Die Arche

Haben sie dir gesagt, daß du kommen sollst? fragte der Vater mißtrauisch, als Laura in sein Zimmer trat.

Sie schaute ihn irritiert an, erinnerte sich dann an die Worte der Schwester: Bitte, vermeiden Sie jede Erregung, er fühlt sich heute nicht gut.

Nein, sagte sie daher freundlich und stellte ihre Tasche mit den Fruchtsäften und dem Kuchen auf den kleinen Tisch, sie sei gekommen, weil sie auf der Durchreise sei und ihn schon lange wiedersehen wollte.

Sie haben gesagt, es sei noch lange Zeit, aber ich wollte, daß du jetzt kommst, verstehst du? sagte der Vater mit Erregung in der Stimme. Bevor es zu spät ist.

Sie sagte freundlich: Ja, ich verstehe, und fragte sich dabei, was diesmal auf sie zukommen würde.

Kannst du dir vorstellen, daß es Menschen gibt, die nicht einmal etwas vom Ararat gehört haben? wollte der Vater dann wissen.

Du meinst den Berg aus der Heiligen Schrift? fragte sie langsam.

Ja, natürlich den. Aber diese Frauen da draußen seien alle dumm. Strohdumm. Deswegen habe er auch keinesfalls vor, sie mitzunehmen. Die sollen sehen, wo sie bleiben, wenn sie noch nie etwas vom Ararat gehört haben, fuhr er fort und zog mit einer raschen Bewegung den Vorhang seiner Waschkabine zurück. Nun, wie gefallen sie dir? fragte er sie dann mit einem gewissen Stolz in der Stimme und machte eine weitausholende Bewegung, die nicht nur das Zimmer, sondern das ganze Weltall einzubeziehen schien. Welche gefällt dir am besten?

Sie folgte mit ihrem Blick der Hand des Vaters, drehte sich im Kreise und blieb dann verblüfft stehen.

Welche gefällt dir am besten?

Sie schluckte, dann sagte sie, um ein Lächeln bemüht: Sieht aus wie die Arche Noah. Wie viele Arche Noahs.

Der Vater lachte beglückt, und sie spürte, wie seine Erregung abklang. Sieht nicht nur so aus, es ist so.

Und – sie zögerte einen Augenblick, weil sie nichts Verkehrtes sagen wollte – wozu hast du sie gemacht?

Wozu? sagte der Vater, und sie sah bestürzt, wie sich sein Gesicht langsam zu röten begann. Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, blieb vor dem Regal über seinem Bett stehen, das ebenfalls voller Schiffe war, und deutete dann zum Fensterbrett. Ich habe sie gemacht, weil man sie brauchen wird. Alle. Wieder ließ er seine Hand durch das Zimmer kreisen, ehe er behutsam eines der papierenen Gebilde vom Regal nahm. Man wird sie brauchen, weil er wiederkommt.

Sie nickte langsam, versuchte, ihrer Stimme Selbstverständlichkeit zu verleihen, und fragte dann: Wer?

Wer, wer, wer, sagte der Vater erregt und kam in gefährliche Nähe der Flaschen, die sie gerade auf den Tisch stellte. Ich denke, du solltest das doch wissen. Du, wenn schon niemand sonst. Es steht doch in der Zeitung. In allen Zeitungen.

Sie rückte die Flaschen aus seiner Reichweite, wischte sich die Haare aus der Stirn, wollte Zeit gewinnen, weil sie nicht wußte, ob sie auf der richtigen Spur war.

Der Komet! sagte der Vater vorwurfsvoll. Du weißt doch, Halley!

Ja, natürlich, man hat ihn entdeckt, sagte sie lächelnd und setzte sich, ohne seine Aufforderung abzuwarten, auf den einzigen freien Stuhl, da die übrigen mit Schiffsmodellen belegt waren. Bei uns in Heidelberg übrigens.

Man wird sich retten müssen, sagte der Vater mit starrem Blick, und er habe vorgesorgt.

Sie erinnerte sich wieder an die Mahnung der Schwester, hob vorsichtig eines der Modelle hoch und betrachtete die liebevoll ausgeschnittenen Papptiere, die das Schiff bevölkerten. Sie sind schön, deine Schiffe, sagte sie dann leise.

Archen, sagte der Vater lächelnd und entspannte sich sichtbar.

Archen, wiederholte sie gehorsam, natürlich sind es Archen. Und welche gefällt dir am besten? wollte der Vater abermals wissen.

Sie musterte die Papiergebilde, zählte sie, es waren dreiundzwanzig. Sie nahm ein besonders graziles hoch, wendete es nach links und nach rechts und übergab es ihm. Das hier.

Dies sei auch sein liebstes, sagte er beglückt und betrachtete das Schiff. Es sei sein letztes gewesen und daher auch am vollkommensten. Du mußt es nachher mitnehmen!

Sie nickte und stellte das Modell auf den Tisch. Dann öffnete sie eine Flasche und goß Saft in zwei Becher. Er ist von diesem Sommer, sagte sie im Bemühen, ihn abzulenken, ich hab’ ihn selber gemacht.

Der Vater nahm einen Becher, trank und sagte: Die hinterste Kammer ist für dich, die mit dem Fenster, es gibt nur dieses eine.

Sie versteifte sich, schaute zur Tür.

Er folgte ihrem Blick. Hat dich die Schwester gesehen, als du gekommen bist? fragte er dann mißtrauisch.

Ja, erwiderte sie ratlos, weil sie nicht wußte, was sie sonst hätte sagen sollen.

Hast du ihr etwa die Flaschen gezeigt? fragte er dann erregt und roch an dem Saft.

Nein, sagte sie zögernd.

Sie tun irgendwelches Zeug hinein, du weißt schon, damit man ruhig ist. Und einschläft. Aber selbstverständlich wolle er nicht einschlafen, fügte er hinzu und fuhr mit der Arche auf seiner Hand in der Luft hin und her. Da es bald soweit sei, wolle er nicht schlafen. Wir werden doch alle miteinander gehen, fragte er dann und schaute sie angstvoll an, nicht wahr? Sie umarmte ihn liebevoll und sagte: Selbstverständlich werden wir miteinander gehen.

Er beruhigte sich wieder und öffnete behutsam die papierene Tür der Arche. Wir geben Mutter am besten die Kammer neben der deinen, dort dürfte es am ruhigsten sein. Du weißt ja, es wird ihr immer übel auf dem Wasser.

Sie nickte ernsthaft. Es wird gut sein, wenn du ihr diese Kammer gibst, sie ist groß genug für euch beide.

Er wehrte ab und sagte, daß er selbstverständlich auf der Brücke bleiben werde.

Wird man eine brauchen? fragte sie zögernd. Meinst du nicht, daß man nur dahindümpeln wird, ohne Mast und ohne Segel?

Der Vater überlegte. Mag sein, sagte er ruhig, dann zuckte er mit den Achseln. Sie haben mir ja kein Holz gegeben. Aus Holz hätte ich sie stabiler bauen können, verstehst du? Dreihundert Ellen die Länge, fünfzig Ellen die Weite, dreißig die Höhe, ein Kasten aus Tannenholz, so wie es geschrieben steht. Für die Tiere wäre dann auch entschieden mehr Platz. Diese hier seien schon gut, sagte sie beruhigend. Und wenn eine Brücke, schlug sie vor, ob dann nicht vielleicht Wilhelm ...

Wilhelm auf keinen Fall, sagte der Vater rasch, Wilhelm kommt nicht auf die Brücke.

Und weshalb nicht?

Weil er sich über mich lustig macht, sagte der Vater zornig. Weißt du, was er gesagt hat, als er mich neulich besuchte?

Er hat dich besucht? wunderte Laura sich, da sie davon nichts wußte.

Er hat gesagt, er werde für das Signalement sorgen, wenn wir Land erreichen. Er beschäftige sich gerade mit so etwas, mit Leuchtsignalen. Mit Leuchtbomben. Mit Leuchtspurmunition. Er beschäftige sich »theoretisch« damit, hat er gesagt und dann schallend gelacht.

Neinnein, sagte Laura besänftigend, du wirst deine Taube ausschicken.

Zuerst den Raben, korrigierte sie der Vater, dann erst die Taube.

Entschuldige! sagte sie. Es ist lange her, daß ich die Bibel in der Hand hatte.

Vermutlich will Wilhelm gar nicht mitkommen, sagte der Vater traurig.

Weshalb?

Weil er sich jetzt mit diesen anderen Sachen beschäftigt. Verstehst du, wenn sich ein Feuerwerker mit so etwas beschäftigt, dann will er es auch ausprobieren. Und wenn er es ausprobiert, will er es auch anwenden. Bei der Feuerwerkerei gibt’s kein »theoretisch«. Man hat eine Idee, macht dann eine Rezeptur, holt sich die Sachen zusammen, und dann experimentiert man. Man will wissen, ob es funktioniert. Man probiert es aus, ob man will oder nicht. Das eine zieht das andere nach sich.

Sie überlegte, was an der Sache wahr sein könnte. Immerhin hatte sie Wilhelm lange nicht mehr gesehen.

Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen, Vater, sagte sie, um ihn zu beruhigen.

Auf diese Art und Weise bereitet man Kriege vor, erwiderte der Vater erregt. Leuchtsignale! Mein Gott, Leuchtsignale! Keine Sonnen, keine Blumen, keine Sterne. Aber Leuchtsignale!

Die Schwester streckte den Kopf zur Tür herein, sagte, man wolle mit den Patienten die Weihnachtsfeier proben, die Besucher müßten jetzt gehen.

Der Vater starrte die Schwester zornig an und wies sie aus dem Zimmer.

Verstehst du, sie macht ständig alles kaputt, kommt immer im falschen Augenblick, will immer Dinge, die ich nicht will. Hier! Er holte die Bibel vom Nachttisch und drückte sie Laura in die Hand. Lies es mir vor! befahl er dann. Der Zettel steckt schon an der richtigen Stelle.

Sie öffnete die Bibel. Der Vater setzte sich in den Lehnstuhl, von dem er vorsichtig eines seiner Archemodelle entfernt hatte, und schloß die Augen. Sein Atem wurde ruhig, während sie las: »Am siebenzehnten Tage des siebenten Monats ließ sich der Kasten nieder auf das Gebirge Ararat...« Sie las den Absatz zu Ende, der Vater schien zu schlafen. Sie öffnete leise die Tür und ging hinaus auf den Flur. Irgendwo übten Kinder ein Weihnachtslied, jemand spielte dazu stümperhaft Klavier. Schwestern liefen geschäftig durch die Gänge, es roch nach Weihnachtsbäckerei.

Kurz vor dem Ausgang holte sie die Schwester, mit der sie zuvor gesprochen hatte, ein. Sie haben Ihr Schiff vergessen, sagte sie. Er will, daß Sie es immer bei sich tragen.

Laura nickte, legte das papierene Kunstwerk sorgfältig in ihre Tasche und sagte: Es ist kein Schiff. Es ist eine Arche.

Die Kinder sangen inzwischen laut und fröhlich: »Tochter Zion, freu-heu-heu-heu-heuje dich!«