Sie hatte Olgas Adresse nie aufgeschrieben, sie hatte sie im Kopf. Rue des Juifs, Nummer elf. Es würde gewiß nicht schwierig sein, sie zu finden. Zumindest hatte sie das geglaubt, als sie morgens übermüdet am Gare de l’Est in Paris ankam. Aber nachdem sie etliche Passanten vergeblich gefragt hatte, war sie irritiert. Rue des Juifs? Ich glaube, die gibt’s nicht mehr, sagte der eine. Die liege im Marais-Viertel, das sei nicht sein Arrondissement, meinte ein anderer, er kenne sich da nicht aus. Schließlich fand sie einen Polizisten, der ihr erklärte, daß die Rue des Juifs vor ein paar Jahren umbenannt worden sei. Weshalb? Ein Achselzucken. Auf jeden Fall heiße sie jetzt Rue Ferdinand Duval. In der Nähe der Place des Vosges im vierten Arrondissement.
Sie hatte ihren Koffer am Bahnhof gelassen, da sie in Betracht gezogen hatte, vielleicht ein Stück zu Fuß gehen zu müssen, die Reisetasche trug sie bei sich. Bis sie die Straße gefunden hatte, waren zwei oder gar mehr Stunden vergangen. Die neue Metro fuhr nicht zu diesem Viertel, und die Auskunft »nicht mein Arrondissement« kannte sie inzwischen zum Überdruß.
Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert sei das Marais das vornehmste Viertel in Paris gewesen, hatte ihr Olga einmal geschrieben – davon war nichts mehr zu sehen, der einstige Glanz war verblichen. Stadtvillen mit prachtvollen Fassaden schienen auseinandergesägt worden zu sein, häßliche Fabrikanbauten und schäbige Werkstätten klebten an einst vornehmen Wintergärten. In den engen Gassen nackte, halbverwitterte Fassaden. Putten schauten aus leeren Augen auf die Straßen, in denen Kinder Murmeln warfen. An einigen Häusern, die noch aus dem Mittelalter stammten, konnte man die verronnene Zeit förmlich ablesen. Daß der Putz überall bröckelte, schien das Merkmal dieses Stadtteils zu sein.
Schließlich stand sie in der Rue Ferdinand Duval vor dem Haus Nummer elf, das durch eine Unzahl von Namensschildern auffiel. Es mußten sicher fünfzehn Parteien in diesem Haus wohnen, aber Olgas Name war nicht zu finden. Als sie das Haus betrat, schlug ihr eine seltsame Geruchsmischung entgegen: Es roch feucht, nach Wäsche, nach Kohlgemüse und nach starkem Kaffee. Irgendwo spielte jemand ein trauriges Lied auf einer Trompete und wiederholte hartnäckig einen einzigen Takt immer wieder.
Sie klopfte an die Tür der Parterrewohnung. Die Frau, die öffnete, schüttelte den Kopf, nein, sie kenne keine Olga Asanowski. Im ersten Stock erhielt sie die gleiche Auskunft. Im nächsten öffnete ein junger Mann, überlegte kurz und sagte dann: Zwei Straßen weiter, sie ist vor kurzem umgezogen. Laura suchte die angegebene Straße, die Tasche an ihrem Arm schien von Schritt zu Schritt schwerer zu werden. Schließlich stand sie vor einem Haus, dessen Putz etwas besser erhalten war, und der Geruch im Hausflur war nicht ganz so streng wie der im anderen. Aber auch hier vereinigten sich sämtliche Ausdünstungen des Hauses im Erdgeschoß, so daß es schien, es kochten die Bewohner aller Stockwerke auf einem einzigen riesigen Herd im Treppenhaus.
Sie stieg die engen Stufen hinauf. Im zweiten Stock hörte sie Stimmen, dann klappte eine Tür, und eine schlanke Frau in einem schwarzen, verschlissenen Kleid stieg, beladen mit einem schweren Kohleneimer, vor ihr keuchend die Treppe hinauf. Laura überlegte, ob sie sie nach Olga fragen solle, setzte bereits zu einem freundlichen Madame an, da drehte sich die Frau um.
Einen Augenblick später lagen sie sich in den Armen. Nicht, nicht! wehrte Olga lachend ab. Ich mache dich schmutzig.
Aber Laura drückte Olga an sich, fühlte, wie alles von ihr abfiel, die Last der vergangenen Tage, die lange Zugfahrt, die beschwerliche Suche nach der Wohnung.
Um Himmels willen, mein Täubchen, was ist mit dir? Ist jemand gestorben? fragte Olga beunruhigt.
Laura schüttelte den Kopf, Olga zog ein Taschentuch aus ihrem Kleid, wischte ihr die Tränen ab, dann lachte sie. Jetzt siehst du aus wie der Schornsteinfeger.
Sie ließ ihren Eimer stehen, nahm Laura die Tasche ab, schob sie vor sich die Treppe hinauf und schloß im fünften Stock eine Wohnung auf. Auch eine Dachkammer, sagte sie fröhlich, du wirst dich also gleich wohl fühlen. Ich mache uns einen Tee, du läßt ihn an der Himbeermarmelade, die du in die Backentasche schiebst, vorbeigluckern, und dann wird dir besser. So haben wir das immer bei uns in Rußland gemacht. Und dann erzählst du mir, mein Täubchen, wenn’s sein muß, die ganze Nacht hindurch.
Laura stellte ihre Tasche auf den Boden und betrachtete irritiert Olga in ihrem schwarzen, verschlissenen Kleid. Olga lachte augenzwinkernd. Keine Angst! So arm bin ich nicht, ich habe noch ein paar andere Sachen zum Anziehen. Ich trage dieses Kleid nur zum Kohlenholen, es ist uralt und gehörte meiner Großmutter.
Laura nickte und schaute sich im Zimmer um, das nur aus Blättern mit Zeichnungen zu bestehen schien. Zeichnungen auf dem Tisch, auf den Stühlen, an die Wände geheftet, teilweise sogar auf dem Boden, Zeichnungen von Röcken, Blusen, Mänteln und Hüten.
Ich habe auch noch einen winzigen Dachgarten, sagte Olga lachend, wenn mir’s hier drin zu eng wird und der Platz nicht mehr ausreicht, ziehe ich einfach um. Sie nahm Laura an der Hand, führte sie nach draußen. Über den Dächern von Paris zu wohnen war einer meiner Träume, sagte sie. Woher hattest du überhaupt meine neue Adresse?
Ein junger Mann in deiner früheren Straße half mir, aber diese Straße heißt jetzt auch anders.
Olga zuckte mit den Achseln. Man mochte den Namen nicht mehr, sagte sie dann, nach dem Dreyfus-Prozeß wollte man keine Rue des Juifs mehr, also hat man sie umbenannt.
Sie setzten sich an den Tisch. Olga hatte den Samowar angezündet und ein Glas mit Himbeermarmelade aus dem Schrank geholt. Jetzt können wir stundenlang reden, nichts stört uns.
Und Laura erzählte.
Sie erzählte die halbe Nacht hindurch. Von dem Examen, wie sie vor der »fremden« Leiche gestanden habe und wie sie bei der Manschette zum Blutdruckmessen habe zeigen sollen, was innen und außen ist ... Verstehst du, sie haben mir im Mikroskopierkurs den Tubus des Mikroskops mit Papier zugestopft, so daß ich in aller Naivität zum Assistenten gegangen bin, um mich zu beklagen, mein Mikroskop sei kaputt. Sie haben mich den Finger in Urin tauchen und abschlecken lassen und sich über mich lustig gemacht.
Aber sie haben sich das alles nicht extra für dich ausgedacht, sagte Olga behutsam, oder?
Laura stockte, dachte nach und gab dann zu, daß Kommilitonen gesagt hätten, vorher hätte es andere getroffen.
Falls du die Absicht hast, nicht mehr dorthin zu gehen, wird’s vermutlich auch wieder andere treffen, stellte Olga fest.
Verstehst du, diese Frösche! sagte Laura empört. Er hat mich wegen dieser Frösche durchfallen lassen.
Mag sein, aber du wirst es ihm nie beweisen können.
Nein, sagte Laura deprimiert, das nicht. Aber sie werde diese Prüfung gewiß nicht wiederholen. Und daher werde sie auch ganz gewiß nie Ärztin werden. Nie.
Olga nickte, sagte, das verstehe sie, aber sie bedaure es. Damals in den Hinterhöfen, diese Kindersärge – erinnerst du dich noch?
Ja, sagte Laura, sie erinnere sich.
Irgendwann fielen Laura wiederholt die Augen zu. Olga schob sie in einen kleinen Nebenraum, in dem eine Waschschüssel und ein Wasserkrug standen. In der Zwischenzeit bezog sie das Kanapee im Wohnraum. Es ist nicht sehr bequem, entschuldigte sie sich, aber ich habe nur das. Mein Bett ist in der Kammer nebenan, aber nicht eben breit.
Laura sagte, ihr sei es egal, wo sie schlafe, sie sei so müde, daß sie es nicht einmal merken würde, wenn man sie unter den Brücken der Seine hinbettete.
Auch am nächsten Tag erzählte Laura in allen Einzelheiten von der Prüfung. Das Omentum majus hatten sie zurückgeschlagen, sagte sie voller Empörung, und nicht einmal der Kopf ist mein Kopf gewesen, den ich präpariert hatte.
Vermutlich wollen sie wissen, ob ein Student so sicher ist, daß er sich auch an einem fremden Objekt auskennt. Kein Mensch ist wie der andere.
Alles komme daher, weil sie eine Frau sei, sagte Laura hartnäckig. Und dann erzählte sie wieder von dem zugestopften Tubus und wie man sie gezwungen habe, diesem Frosch den Kopf abzuschneiden. Und das Hirn auszubohren.
Weshalb das? wollte Olga wissen.
Damit er nichts spürt.
Nun, das sei immerhin gutzuheißen, wagte Olga zu sagen, oder nicht?
Ja, sagte Laura einsilbig und schaute an Olga vorbei.
Auch der nächste Tag und der übernächste verliefen ähnlich. Zwar verließ Olga bisweilen das Haus, da sie in die Redaktion mußte, aber es blieb genug Zeit zum Reden. Und Laura redete. Irgendwann hielt sie mitten im Satz inne und sagte: Sag mal, habe ich dir das nicht schon einmal erzählt?
Schon viermal, sagte Olga lächelnd, aber es macht nichts. Sie höre es sich so oft an, wie es nötig sei.
Von da an hielt sich Laura zurück, schien wahrzunehmen, daß es außer ihren Problemen noch andere Menschen auf dieser Welt gab, mit anderen Problemen.
Bist du eigentlich fest angestellt? fragte sie Olga, als diese wieder einmal von ihrer Arbeit kam.
Nein, ich bin so etwas wie eine freie Mitarbeiterin bei verschiedenen Zeitungen, auch Zeitschriften.
Politik? So, wie du es dir gewünscht hast.
Olga schüttelte den Kopf. Noch nicht.
Was dann?
Olga schob sie in die kleine Kammer und öffnete einen Wandschrank, der fast die ganze Breite des Zimmers einnahm. Mode, sagte sie.
Das gibt’s doch nicht! sagte Laura überwältigt, als Olga mit einer Handbewegung an der Kleiderstange entlangstrich und voller Stolz sagte: Meine Garderobe.
Deine Garderobe? flüsterte Laura und berührte fast mit Ehrfurcht die Innenseite einer doppelten, zipfelig geschnittenen Pelerine, die mit weichem Stoff gefüttert war. Duchesseseide?
Olga lachte, nahm Lauras Hand und legte sie auf ein nachtblaues Taftkleid, das mit einem silbernen schmalen Gürtel versehen war, auf dem eine grünliche Eidechse aus irgendwelchen Steinen schimmerte.
Bevor du auf falsche Gedanken kommst und dich fragst, ob ich einen reichen Liebhaber habe, sagte Olga amüsiert, sage ich dir’s lieber gleich. Ich entwerfe diese Dinger, und ein paar davon habe ich schon verkauft. An Modeateliers. Und von dem Geld kaufe ich neues Material und entwerfe neue Sachen. Sie öffnete eine kleine Tapetentür, hinter der ein Gestell für Hüte zum Vorschein kam.
O Olga, sagte Laura entzückt, diese schönen Hüte! Etwa auch alle von dir?
Ich kaufe den Stumpen, dann forme und garniere ich ihn. Und verkaufe ab und zu einen. Nicht zum Reichwerden im Augenblick, aber es wird weitergehen. Von einem kleineren Modehaus bekomme ich bereits regelmäßig Aufträge. Und das hier – Olga kehrte zum Wandschrank zurück, zog einen Tuchsack heraus und öffnete ihn – mein Karakul!
Ein Breitschwanz, sagte Laura nahezu entsetzt.
Olga lachte. Der wäre nicht erschwinglich für mich. Nein, nur eine geschickt gemachte Imitation. Das ist gerade Mode, auch für Mäntel. Man trägt sie aus Plüsch in der Art von Chinchilla, Astrachan, Persianer.
Macht es dir ... Laura zögerte. Macht es dir Spaß?
Olga überlegte. Falls du mich fragst, ob für mich der Sinn des Lebens in zwei Metern plissiertem Chiffon für eine Kleidgarnierung oder in einem imitierten Persianerplüsch, den ich für einen Muff verarbeite, liegt, so ist die Antwort natürlich: Nein. Aber ich halte mich mit etwas über Wasser, was mir Freude macht. Und ich lasse mir Zeit mit meinen Träumen. Sie werden schon Realität werden, eines Tages. Deine übrigens auch, sagte sie dann und schloß den Wandschrank und die Tapetentüre.
Wie denn, sagte Laura niedergeschlagen. Sie gehe nicht mehr zurück. Es gefalle ihr hier. Besonders auf dem Dachgarten.
Das ist gut, sagte Olga lächelnd. Bleib einfach sitzen, und schau über die Dächer des Marais hinweg, solange es dir Freude macht! Dabei wußte sie, daß Laura diese Dachgartensitzungen weitgehend mit Selbstgesprächen füllte, bei denen der Name Birikoff der meistgenannte Name war. Olga fand dies keinesfalls gut, und es war ihr klar, daß sie möglichst rasch eine Änderung herbeiführen mußte.
Sie brauche heute die Wohnung, sagte sie daher eines Morgens beim Frühstück.
Laura schaute sie betroffen an. Auch den Dachgarten?
Auch den Dachgarten, sagte Olga gleichmütig.
Laura stellte ihre Tasse ab, nickte. Ich störe?
Olga lachte. Wenn es eine Fünfzimmerwohnung wäre, würdest du nicht stören. Aber das sei dieses winzige Appartement nun mal leider nicht.
Du meinst, du bekommst Besuch?
So ist es, sagte Olga lächelnd.
Laura sagte, sie gehe selbstverständlich solange in die Stadt. Ist es noch dieser junge Mann, von dem du mir in Heidelberg erzählen wolltest, es aber dann nicht getan hast?
Ja, sagte Olga, der ist es.
Laura nickte. Sie freue sich für Olga, sagte sie.
Na, nun frag schon! sagte Olga lachend. Was interessiert dich?
Laura sagte verlegen, so etwas frage sie nie. Wer erzählen wolle, erzähle.
Er ist Student, Historiker und Kunsthistoriker, Katholik, sein Vater irgendein hoher Beamter in irgendeinem Ministerium. Und die Familie stellt sich geschlossen und vehement gegen diese Beziehung, was nahezu selbstverständlich ist, wenn du auf der Île Saint-Louis wohnst, so ungefähr die feinste Wohngegend in Paris. Weißt du, hier stuft man die Menschen nach dem Viertel ein, in dem sie wohnen – kommst du aus dem Quartier Latin oder aus Saint-Germaindes-Prés, so weiß jeder, daß du zu den Intellektuellen gehörst. Vornehm ist’s auch um den Invalidendom herum, am Montparnasse oder in der Gegend der Avenue Foch. Wenn du da irgendwo wohnst, dann stört sich kaum einer mehr daran, daß du aus Rußland kommst, Emigrant bist und möglicherweise irgendwelche revolutionären Ideen im Kopf haben könntest. Man vermutet dann, daß du zu den reichen Russen gehörst, die kein Pferderennen und keine Premiere versäumen, regelmäßig die Gottesdienste in der russischen Kirche in der Rue Daru besuchen und die restliche Zeit des Tages mit Kutschfahrten durch den Bois de Boulogne verbringen.
Das Wohnviertel als Gütezeichen, sagte Laura irritiert. Wo gibt’s denn so was?
Das gibt es überall auf der Welt, sagte Olga lakonisch. Glaubst du vielleicht, in Berlin besteht kein Unterschied zwischen Dahlem und dem Scheunenviertel und Moabit? Aber ich fürchte, in meinem Fall ist’s weniger das Wohnviertel, das diese vornehme Familie stört, sie haben lediglich schreckliche Angst, daß ich ihren kostbaren Sohn entjungfern könnte und dadurch eine Bindung entsteht, die sie nie billigen würden – wobei sie nicht wissen, daß besagte Sache bereits im jugendlichen Alter von vierzehn Jahren vom Dienstmädchen vollzogen wurde.
Wo hast du ihn eigentlich kennengelernt? fragte Laura, während sie sich zum Ausgehen umzog.
Bei einem Dreyfus-Demonstrationszug durch Paris vor einigen Jahren. Weißt du, es war seltsam – da treffen sich hunderttausend Menschen, um für die Wahrheit zu demonstrieren, und zwei davon, Claude und ich, begegnen sich und kommen nicht mehr voneinander los.
Als Laura am Abend zurückkehrte, wollte Olga wissen, wie sie den Nachmittag verbracht habe.
Ich habe mir einen Stadtplan gekauft und versucht, die Arrondissements auswendig zu lernen, sagte Laura zögernd. Aber eigentlich ... eigentlich weiß ich nicht, ob ich das überhaupt will.
Wieso sollst du es nicht wollen?
Laura überlegte. Die Stadt ist für mich wie ein Labyrinth, sie ist laut, unübersichtlich – ich denke, sie ängstigt mich. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich nicht zu ihr passe.
Olga schüttelte verblüfft den Kopf. Das sei das eigenartigste Urteil, das sie je über Paris gehört habe.
Verstehst du, Laura suchte nach Worten, es ist so, als rufe einem diese Stadt mit tausend Stimmen zu: Erlebe mich, sei fröhlich, leichtlebig, amüsiere dich, genieße dein Leben!
Und dagegen hast du etwas? fragte Olga amüsiert.
Nein, ja, doch, vielleicht. Tut mir leid, sagte Laura dann entschuldigend. Weißt du, allein die vielen Nachtlokale. Man hat den Eindruck, wer in keinem Nachtlokal war, habe Paris nicht gesehen. Ich mag keine Nachtlokale.
In wie vielen warst du denn schon? fragte Olga lachend.
Ich fühle mich auf dem Dachgarten wohl, verteidigte sich Laura. Ich sitze hier zwischen deinen Blumen, höre aus der Ferne die Geräusche der Rue de Rivoli, aber ich muß nicht an diesen Geräuschen teilhaben. Sie bedrängen mich nicht. Man könnte meinen, du kommst aus einem Dorf, sagte Olga kopfschüttelnd. Eines Tages fährst du wieder ab und warst weder auf dem Eiffelturm noch im Louvre.
Mag sein, gab Laura zu, es macht mir nichts aus.
Zwei Tage später kam Olga eines Abends mit einem Packen Bücher ins Zimmer und legte sie aufatmend auf den Tisch, den Laura soeben für das Abendessen gedeckt hatte.
Puh, sagte Laura, mein Tisch ist gedeckt. Deine schmutzigen Bibliotheksbücher bitte in die Kammer!
Es sind nicht meine Bücher, trällerte Olga und legte ihren Hut ab.
Nicht deine?
Nein. Nicht meine.
Wessen Bücher dann?
Schau sie dir an.
Laura nahm einen der Bände in die Hand und erstarrte. Was soll das? fragte sie dann. Willst du deinen Journalistenberuf an den Nagel hängen und auf Medizin umsatteln?
Keinesfalls, sagte Olga gut gelaunt und drückte Laura das Buch an die Brust. In diesen Büchern wird mein braves Täubchen ab morgen lernen.
Laura schaute auf die Bücher, dann zu Olga und wieder auf die Bücher. Habe ich nicht in aller Deutlichkeit gesagt, daß ich das Studium aufgebe? Daß ich nie wieder auch nur eine einzige Zeile über den Musculus trapezius noch über den Musculus triceps brachii, noch über den Processus vermiformis oder das Pankreas lesen werde? Und schon gleich gar nicht über das Omentum majus!
Selbstverständlich hast du das gesagt, erwiderte Olga heiter, aber das interessiert mich nicht. Du wirst weiterlernen, wie es sich für eine brave Studentin gehört. Wirst ein paar Briefe an irgendwelche Leute in Heidelberg schreiben, und wenn das Täubchen brav gelernt hat – was die gute Tante Olga überprüfen wird –, dann darf es am Sonntag zu einer Bootsfahrt auf der Seine mitkommen.
Du bist unmöglich! sagte Laura. Du bist ganz und gar unmöglich! Und sie werde nicht lernen, sagte sie dann störrisch und trug die Bücher zum Vertiko. Und sie schreibe auch keine Briefe nach Heidelberg.
Wir werden sehen, sagte Olga. Wir werden sehen. Und bevor das Täubchen mitdarf auf die Seine, wird es von der guten Tante Olga auch ein anderes Kleid verpaßt bekommen, und es wird feststellen, daß es sich sofort besser fühlt. Und daß das verkorkste Examen weit in die Ferne rückt.
Wie bitte?
Nun ja, sagte Olga und befühlte den Stoff von Lauras Kleid, was ist das für ein seltsamer Stoff? Bisher hielt ich mich zurück, weil ich deinen Kummer respektiert habe, aber nun hast du lange genug die Dächer des Marais angestarrt. Jede Nacht beschimpfst du Birikoff im Traum, das genügt jetzt. Nun geht’s hinaus ins feindliche Leben. Ich hab’s mir am ersten Abend verkniffen, aber es dürfte dir klar gewesen sein, daß ich mich gefragt habe, woher die Schnitte deiner Kleider stammen. Nun?
Sie stammen aus einem Ärztebuch, das mir meine Großmutter geschenkt hat. Ein Ärztebuch aus der Feder einer Frau übrigens. Und es sind Reformkleider, sagte Laura trotzig.
Jaja, Reformkleider, das ist mir nicht entgangen, erwiderte Olga. Der rabiate Kampf gegen die Taille, schließlich schreibe ich auch über so etwas. Allerdings im umgekehrten Sinne: Ich gieße beißenden Hohn darüber.
Und weshalb?
Meinst du, hier in Paris kannst du Reformkleider loben und gegen die Taille protestieren? Reformkostüme und unten drunter Pumphosen aus Makobaumwolle, da lachen sich die Hühner krumm, und ich könnte meinen Beruf, noch ehe ich richtig Fuß gefaßt habe, an den Nagel hängen.
Du unterwirfst dich also jedwedem Modediktat?
Ich unterwerfe mich gar nicht. Aber ich will schön sein, verstehst du? Solange ich jung bin, will ich schön sein, und jung ist man entsetzlich kurz. Und du wirst kaum behaupten, daß Homespun oder steirischer Loden ein Material ist, das Frauen schön macht, oder?
Es ist praktisch, sagte Laura, und gesund. Und Homespun knittert nicht.
Gesund! Mein Gott, Laura, ich sage nicht, daß du irgendwelche Fahnen an dich hängen sollst, die mit giftigen Farbstoffen durchtränkt sind, ich sage nur, daß es das Recht der Frau ist, sich angenehm zu kleiden.
Den Busen hoch und den Po raus und die Taille so eng, daß du nicht schnaufen kannst. Und das alles, damit jeder Mann dir nachschaut.
Aha, geht’s dir am Ende vielleicht gar nicht um Gesundheit, sondern nur um Keuschheit? fragte Olga mißtrauisch.
Es gebe eine Suppe mit Jakobinerklößchen, Kalbsnierenbraten mit Bohnen und zum Nachtisch Schwammpudding, sagte Laura entschieden, und sie wolle nicht, daß alles kalt werde.
Gutgut, aber nach dem Essen führst du mir den Inhalt deines Koffers vor, und dann werfen wir einige Sachen in den Müll. Dein Korsett werfen wir in den Müll, sagte Laura, als erstes dein Korsett.
Etwa das schwarze mit der Brüsseler Spitze? sagte Olga augenzwinkernd. Meinst du das? Es ist Claudes Lieblingskorsett, er wird es nie zulassen.
Ich frage mich, wann ich ihn endlich kennenlernen werde, sagte Laura beim Essen.
Nie, mein Täubchen, sagte Olga und ließ sich ein Jakobinerklößchen auf der Zunge zergehen. Ich werde ihn dir nicht vorführen wie ein Kalb mit zwei Köpfen nach dem Motto: Und das hier, meine Liebe, ist Claude, von dem ich dir schon viel erzählt habe. Darauf Claude: Hoffentlich nur Gutes. Darauf du: Aber gewiß doch, mein Herr. Was, um alles in der Welt, willst du auch sonst darauf sagen? Falls er dir nicht gefällt, werde ich es spüren, und schon herrscht Spannung zwischen uns. Hör, fuhr Olga fort, als sie Lauras betretenes Gesicht sah, ich halte nun mal nichts davon, seine Freunde den anderen Freunden vorzustellen. Wenn er dir nicht gefällt, mußt du lügen und sagen, daß er dir sehr wohl gefällt, ganz abgesehen davon, daß du ihn soeben erst kennengelernt hast und nicht wissen kannst, welche Qualitäten der Mensch hat. Claude ist nicht eben hübsch, und ich will nicht, daß du sagst, wenn er diesen seltsamen Schnurrbart nicht hätte oder diese buschigen Augenbrauen oder diese komische Haltung, dann wäre er ein ganz ansehnlicher Bursche.
Gutgut, ich akzeptiere, sagte Laura. Dann gehen eben am Sonntag nur wir beide zur Bootsfahrt auf die Seine.
Nur, wenn du brav gelernt hast. Ich werde es kontrollieren.
Der Sonntag war ein sonniger, ein heißer Tag. Olga trug einen kleinen Sonnenschirm, Laura war, wenn auch mißmutig, bereit gewesen, in eines der luftigen Kleider Olgas zu schlüpfen. Meine Pumphose bleibt! sagte sie, als Olga an ihrer Unterwäsche herummäkelte.
Naja, spottete Olga, da sich kein Mann über diese Pumphose aufregen wird, kannst du sie meinetwegen anbehalten. Manchmal frage ich mich wirklich, wozu du die ganzen Bücher dieser Helene Stöcker eigentlich gelesen hast, wenn du nichts davon in die Tat umsetzt.
Weil ich das Pendant dafür noch nicht gefunden habe. Den passenden Mann.
Mit Reformkleidern wirst du auch keinen finden, beschloß Olga den Disput.