrecken sein würden. Stabheuschrecken, denen das mittlere Beinpaar entfernt wurde, um zu demonstrieren, daß diese verstümmelten Tiere die Fähigkeit besaßen, sofort ihren Sechsfüßergang zu einem Vierfüßergang umzukoordinieren. Dann würden die Regenwürmer folgen, die durchteilt und anschließend mit Fäden zusammengebunden werden mußten, damit man sehen konnte, daß die Schlängelbewegung im gleichen Rhythmus über den Wurm hinweglief, auch wenn er inzwischen aus zwei Teilen bestand.

Können Sie mir sagen, was das ist, fragte sie Ulrich einige Tage später, da sie ihren Traum noch immer nicht vergessen konnte.

Ulrich schaute sie fragend an.

Nun, ich meine diese Versuche. Was sind sie?

Sie sind Lehrmaterialia, sagte Ulrich, da muß man durch. Ich habe es Ihnen neulich schon gesagt.

Lehrmaterialia, sagte sie zornig, nein, das sind sie nicht. Es sind Mannbarkeitsriten, oder?

Sie versteigen sich, sagte Ulrich. Ich warne Sie, falls Sie beabsichtigen, etwas dagegen zu unternehmen. Das alles haben Studenten vor Ihnen gemacht und werden Studenten nach Ihnen machen. Es gehört zur Ausbildung.

Sie stellte ihre Tasche ab, schürzte ihr Hutband fester. Es gehört nicht dazu, sagte sie störrisch. Und sie werde etwas dagegen tun.

Abends erzählte sie Gregor von ihrem Traum, ihrem Problem.

Wie wäre es, wenn Sie in andere Vorlesungen gingen, schlug Gregor vor. Kommen Sie mit mir in die Vorlesung, die Wolf hält: Elemente der Astronomie. Oder gehen Sie mit zu seinen Übungen in der Sternwarte, sie sind privatissime und gratis.

Oder in eine Vorlesung über italienische Kunst, sagte sie bissig, das hat Birikoff bereits damals einem Studenten empfohlen, der ihm im Präpariersaal vor die Füße kippte, ohne überhaupt den ersten Schnitt an der Leiche gemacht zu haben.

Trotzdem befolgte sie Gregors Rat und besuchte andere Vorlesungen. Sie mußte für diesen Zweck die ihren teilweise schwänzen, aber sie hatte das Gefühl, daß es ein guter Rat gewesen war, weil sie von sich selbst abgelenkt wurde.

Also besuchte sie Vorlesungen über die deutsche Literatur im Zeitalter der Minnesänger, über Lessing, griechische Kunst sowie die Entstehung des Neuen Testaments. Einmal geriet sie in eine Geographievorlesung, die sie tief beeindruckte. Solutré, eine Fundstätte im Departement Saône-et-Loire, ein Bergrücken, auf den die Jäger der Altsteinzeit Tausende von Wildpferden hinaufjagten und sie vor sich her trieben bis zu einem Steilabhang, von dem diese Wildpferde dann Hunderte von Metern hinabstürzten und nicht mehr erlegt werden mußten.

Schrecklich, sagte ein Student neben ihr, nicht wahr? Was Menschen Tieren alles antun.

Sie nickte. Ja, schrecklich, sagte sie. Und war damit wieder bei ihrem dekapitierten Frosch.

Als der Sommer kam, ihr zweiter Sommer in Heidelberg und ihr viertes Semester, wußte sie, daß sie bleiben würde. Sie hatte das Physiologiepraktikum überstanden, und in der Anatomie hatte sie inzwischen einen gewissen Stand: Birikoff stellte sie nicht mehr ständig an den Pranger, seine kleinen Nadelstiche ertrug sie.

Sie hatte sich auch damit abgefunden, daß sie noch immer gut für alle möglichen albernen Experimente war. Als sie am ersten Tag des neuen Semesters von zwei Studenten – der eine war derjenige, der sie im ersten Semester wegen Luise verspottet hatte – an eine Kiste geführt wurde, die neu im Präparationssaal war, und die beiden erklärten, der Assistent habe gesagt, sie solle an einem Bein weiterpräparieren, machte sie den Deckel mit aller Selbstverständlichkeit auf. Die Kiste war voller Köpfe. Laura schaute die Studenten an, dann die Köpfe und wieder die Studenten. Sie nahm einen Kopf heraus, betrachtete ihn kritisch, legte ihn zurück und nahm einen anderen. Es müsse ein Mißverständnis sein, sagte sie dann, das Präparieren am Bein sei vorbei, im neuen Semester sei die Anatomie des Kopfes ein Vorlesungsthema, und sie fange einstweilen schon einmal mit dem praktischen Teil an.

Die beiden schauten sie verblüfft an, murmelten eine Entschuldigung und wandten sich zum Gehen.

Wissen Sie, meine Herren, die Dame, die einst wegen Luise nach Heidelberg kam, ist längst abgereist, sagte Laura freundlich und setzte sich mit ihrem Kopf an den Tisch, um mit der Arbeit zu beginnen.

Später in der Mensa ergab es sich zufällig, daß sie mit Ulrich am Nachbartisch der beiden Studenten saß. Sie verwickelte Ulrich in ein Gespräch über Mazeration, über den Mazerationsraum, über den Aufzug, mit dem die Leichen aus dem Totenkeller in den Präpariersaal hochgefahren wurden. Sie gab ihr Wissen preis, über die Modalitäten beim Einkauf der Leichen und über deren Aufbewahrung in den gekachelten Wannen im Totenkeller, und wandte sich dann freundlich an die beiden am Nebentisch. Nun, meine Herren, haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob Sie nicht auch eines Tages mit Ihrem Körper der Wissenschaft dienen wollen?

Ulrich schaute sie entsetzt an, Laura aber lachte und legte ihre Hand auf seinen Arm. Stellen Sie sich vor, gestern fragte mich doch ein Freund, welches Parfum ich benutze! Formalin, erwiderte ich, sicher das ungewöhnlichste Parfum, das je für eine Frau kreiert wurde.

Laura, sagte Ulrich nach dem Essen, was um alles in der Welt ist denn über Sie gekommen? Der eine hat seinen Teller halbvoll zurückgegeben, und der andere bekam den Schluckauf.

Ich habe nur gelernt, mich zu wehren, sagte Laura schlicht.

Das ist alles. Und es tut gut zu spüren, daß ich es kann.

Unterstützung fand Laura auch dadurch, daß mit jedem Semester neue Studentinnen an die Universität Heidelberg drängten, die nach wie vor neben Freiburg die einzige Universität in Deutschland war, an der Frauen studieren durften. Es hatte sich ergeben, daß die »Alten« den »Neuen« ihre Hilfe anboten, sie auf Fallstricke hinwiesen, kurz: ihnen den Weg ebneten, wo dies möglich war. Einmal in der Woche trafen sie sich in dem Café an der Heiliggeistkirche und nahmen ansonsten am studentischen Leben teil, wo es ihnen gestattet war und es sich ziemte: Damenrudern, Reiten, Fechten.

Während der erste Sommer ein Sommer der Besuche gewesen war, wurde dieser Sommer einer der Korrespondenzen. Von der Großmutter kam zunächst eine Karte aus Weimar, wo sie miterlebt hatte, wie Anita Augspurg auf dem Bahnhof verhaftet wurde, dann eine Karte aus Berlin, auf der sie von der Flut der Protestversammlungen und Resolutionen berichtete, die diese polizeiliche Willkür im ganzen Land ausgelöst hatte.

Onkel Heinz schrieb von Helgoland, daß er den Führerschein auf der Insel machen wolle, weil dort die Zahl der Autos um einiges geringer sei als in Berlin. Als alter Junggeselle, meinte er, könne er sein Geld ohne weiteres in so ein Vehikel investieren.

Minchen schrieb von einem unerwarteten Zusammentreffen mit Erwin. Er habe in einem Park seine Schäferhunde ausgeführt, wobei sich eines der Tiere losgerissen habe und auf Minchens Damengruppe zugerast sei: »Stell Dir vor«, schrieb sie, »meine Damen fielen fast in Ohnmacht, aber ich sagte nichts weiter als ›Platz‹, und – Du wirst es nicht glauben – dieser wilde Hund gehorchte. Habe Erwin ein neues Vivatband versprochen zu seinem Geburtstag«, stand verschämt am Rand des Briefes, »es scheint, daß er seit meinem letzten keines mehr bekommen hat. Wer sollte auch?«

Wilhelm meldete sich aus Dresden. Er werde im nächsten Jahr seine Meisterprüfung machen und dann vielleicht nach Berlin zurückkehren. »Mal sehen, ob vom Betrieb noch etwas zu retten ist.« Ein ziemlich unrealistisches Unterfangen, wie sie fand, auch wenn sie sich nie danach erkundigt hatte, ob der Seidenfabrikant noch Besitzer der Villa war.

Dem Vater schien es gutzugehen. Der Bericht des Arztes hörte sich hoffnungsvoll an. Man müsse überlegen, ob nicht die Möglichkeit bestehe, ihn irgendwo anders unterzubringen, da die Krankheit längst nicht mehr so gravierend sei, daß er in einem Irrenheim festgehalten werden müsse.

Olga schrieb aus Paris überschwengliche Briefe. Sie schien ihr Liebesglück bis an die Ränder auszukosten, von einer Anstellung bei einer Zeitung war allerdings nicht die Rede, und Laura fragte sich beklommen, ob Olga nur noch ihrer Liebe lebe und ihren so sehnlich erhofften Beruf aufgegeben habe, bevor sie ihn recht begonnen hatte.

Der seltsamste Brief kam von Viktor. Er bedeutete ihr unter all den Korrespondenzen am meisten, auch wenn ihr nach mehrmaligem Lesen immer noch nicht ganz klar war, was er bedeutete. Abschied? Oder Hoffnung, daß aus ihnen beiden ein Paar würde? Der Brief konnte alles bedeuten. Über eine Seite hinweg war er zunächst nichts als ein Bericht über Viktors Arbeit: Grabungen hier, Grabungen dort, Schwierigkeiten mit den Behörden und Ärger mit den Arbeitern, die sich offensichtlich ziemlich oft als Grabräuber entpuppten. Es waren vor allem die nächsten Absätze, die Anlaß zu Spekulationen boten:

»Weißt Du eigentlich, daß Du mich nie gefragt hast, wie es mir geht? Ich meine damit nicht eine Frage, die am Außen hängenbleibt, eine Frage, wie man sie leichthin stellt. Ich meine eine von jenen Fragen, die einen in Frage stellen, verstehst Du, was ich sagen möchte? Ich spürte Deine Zerrissenheit als Frau, was Dein Studium betrifft, kann Dein Bemühen verstehen, Dich weder in die eine Richtung noch in die andere zerren zu lassen. Du willst die Sterne vom Himmel, aber sie sollen Dir sanft in den Schoß fallen, dabei überlegst Du nicht, daß Sterne, die vom Himmel fallen und aufgefangen werden, immer irgendwem weh tun. Falls Du dies nicht ertragen kannst, dann mußt Du Dir Pusteblumen von der Wiese holen, sie sind ganz sanft. Aber weder Du noch ich mögen Pusteblumen.

Abends, wenn ich einschlafe und diesen starken Himmel über mir weiß, ganz schwarz, die Sterne darin wie Lichter, denen man das Flackern verboten hat, dann hätte ich Dich gerne bei mir in diesem Zelt, das die Sonne bereits hat brüchig werden lassen. Mein Feldbett ist hart, es knarrt, wenn man sich umdreht, aber man dreht sich nicht um, weil weder die eine Seite noch die andere Seite kühler ist. Man liegt nur, spürt, wie die Hitze des Tages auch des Nachts nicht aus dem Körper weicht, sie ist immer gegenwärtig, verläßt einen nicht. Morgens um fünf, wenn wir zu unseren Grabungen gehen, braucht man dann allerdings einen Pullover. Um neun ist dann die Sonne so heiß, daß sie einen vergessen läßt, daß man einen Körper hat, man glaubt, selber dieser feurige Ball zu sein.

Neulich fand ich auf einer Tontafel einen Spruch, den wir entziffern konnten: Geliebter, ich höre deinen Atem neben mir, spüre deine Hand auf meiner Schläfe, ich spüre dich nah und fern zugleich! Und ich frage mich, weshalb ich so sicher bin, daß dieser Spruch für uns gemacht ist.«

Sie las den Brief einmal, zweimal, legte ihn auf ihren Tisch, nahm ihn mit ins Bett und las ihn wieder. Und sie fühlte genau das, was Viktor beschrieb: ihre Zerrissenheit und seine Zerrissenheit; auch ihre Unmäßigkeit. Sie wollte alles zugleich, die Nächte mit Viktor unter irgendeinem Zelt in fernen Welten und auch diesen Beruf. Sie wünschte sich Viktor zu sich nach Heidelberg, wünschte sich eine brave Wohnung in irgendeinem schönen alten Haus und wußte doch, daß sie damit seine Flügel beschnitte.

Zu viele Flügel, dachte sie deprimiert, während sie schon am Einschlafen war, alle haben wir viel zu viele Flügel.