Sie werden staunen, was Ihr Vater inzwischen alles gebaut hat, sagte die Schwester freundlich. Etwas ganz und gar Wunderbares. Sie wisse allerdings nicht, wie dies Wunderbare eigentlich heiße, und der Vater wolle es nicht verraten. Sie hatte Weihnachten in Berlin verbracht. Zwar hatte die Großmutter vorgeschlagen, man könne sich ohne weiteres in dem Haus ihres alten Freundes in der Mark treffen, dort habe sie ein kleines Zimmer. Aber niemand in der Familie hatte dieses Zimmer je gesehen, und so zweifelte nicht nur Tante Minchen, ob es überhaupt existierte und nicht vielleicht nur ein Abstellraum war, in dem die Großmutter ein paar Dinge untergebracht hatte, die sie mit Hilfe eines anderen Freundes, eines Rechtsanwalts, hatte retten können. Also hatte man sich im Hotel getroffen, die Großmutter hatte von ihren Reisen erzählt, Onkel Heinz einmal mehr von seiner Arbeit als Rektor an der Schule und davon, wieviel Mühe es mache, Kinder zu wachen Menschen zu erziehen und sie nicht in dieses nationalistische Fahrwasser gelangen zu lassen. Tante Minchen berichtete noch einmal die Geschichte mit Erwins Schäferhund, den sie quasi domestiziert hatte, wie sie sagte. Am zweiten Feiertag war Laura mit dem Fahrrad von Luises Mutter, bei der sie wohnte, nach Dalldorf hinausgefahren, um ihren Vater im Irrenheim zu besuchen. Es war ein sonniger Tag, nicht sehr kalt, und sie hatte die Heide hinter sich gelassen und die Felder und war dann in die ausgedehnten Parkanlagen zu den kleinen Pavillons gelangt, die verstreut zwischen den Bäumen lagen.
Als sie sich dem Zimmer des Vaters näherte, hörte sie eine Mundharmonika, dazwischen Stimmen, Männerstimmen, die sich gegenseitig übertönten. Er kenne Wagner in- und auswendig, sagte einer, und er sei sicher, daß das aus »Tristan und Isolde« stamme. Das sei aus »Der Fliegende Holländer«, widersprach ein anderer. Und er wolle jetzt Skat spielen, sagte ein Dritter mißmutig, und das hier klinge nie und nimmer wie ein Orchester. Mundharmonika! Da könne man ja gleich auf dem Kamm spielen.
Die Tür öffnete sich, ein Mann mit rotem Kopf kam aus dem Zimmer. Drinnen spielte einer weiter auf der Mundharmonika. Laura klopfte an. Als niemand antwortete, trat sie ein. Zwei Männer saßen auf dem Boden, der eine mit einer Mundharmonika, der andere umwickelte gerade einen Kamm mit Seidenpapier.
Ihren Vater sah sie zunächst nicht. Erst als der eine auf ein Paar Füße zeigte, die unter dem Bett hervorsahen, verstand sie. Sie schaute irritiert auf die Füße und sagte leise: Vater, wo bist du?
Der Mann mit der Mundharmonika stand auf. Er probiert die Beleuchtung, sagte er stolz. Er probiert schon seit drei Tagen, aber heute wird er es schaffen.
Beleuchtung?
Inzwischen schob sich der Vater unter dem Bett hervor, sagte energisch, ja, es gehe um die Beleuchtung. Wir machen ein großes Fest mit Feuerwerk, fuhr er fort, und wir haben hier keine Läden an den Fenstern, also ist es immer Tag. Und bei Tag kann man ja kein Feuerwerk probieren. Das verstehst du doch?
Laura nickte beeindruckt. Ja, selbstverständlich.
Der ganze Aufbau ist bereits vorbereitet, wir haben lediglich Schwierigkeiten mit dem Orchester. Du weißt ja, Grammophon taugt nicht, da kann irgend etwas dazwischenkommen, und schon platzt alles.
Ob dieses Fräulein nicht beim Feuerwerk mitwirken könne, schlug der Mann mit dem Kamm vor. Vielleicht als Siegesgöttin oben auf dem Wagen. Sie sei viel hübscher als all diese Frauen, die hier ständig mit weißen Kitteln herumliefen. Nie ein Kleid, verstehen Sie, immer nur diese schrecklichen weißen Kittel. Wo denn da die rechte Festfreude aufkommen solle.
Hast du überhaupt schon meine Modelle gesehen? wollte der Vater wissen und zog den Vorhang zu seiner Waschnische auf. Ich habe wochenlang an ihnen gearbeitet.
Laura blieb überwältigt stehen und starrte auf die hauchzarten Gebilde, die an langen Fäden an einer quergespannten Schnur hingen.
Sie haben mir nur diesen Platz gegeben, sagte der Vater mißmutig. Auf dem Fensterbrett wollen sie ständig Staub wischen, aber hier stören die Modelle nicht.
An den Fäden hingen Festwagen in der Art, wie sie der Nachfolger von Stuwer in Wien gemacht hatte, lebende Bilder, die Vorgänge aus dem handwerklichen Leben zeigten, Tischler an der Hobelbank, Drucker an der Druckerpresse, Maler, die ein Porträt pinselten, und viele andere Szenen mehr. Der Vater hatte sie aus Papiermaché gestaltet, kleine Kunstwerke, die von der Decke schwebten.
Dieser Mann ist ein großer Künstler, sagte der Mann mit dem Kamm ehrfurchtsvoll, aber sie wollen ihn unterdrükken, verstehen Sie? Sie sagen, er darf diese Wagen nicht fahren lassen, dabei wäre das wunderschön. Und nützlich für uns alle. Aber wir stehen zu ihm, hören Sie? Sagen Sie es allen! Wenn sie uns machen lassen, ziehen wir alle Aufträge an Land.
Beruhige dich! sagte der mit der Mundharmonika. Sie lassen uns nicht machen, sie wollen nicht, daß wir die Aufträge bekommen. Sie wollen uns klein halten, so klein. Er deutete es mit den Fingern an und begann dann, laut zu lachen. Dabei sind sie selber zu dumm, um diese Aufträge an Land zu ziehen. Weil sie überhaupt keine Künstler sind.
Irgendwann kam die Schwester ins Zimmer. Laura deutete auf die Papiermachékunstwerke ihres Vaters und sagte: Es sind Trionfi.
Der Vater wollte sie nach draußen begleiten, ich will dir etwas zeigen, sagte er, als sie durch den Park gingen, und holte aus einem kleinen Schuppen am Rande des Wegs einen Rechen. Das hier ist meine Hauptaufgabe, sagte er dann und begann, den Kiesweg zu rechen. Er häufte den Kies zu einem kleinen Haufen, verteilte ihn dann wieder und sah dabei lächelnd zu ihr hoch. Nun, wie findest du das? In der Villa durfte ich nie Kies rechen, dieser komischen Frau im Wintergarten hat es nie gefallen, wie ich gerecht habe. Aber hier werden sie mir einmal ein Diplom geben dafür. Er hielt inne, sah sie schelmisch an. Ein Diplom als bester Parkrecher von ganz Dalldorf.
Am Ende des Parks, den sie fluchtartig verließ, schaute sie sich noch einmal um. Sie hörte, wie ihr Vater mit lauter Stimme eine Wagner-Arie sang, während er halbkreisförmig den Kies auf dem Weg verteilte.
Die nächsten beiden Monate schienen Laura rascher zu vergehen als alle Monate zuvor. Sie verbrachte ihre Zeit weitgehend in der Bibliothek und in ihrem Stammcafé, weil sie damit die Kohlen für die Heizung ihres Zimmers sparen konnte. Ihre Freizeit war mehr als knapp, selbst an Sonntagen arbeitete sie durch, so daß Gregor eines Tages kopfschüttelnd sagte, sie müsse ja nichts als »sehr gut« bekommen.
Kaum, erwiderte sie, über weite Strecken könne sie verschiedenen Fächern noch immer nichts abgewinnen. Physik langweile sie nach wie vor, in Chemie verstehe sie manches nicht, und in der Zoologie mißfielen ihr die Versuche auch nach zwei Jahren der Gewöhnung noch immer. Im übrigen habe sie das Gefühl, daß ein Kopf nicht ausreiche für diesen gigantischen Wissensstoff.
Immerhin haben Gnädigste ja auch einhundertfünfzig Gramm weniger Gehirn als wir Männer, spottete Gregor und entwischte zur Tür, als Laura ihm mit dem Küchenhandtuch drohte.
Am Abend vor der Anatomieprüfung stand sie ratlos vor ihrem Schrank. Ziehen Sie um Himmels willen bei diesem Mann kein Kleid an, das auffällt! hatte Ulrich ihr geradezu beschwörend geraten. Ziehen Sie sich an wie eine graue Maus! Vor allem wie eine arme graue Maus.
Sie hatte gesagt, daß ihr Kleiderschrank ohnehin ein armseliger Kleiderschrank sei, und von Mode verstehe sie so gut wie nichts.
Sie wissen, daß er Frauen nicht mag, und selbstbewußte schon gleich gar nicht, Frauen, die ihm ins Gesicht schauen und nicht vor ihm auf dem Boden kriechen, hatte Ulrich hinzugefügt.
Also beschloß sie, ein strenges schwarzes Tuchkleid zu tragen, darauf einen von Tante Minchen gehäkelten weißen Kragen, ein Kleid, in dem sie vermutlich schwitzen würde. Aber sie hoffte, daß das Arrangement brav genug sein würde, um jeden Löwen vom Fraß abzuhalten.
Danach entschloß sie sich zu einem kurzen Abendspaziergang. Sie lief rasch die Treppe hinunter und wollte schnell an der Tür des Weinbeisels vorbeischlüpfen, aber noch ehe sie den Hauseingang erreicht hatte, flog die Tür auf, und das Brüllen der bereits sattsam bekannten Gesänge überfiel sie wie ein Wespenschwarm: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« und »Wohlauf Kameraden, aufs Pferd«. Da der Hausflur eng war, mußte sie warten, um die Traube von halbbetrunkenen und volltrunkenen Studenten, die sich gegenseitig zu stützen versuchten, an sich vorbeizulassen. Der Pulk bewegte sich nur langsam und mühsam, etliche der Betrunkenen mußten von drei Seiten gestützt werden. Der letzte, der den Raum verlassen wollte, war Birikoff, der von vier Studenten mehr gezogen wurde, als daß er selbst noch fähig war, zu gehen. Sein glasiger Blick irrte irgendwann über ihre Person, blieb an ihr haften. Seine Augen wurden für einen Augenblick klar und verengten sich, ehe er zu lachen begann. Erst leise, dann stärker. Er rüttelte an den Armen derjenigen, die ihn hielten, forderte sie auf, in sein Gelächter einzustimmen. Dann streckte er ihr mit einer mühseligen Bewegung seinen Zeigefinger entgegen: Da ist sie ja, unsere, unsere ... wie sagt man noch ...
Amazone, sagte einer der Studenten willfährig, unsere geistige Amazone.
Ach was, Amazone, lallte Birikoff. Neinnein, ich meine etwas anderes. Er schloß die Augen, überließ seinen Körper endgültig den Studenten, die ihn durch den Flur zogen, blieb aber kurz vor dem Hauseingang abrupt stehen und drehte sich um. Unsere kleine Pyromanin, flüsterte er dann. Laura derer von Struwer oder Strower oder – na, wie hieß das noch?
Automatisch sagte sie: Stuwer.
Er nickte zufrieden. Stuwer, natürlich Stuwer. Aus der Dynastie derer von Stuwer. Wissen Sie, meine Herren – er machte eine weitausholende Gebärde Richtung Decke –, das sind die Leute, die das Firmament bemalen mit bunten Blumen, den Himmel aufglühen lassen, Gold und Silber heruntertropfen lassen, Hunderte, Tausende von Brennsätzen zünden, was alles eine ganz entsetzliche Verschwendung ist. Alles total überflüssig, denn schließlich ist das Ganze in Sekundenschnelle vorüber, was einen Haufen Geld kostet, das man anderswo sinnvoller verbraten könnte, sagte er dann schleppend zu seinen Studenten, bevor er endgültig in sich zusammensackte.
Laura blieb stehen, wartete, bis die Haustür ins Schloß fiel, dann wandte sie sich langsam um. Oben an der Treppe stand Gregor und starrte sie an.
Nun sag schon was! sagte sie leise, als Gregor sie weiterhin wortlos anstarrte.
Hoffentlich liegt einige Zeit zwischen dieser Begegnung und deinem nächsten Zusammentreffen mit ihm. Er verzeiht es keinem, der ihn so sieht, so total besoffen.
Es liegt gar keine Zeit dazwischen, sagte sie lächelnd. Ich bin morgen bei ihm in der Prüfung.
Ich dachte, deine Examina seien erst nächste Woche.
Es ist alles verschoben worden, aus irgendwelchen Gründen. Wer war Struwer oder Stuwer? wollte Gregor wissen und stieg langsam die Treppe hinunter.
Sie zog sich am Geländer hoch und kam ihm entgegen. Einer der größten Feuerwerker aller Zeiten, ein Mann aus Wien. Er war steinreich, und das vermutet er wohl auch von mir.
Wie kommst du darauf?
Es sind immer die gleichen Anspielungen, sagte sie müde. Oder besser, es waren immer die gleichen Anspielungen. Jetzt ist es ja Gott sei Dank bald vorbei. Sie stieg die Treppe hinauf. Gregor folgte ihr. Weißt du eigentlich, daß du mir immer noch eine Geschichte schuldest, sagte sie dann.
Welche Geschichte? fragte Gregor zögernd.
Seine, sagte Laura und schloß ihre Tür auf. Erzählst du sie mir?
Jetzt? fragte Gregor entsetzt.
Jetzt, sagte sie und machte eine einladende Gebärde in ihr Zimmer.
Weißt du, was Studenten tun, die am nächsten Morgen in ein Examen gehen? fragte Gregor aufgebracht. Sie ...
Ich weiß, sagte sie. Sie essen früh zu Abend, gehen spazieren, legen sich dann ebenso früh ins Bett, nehmen vielleicht noch ein Buch in die Hand, aber gewiß kein Buch mit dem Prüfungsstoff. Und genau das hatte ich auch vor.
Dann tu es auch! sagte Gregor grob und wandte sich zum Gehen.
Das habe ich bereits gestern getan, sagte sie langsam. Es hat leider nichts genützt.
Was soll das heißen?
Das soll heißen, daß ich heute morgen bereits eine Prüfung hatte. In Physiologie.
Die auch schon früher? fragte Gregor irritiert.
Ja, aber es wäre auch egal gewesen, ob heute oder morgen, ich hätte vermutlich in keinem Fall bestanden.
Was meinst du damit?
Nun, ist das nicht klar? Ich meine damit, daß ich die Prüfung nicht bestanden habe. Ist das so schwer zu verstehen?
Du bist in Physiologie durchgefallen?
Das bin ich, sagte sie schlicht. Bekomme ich jetzt zur Belohnung diese Geschichte?
Du bist verrückt, sagte Gregor kopfschüttelnd, du bist komplett verrückt.
Bekomme ich sie, oder bekomme ich sie nicht?
Wieso bist du durchgefallen? Du hattest doch pausenlos gelernt, bist nicht ein einziges Mal mehr mit mir auf den Königstuhl gegangen.
Offenbar habe ich das Falsche gelernt, sagte sie seufzend. Auf jeden Fall habe ich auf die Frage nach dem Blutkreislauf gesagt, daß ihn Harvey erfunden habe, was natürlich nicht stimmt, er hat ihn entdeckt. Aber ich hätte nie für möglich gehalten, daß man so auf einem Verb herumreiten kann.
Du willst mir doch nicht erklären, daß man dich deswegen hat durchfallen lassen?
Nein, aber viel mehr Mühe gab man sich nicht. Ich war nach genau fünf Minuten wieder vor der Tür. Der Prüfer drückte mir eine Manschette in die Hand, mit der man den Blutdruck mißt, und sagte, ich solle ihm zeigen, was innen oder außen sei. Und das war’s dann.
Was?
Nun, ich zeigte ihm die falsche Seite. Die straffe Seite ist nun mal außen, sonst entsteht ja kein Druck. Glaub mir’s, sagte sie, als sie Gregors ungläubiges Gesicht sah, es war so. Für mich spricht, daß ich so ein Ding nie in der Hand gehabt habe, ich habe lediglich zugeschaut, wie es ein Assistent uns vorgeführt hat, genau einmal, dann nie wieder.
Was war sonst noch? Das war doch nicht alles?
Na schön, da war schon noch was, nur war ich nicht daran beteiligt, und ich kann’s wohl auch kaum beweisen, daß man mich deswegen durchfallen ließ. Du erinnerst dich noch an meine Empörung wegen der Frösche im Praktikum? Gregor nickte.
Es gab außer mir noch ein paar Leute, denen das nicht behagte, und es bildete sich – so hat man es mir erzählt – eine Gruppe aus fünf Leuten, die zum Dekan gehen und sich nicht eben beklagen, aber doch immerhin die Möglichkeit einer weniger brutalen Methode der Didaktik vorschlagen wollten. Unser Professor erfuhr davon, mußte offenbar nachgefragt haben, ob ich dabei war, und ließ dann seinen Zorn an mir aus, obwohl ich nicht dabei war und mit ihm sonst relativ gut auskam. Bei mir durfte er sicher sein, daß ich nicht zurückschlagen würde, hatte ich doch dankbar zu sein, daß ich als Frau überhaupt studieren durfte. Aber jetzt die Geschichte! sagte sie dann entschieden.
Laura, bitte, sagte Gregor drängend, was soll das? Wozu willst du dir am Abend vor deiner zweiten Prüfung, nachdem du bereits eine nicht bestanden hast, alte Geschichten anhören, die längst vergangen sind?
Ich will wissen, weshalb mich Birikoff haßt. Und ich will wissen, woher das ungespülte Geschirr und die ungespülten Gläser im Spülstein kamen, sagte Laura, du erinnerst dich? Mein Gott, Laura, was willst du mit zwei ungespülten Gläsern, die vor fünf Semestern in deinem Spülstein standen, am Abend vor deiner Prüfung? Bist du so selbstquälerisch? Oder total verrückt?
Sie schluckte und sagte langsam: Vielleicht. Für den Fall, daß ich meinem Vater nachschlage.
Gregor kam auf sie zu, nahm sie ungeschickt in den Arm. Ich hab’ das nicht so gemeint.
Dann erzähl mir die Geschichte! sagte Laura und drückte ihn in den durchgesessenen Sessel.
Das ist Erpressung, gab Gregor zurück.
Sie stellte den Wasserkessel auf die Flamme und holte zwei Tassen aus dem Schrank.
Ich will keinen Tee, so spät, wehrte Gregor ab.
Ich hab sonst nichts. Für Neckarwein hat die reiche Pyromanin derer von Stuwer kein Geld.
Dann gib mir Leitungswasser! sagte Gregor.
Leitungswasser sei kalt, sagte Laura und ließ ihn an einer Dose mit Pfefferminztee riechen. Ob der recht sei. Und sie habe auch noch ein paar Plätzchen von Weihnachten.
Sie goß ihm Tee ein, setzte sich ihm gegenüber und lächelte ihn an. Ich warte.
Laura, ich weiß nicht, was in diesem Zimmer geschehen ist, sagte Gregor ratlos.
Du willst mir also weismachen, daß ich dir zu nächtlicher Stunde umsonst einen Pfefferminztee gekocht habe, zu einer Stunde, in der eine ordentliche Studentin, die am nächsten Tag ins Examen geht, längst im Bett liegen sollte?
Sie war – sie war schön, sie war reich, sagte Gregor nach einer Weile.
Wer?
Seine Frau, wer sonst.
Ich dachte, er sei Junggeselle.
Nein, das ist er nicht. Es geht das Gerücht, daß er ganz früh, als Assistenzarzt, eine Frau liebte, die er jedoch aus irgendwelchen Gründen nicht heiraten konnte. Er soll ein Kind mit ihr gehabt haben, ein mongoloides Kind, ein Mädchen, was ganz gewiß nicht in sein Germanentum, das er ständig zur Schau stellt, hineinpaßte. Dann heiratete er diese andere Frau, eine reiche Frau, eine unbeschreiblich schöne Frau aus einer berühmten Gelehrtenfamilie. Die Frau war ziemlich jung, ich glaube zwanzig Jahre jünger als er. Und sie betrog ihn. Mit einem Studenten, einem armen Studenten, dem er dieses Zimmer hier vermittelt hatte. Er überraschte die beiden hier. Dieses Zimmer hat eine etwas komplizierte Geschichte. Ein Studienkollege von Birikoff, zunächst genauso arm wie er damals, kam zu Reichtum und kaufte dieses Haus. Das Weinbeisel wurde verpachtet, das Zimmer vermietete der Besitzer in jedem Semester billig an einen bedürftigen Medizinstudenten. Als der Besitzer starb, übertrug die Frau, die längst nicht mehr in Heidelberg lebte, diese Aufgabe Birikoff.
Aber du warst kein Mediziner, wie kamst du an das Zimmer?
Ich hörte, daß es in jenem Semester keinen bedürftigen Medizinstudenten gab, also bewarb ich mich. Und da ich nicht so aussah wie jene Studenten, die bereits morgens ihr Bier trinken und dann den restlichen Tag in der Stadt ihre schikken Kleider ausführen, gab Birikoff es mir.
Aber ich bekam es über Luise, wie das?
Weil Birikoff zu jener Zeit nichts mehr mit diesem Zimmer zu tun haben wollte – verständlicherweise. Es erschien ihm irgendwie geschändet.
Das leuchtet ein.
Die Geschichte ging aus, wie solche Geschichten nun mal ausgehen. Der Student verließ die Stadt, die Frau verließ Birikoff.
Und seitdem haßt er Frauen?
Gregor zuckte mit den Achseln. Es scheint wohl so.
Das ungespülte Geschirr stammte von den beiden?
Das weiß ich nicht. Es heißt nur, daß der Student in der gleichen Nacht, in der Birikoff die beiden überraschte, das Zimmer räumte. Vermutlich interessierte ihn in dieser Situation kein Geschirr mehr. Zufrieden jetzt?
Laura stand auf, streckte die Arme und seufzte. Naja, zufrieden nicht ganz, aber wenigstens kam niemand zu Tode. Ich dachte manchmal, irgendwer hätte hier Selbstmord begangen, weil du nie davon erzählen wolltest.
Gregor stand auf. Fühlst du dich jetzt besser?
In gewissem Sinne schon, sagte sie zögernd. Weißt du, er ist nun kein solches Monster mehr für mich. Ich meine, nun, da ich die Ursachen kenne.
Naja, falls ich wirklich dazu beigetragen haben sollte, das Bild deines Professors zu durchleuchten, dann will ich froh sein, sagte er. Aber eigentlich glaub’ ich’s nicht. Schlaf gut! Er strich ihr kurz über den Arm und ging dann zur Tür. Ich melde mich morgen, damit ich dir wenigstens einen Blumenstrauß überreichen kann.
Um Himmels willen! Sie wehrte lachend ab. Ich muß es erst einmal bestehen, dieses Examen.
Später war alles verworren und verwaschen, sie konnte sich an die Abläufe dieses Vormittags nur noch in Bildern erinnern, die sich in ihrem Kopf zu einem absoluten Chaos zusammenfanden, Bilder, die sie an Hieronymus Bosch erinnerten, an die Hölle oder an irgendeine Apokalypse.
Es hatte damit begonnen, daß die Reihenfolge der Prüflinge geändert worden war, aus einem Grund, der ihnen nicht mitgeteilt wurde. Dies hatte zur Folge, daß sie warten mußte, ziemlich lange. Sie sah die Sieger aus dem Prüfungssaal kommen, von denen schon vorweg feststand, daß sie Sieger sein würden. Sie sah die Gesichter der weniger Guten, die mit gesenktem Kopf den Saal verließen, und sie sah die Stoischen, die den Eindruck hinterließen, als sei ihnen alles gleichgültig.
Als sie endlich hineingerufen wurde, stellte sie fest, daß an ihrer Bluse ein Knopf fehlte – sie hatte ihn wohl aus Nervosität in der Zwischenzeit abgezwirbelt – und daß ihre schwarze Gummischürze an der linken Seite einen Riß hatte, weil sie mit dem Band an der Türklinke hängengeblieben war.
Von da an verschwamm in ihrer Wahrnehmung der Ablauf der Dinge. Sie wußte zwar, daß sie vor einer Leiche stand, aber bereits hier begann ihre Irritation. Diese Leiche war ihr nicht bekannt. Sie wußte, es war grotesk, aber dennoch stellte sie ganz nüchtern fest: Dies war nicht jene Leiche, an der ihre Gruppe über Wochen gearbeitet hatte. Birikoff prüfte allein. Er stand am Fenster, als sie den Raum betrat, ganz auf Seriosität bedacht, keine Spur mehr von der Betrunkenheit der vergangenen Nacht. Er drehte sich um und erwiderte ihren Gruß sachlich, wenn auch nicht eben freundlich. Aber vermutlich war er kein Mensch von Freundlichkeit, egal, ob er getrunken hatte oder nicht. Sie nahm die Ausdünstung seines Anzugs wahr, der vermutlich nie gelüftet wurde und dessen Zigarrengestank auch nicht von dem beißenden Geruch des Formalins übertüncht werden konnte. Sie roch seinen Atem, in dem sie noch Spuren von Alkohol zu finden glaubte, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Die Fragen, die er stellte, kamen präzise, wenn auch leise. Sie waren zunächst nicht besonders schwer, und ihr war klar, daß er sie nicht auf »sehr gut« prüfen würde, dafür hatte er andere Kandidaten. Ihre Antworten – so schien es ihr – waren klar. Einmal nickte er bestätigend mit dem Kopf, ansonsten ließ er sie im unklaren, was richtig oder falsch war.
Und dann jene verhängnisvolle Frage nach dem Omentum majus. Es war keinesfalls eine schwere Frage, und selbstverständlich hatten sie alle dieses Omentum majus, dieses Große Netz, das über den Baucheingeweiden lag, beim Präparieren gesehen, es in der Hand gehabt.
Aber hier gab es kein Omentum majus. Es war nicht vorhanden. Sie suchte nach ihm, zunächst noch klar im Kopf, als sie es nicht fand, suchte sie hektischer, wühlte sich schließlich nahezu verzweifelt durch die halbe Bauchhöhle hindurch mit ihrer Hand, ihrem Arm, in der Hoffnung, daß dieser Mensch sein Omentum majus möglicherweise an einer völlig anderen Stelle hatte als alle übrigen Menschen, so wie es auch welche gab, die den Blinddarm links anstatt rechts hatten. Sie schaute nicht hoch, Birikoff griff nicht ein in diese groteske Wühlerei. Er ließ ihr Zeit, und sie sah sich neben sich stehen und sich zuschauen, unbeteiligt, als sei sie eine andere Person. Als sie schließlich aufblickte, sagte er lediglich: Nun, ich denke, wir sollten noch etwas übriglassen von dieser Leiche für die übrigen Studenten.
Dann führte er sie zu einem Kopf, und wiederum stellte sie mit Erschrecken fest, daß dies ein fremder Kopf war, ein Kopf, mit dem sie nicht vertraut war, keiner aus ihrer Kopfkiste. Und sie wußte zugleich, daß sie sich bereits auf dem Weg nach unten befand. Die Namen der Nerven, die Birikoff hören wollte, waren ihr zwar geläufig, aber sie fielen ihr nicht ein. Ihr war, als habe dieser Kopf nie irgendwelche Nerven besessen, als habe man für sie als Frau einen Kopf ohne Nerven gewählt, um sie und ihr ganzes Geschlecht für immer und alle Zeiten zu demütigen und von Universitäten fernzuhalten. Irgendwann hatte sie das Gefühl, daß sie sich auf einem Schiff befinde, das in einen tosenden Sturm geraten war, jedwede Richtung verloren hatte, irgendwo hilflos in den Wellen dümpelte und dann in einen Mahlstrom geriet, der es erbarmungslos nach unten zog.
Zwischendrin dann wieder Gedanken von peinigender Schärfe. Sie stand nicht hier für sich allein, sie stand hier für Tausende von Frauen, die nicht studieren durften. Sie kam sich vor, als habe sie das restliche Geld, das ihre Familie noch besaß, mutwillig verschleudert, vergeudet auch, was ihre Großmutter im Wintergarten, was Frauen auf der ganzen Welt sich ertrotzt und erarbeitet hatten. Schließlich verschwamm alles vor ihren Augen: der fremde Kopf, die fremde Leiche ... Die ungespülten Weingläser in ihrem Zimmer tauchten plötzlich vor ihr auf, und der letzte Befehl, den sie sich gab, war, daß sie Birikoff nicht vor die Füße fallen wollte wie jener Student am ersten Tag im Präpariersaal.
Als der Wirbel in ihrem Kopf vorüber war, schaute der Professor sie an, und sie glaubte, die besorgte Frage zu hören, ob ihr nicht wohl sei, entdeckte wider Willen so etwas wie Mitleid in seinem Gesicht, aber vermutlich bildete sie sich das nur ein.
Und dann die Frage nach den Handwurzelknochen. Sie atmete auf. Er mußte wissen, daß es keinen unter den Studenten gab, der diesen albernen Vers nicht kannte, und sie hatte plötzlich das Gefühl, er wolle ihr einen Rettungsring zuwerfen. Aber sie spürte, daß ihr Schiff bereits zu weit abgetriftet war, daß der Mahlstrom sie längst in die Tiefe zog und sie auch diesen Rettungsring nicht mehr ergreifen konnte: Der Vers wollte ihr nicht mehr einfallen. Sie brachte ein mühsames Kopfbein hervor. Birikoff nickte, offensichtlich erleichtert, und sagte: Nun, was liegt daneben? Aber sie wußte es nicht. Vermutlich war ihr Schiff inzwischen in der Unendlichkeit des Meeres versunken, wo keine Rückkehr mehr möglich war. Und Birikoffs betroffenes: Danke, warten Sie bitte draußen, nahm sie aus der Ferne kaum mehr wahr.
Sie verließ den Raum, aber sie hatte keinerlei Gefühl, was mit ihr geschehen war, noch in welcher Situation sie sich befand. Sie wußte nicht, ob sie zu den Stoikern gehörte, denen alles gleichgültig war, oder zu den weniger Guten, die mit gesenktem Kopf den Saal verließen, es war ihr lediglich klar, daß sie nicht zu den Siegern gehörte.
Was hat er Sie gefragt? wollte ein Kandidat wissen, neben den sie sich setzte.
Sie sagte achselzuckend: Glauben Sie mir, ich weiß es einfach nicht mehr.
Aber irgendeine Frage müssen Sie doch behalten haben! sagte der Kommilitone, der vermutlich mißtrauisch war und annahm, sie sei unkollegial und wolle die Fragen nicht preisgeben. Man weiß dann einfach, welche Fragen schon dran waren. Das Omentum majus sei zurückgeklappt, habe vorhin einer gesagt, aber nach dem frage er dann sicher nicht mehr.
Können Sie die Handwurzelknochen? fragte sie abwesend. Die fragt doch keiner! Jeder Professor weiß, daß alle Studenten diesen albernen Vers kennen.
Wissen Sie, sagte sie mühsam, dieser alberne Vers, er ist mir einfach nicht mehr eingefallen.
Ein Schifflein fuhr ... Sie hörte, daß ein Name gerufen wurde, und der Kandidat neben ihr verließ hastig die Bank, verschwand hinter der Tür, die für sie inzwischen der Schlund der Hölle geworden war.
Sie sah sich plötzlich allein auf dieser Bank sitzen, erstickte fast an der Trockenheit in ihrem Mund. Irgendwann hörte sie Lachen und lautes Reden. Sie sah irgendwelche Studenten den Gang entlang verschwinden. Es waren ganz offensichtlich die, denen mitgeteilt worden war, daß sie bestanden hatten.
Sie strich mit den Fingern über die Bank. Es war eine braune Holzbank, die Rückenlehne verblichen. Sie fuhr sie entlang, hatte plötzlich einen Splitter in ihrem Finger und zog ihn langsam heraus. Auch die Sitzfläche war verblichen, abgewetzt, vermutlich von wartenden Studenten, die hier auf ihr Todesurteil gewartet hatten, wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten oder solange dieses Gebäude stand. Später ging eine Sekretärin über den Flur, traf eine andere Sekretärin, und Laura hörte durch den Nebel, der sie noch immer umgab: Und dann hat er mich doch wahrhaftig umgeworfen, einfach in die Ecke gedrückt, und schließlich lag ich völlig wehrlos unter ihm. Laura blickte nicht hoch, hörte nur, wie die andere Sekretärin laut zu lachen begann. Wenn man sich unbedingt eine Dogge halten will, dann kann das schon mal passieren.
Irgendwann vermischten sich Zeit und Raum. Vermutlich hatte man sie längst vergessen. Ihr Schiff war schon seit Äonen untergegangen, und alle wußten es, nur sie nicht. Und dieser andere Kandidat, von dem sie weder den Namen kannte noch sein Gesicht behalten hatte, mußte längst an ihr vorübergegangen sein, ohne daß sie es wahrgenommen hatte.
Sie wußte, daß die Todesurteile nicht von den Professoren verteilt wurden, die hielten sich von dieser Art Arbeit vornehm zurück. Die Todesurteile verteilten die diversen Assistenten, deren Aufgabe es war, zu sagen: Es hat nicht gereicht. Sie können es ja noch einmal probieren. Und es war genau dieser Satz, den ein Assistent dann zu ihr sagte. Sie müsse das Fach wiederholen, fügte er hinzu, nicht die ganze Prüfung.
Dann war sie vogelfrei.