Turbulenzen

Du siehst nicht eben gut aus, sagte Wilhelm, der auf der Bank vor der Praxis saß, und betrachtete kopfschüttelnd seine Schwester, die soeben den Gartenweg entlanghastete.

Ich weiß, sagte Laura müde. Ich kam an einer Unfallstelle vorbei und habe geholfen. Wir mußten den Fahrer aus dem Automobil ziehen, bevor es brannte. Naja, meinen Rock kann ich wohl vergessen, fügte sie dann hinzu und schaute an sich hinunter.

Wilhelm nickte. Es sieht so aus.

Auf dieser Bank sitzen sonst immer Mütter mit ihren Kindern, wenn sie ein Problem haben. Hast du auch eines?

Vielleicht, sagte Wilhelm, es komme darauf an.

Willst du hereinkommen? fragte Laura zögernd, da sie das Gefühl hatte, Wilhelm wolle etwas mit ihr besprechen.

Wenn du erlaubst, gerne. Wilhelm ging hinter ihr durch die Tür.

Laura stellte ihre Arzttasche im Sprechzimmer auf den Boden und ging an das Waschbecken, um sich die Hände zu reinigen. Kann ich mich vorher umziehen?

Vielleicht bekommst du gleich einen neuen Patienten, möglicherweise.

Laura zuckte zusammen. Ist etwas mit Edmund?

Neinnein, sagte Wilhelm, sichtlich verärgert. Aber Fränzi hat die Krätze. Zumindest glaubt Flora es.

Die Krätze? Laura runzelte die Stirn. Versteh’ ich nicht ganz.

Mit wem hat er denn gespielt?

Mit Edmund, sagte Wilhelm mit unterdrückter Stimme.

Laura trocknete sich sorgfältig die Hände ab. Ach so, ich hätte es mir ja denken können, sagte sie dann, sind wir also wieder beim gleichen Thema? Wenn dein Sohn die Krätze hat, dann hat er sie woanders her, Edmund hat keine Krätze.

Wo soll er sie sonst her haben? sagte Wilhelm erregt. Fränzi spielt mit keinen Kindern, die wir nicht kennen.

Als ob nicht auch Kinder, die wir kennen, irgendeine Krankheit haben können, die uns nicht gefällt. Laura hängte das Handtuch an den Haken und schob ihre Haarnadel fester ins Haar. Du kannst mir deinen Sohn gerne bringen, aber ich bin sicher ...

Flora hat ihn bereits zu unserem Hausarzt gebracht, sagte Wilhelm leicht verlegen. Du warst nicht zu erreichen. Manchmal kommst du ja erst spät in der Nacht.

Ob sie Residenzpflicht habe, fragte Laura mit erhobener Stimme, oder ob sie gar Weggang und Rückkehr mitteilen müsse.

Flora sagt, so nach und nach bekommen wir hier alle Krankheiten, die sie in Moabit, Kreuzberg und Wedding haben, sagte Wilhelm. Mumps, Windpocken und Röteln. Den Scharlachverdacht haben wir schon hinter uns. Sie fragt sich im Ernst, ob uns als nächstes die Schwindsucht droht.

Da fragt sie sich umsonst. Leute mit solchen Villen, mit all dem Komfort und diesen Gärten, in denen wohlgenährte Kinder herumtoben können, bekommen keine Schwindsucht. Normalerweise zumindest. Und falls es dich interessiert: Im vornehmen Tiergartenviertel betrug vor einigen Jahren die Säuglingssterblichkeit fünf komma zwei Prozent, in Wedding dagegen zweiundvierzig Prozent.

Wenn du von Anfang an gewußt hast, daß du deine Patienten überwiegend in solchen Stadtteilen haben wirst, ereiferte sich Wilhelm, dann wäre es, meinen Flora und ich, sicher sinnvoller gewesen, auch gleich dort deine Praxis aufzumachen.

Möchtet ihr gern einen anderen Mieter?

So habe er das nicht gemeint, lenkte Wilhelm ein, ganz gewiß nicht. Aber Flora habe sich nun mal aufgeregt. Diese Milben könnten die ganze Familie befallen.

Auch Flora hat als Kind die Krätze gehabt, sagte Laura scharf, sie hat es mir selbst erzählt. Ich denke, sie sollte Verständnis dafür haben, daß es noch ein paar Leute in Berlin gibt, die unter anderen sanitären Bedingungen leben als in Dahlem.

Sie ärgert sich auch, daß du ihr in die Erziehung von Anton hineinreden willst, setzte Wilhelm die Anklage fort.

Wie bitte?

So hat sie es neulich gesagt, verteidigte sich Wilhelm. Es sei albern, sich wegen diesem antisemitischen Buch aufzuregen. Hat Flora dir etwa auch gesagt, du sollst zu mir kommen und mir das alles erzählen?

Gewiß nicht, sagte Wilhelm rasch. Sie habe nur ab und an mal mit ihm darüber geredet. Besorgt.

Besorgt?

Ja, besorgt, sagte Wilhelm mit Nachdruck.

Laura schaute ihn an. Ist das jetzt alles, was euch an mir stört?

Wenn bei dir niemand da ist, klingeln die Leute ständig bei uns, sagte Wilhelm nach einer Pause, auch an Feiertagen.

Laura begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. Komm morgen wieder, Bruderherz! Ich bin jetzt einfach ganz verflixt müde, sagte sie lächelnd.

Sie hatte nach Wilhelms Weggang versucht, dieses Gespräch zu vergessen, war unter die Dusche gegangen, hatte sich früh zu Bett gelegt, aber es gelang ihr weder an diesem Abend noch während der folgenden Tage, von dieser Auseinandersetzung loszukommen. Sie fragte sich, weshalb Flora für ihre Vorwürfe gerade auf jenes Buch gekommen war, mit dem die Großmutter bei ihrem Besuch Anton überrascht hatte, auf diesen Antisemitenkatechismus. Sie erinnerte sich genau, Flora am nächsten Tag darauf angesprochen zu haben, daß dies nicht unbedingt ein Buch für Kinder sei, auch wenn es bisher in vierundzwanzig Auflagen erschienen sei.

Ah ja, dieser Antisemitenkatechismus, hatte Flora mit gerunzelter Stirn gesagt. Anton hat ihn von einem Klassenkameraden ausgeliehen. Dabei steht das Buch auch bei meinem Vater im Büro neben etlichen anderen mit ähnlichem Inhalt: den antisemitischen Schriften des Hofpredigers Adolf Stökker, den Werken Heinrich von Treitschkes und Wilhelm Mars und den seltsamen rassenideologischen Ideen von Graf Gobineau und Houston Chamberlain. Flora lächelte entschuldigend. Weißt du, es gefällt ihm nun einmal, wenn ein Mann wie Paul de Lagarde über die Juden sagt: »Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet«, sie seien ein »wucherndes Ungeziefer«. Ich hab’ das behalten, weil er es uns als Kinder immer hat nachsagen lassen.

Das kann ich nicht glauben, hatte Laura fassungslos erwidert.

Weshalb sollte ich lügen?

Und wieso hat dein Vater diese Bücher im Büro und nicht bei sich zu Hause?

Nun, weil er der Meinung ist, daß diese Art von Literatur von möglichst vielen Menschen gelesen werden soll. Er leiht sie aus, an seine Angestellten, auch an seine Arbeiter.

Das ist ungeheuerlich, hatte Laura gesagt. Am Ende wird auch noch der bevorzugt, der in dieser privaten antisemitischen Bibliothek Bücher ausleiht?

So ist es. Flora hatte genickt. Wenn einer weiterkommen will, spielt bei meinem Vater die politische Gesinnung eine Rolle. Eine Gesinnung, die manches Schlitzohr ihm auch nur vorspiegelt. Man kann auch Bücher ausleihen, ohne sie zu lesen.

Ich versteh’s einfach nicht.

Schau mich nicht so an! Es ist nicht meine Bibliothek, und er ist ein erwachsener Mann. Ich kann’s ihm nicht ausreden, was er lesen will und wovon er will, daß es gelesen wird.

Er indoktriniert seine Untergebenen.

Nein, das tut er nicht, hatte sich Flora gewehrt. Jeder Mensch hat doch einen freien Willen, nicht wahr? Und ich hoffe, daß du dich weiterhin mit ihm an einen Tisch setzt, wenn er zu Besuch kommt.

Der andere Vorwurf ihres Bruders traf Laura härter. Sie war sich darüber im klaren, daß Moabit, Kreuzberg und Wedding inzwischen zu Reizworten für ihn und Flora geworden waren. Und manchmal hatte sie sogar das Gefühl, sie verdächtigten sie, daß sie auch Zuhälter, Nutten und Kriminelle in ihrer Praxis behandelte. Und dies vielleicht sogar noch außerhalb ihrer Sprechzeit, wie Flora jedesmal mit Mißbilligung sagte und hinzufügte, sie frage sich, ob sich diese restlose Hingabe an diesen Beruf auszahle.

Was Flora mit »auszahlen« meinte, schien klar. Daß Laura Menschen half, die nicht das Geld hatten, um mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, und klaglos den weiten Weg auf sich nahmen, wenn sie jemanden finden konnten, der für sie da war, schien Flora nicht begreifen zu wollen. Und Wilhelm hatte angedeutet, er sei ganz sicher, daß Laura sich keine Gedanken darüber mache, wie sie bei dieser Geschäftsführung ihren Kredit abzahlen wolle. Und als sie bissig darauf erwidert hatte, wenn sie so sehr zum Störenfried in der Familie geworden sei, dann sei es besser, sie ziehe aus, hatte sich Wilhelm entschuldigt. Aber die Spannung war geblieben, und wenn Flora abends mißbilligend auf die geschwollenen Beine der Schwägerin schaute, wußte Laura, daß die Sorge nicht ganz unberechtigt war. Sie fühlte sich alleingelassen mit ihren Problemen, nicht nur mit den medizinischen, sondern auch mit den privaten. Und sie litt nach wie vor darunter, daß ihr ganz offensichtlich noch immer der Makel anhing, eine Frau zu sein. Noch waren die Kinder aus Dahlem in der Minderzahl, denn offenbar konnten es sich die Wohlhabenden leisten, mißtrauisch gegenüber einer Ärztin zu sein.

Laura kam von einem Krankenbesuch und sah Onkel Heinz wie üblich vor seinem Stammlokal sitzen, dem »Café Bauer«. Sie tat, als habe sie ihn nicht gesehen, und beschleunigte ihre Schritte, auch wenn sie sich schäbig dabei vorkam. Aber nach dem, was sie heute bereits alles erlebt hatte, verspürte sie wenig Lust auf ein Gespräch, das sie vermutlich in jedem Fall deprimiert zurücklassen würde. Dies um so mehr, als sie sich seit Edmunds Geburt nicht mehr gesehen hatten.

Sie hatte das Café schon fast hinter sich gelassen, als Onkel Heinz sie erkannte und aufsprang. Wie schön, dich zu sehen! sagte er und stockte dann. Du siehst gut aus. Er stockte wieder. Weißt du, ich wußte nicht ...

Sie lachte und sagte: Jaja, du wußtest nicht, was du von mir halten sollst, nachdem Tante Minchen sich bereits Vorwürfe gemacht hatte, was an ihrer Erziehung denn falsch gewesen sei. Fragst du dich das etwa auch?

Um Himmels willen! Heinz warf die Arme in die Luft. Ich war lediglich unsicher, ob ich schreiben sollte oder anrufen. Aber das Telephon ist wohl doch der falsche Weg, dachte ich mir, und Viktor ist schließlich ...

Laura legte ihm die Hand auf den Arm. Gibt dir keine Mühe! Ich brauche weder Mitleid noch sonstwas. Ich habe dieses Kind gewollt.

Onkel Heinz starrte sie sprachlos an. Laura setzte sich und bestellte, als die Kellnerin an den Tisch kam, eine russische Schokolade.

Du meinst also, wenn ich dich recht verstanden habe, dann war das ... Es war kein Versehen?

Nein, kein Versehen, sagte Laura amüsiert. Und wenn jetzt Anita Augspurg, Helene Lange oder Helene Stöcker hier am Tisch säßen, könntest du einer Ohrfeige gewiß sein – einer geistigen selbstverständlich.

Onkel Heinz zündete sich eine Pfeife an. Sie brannte nicht sofort, was ihm Zeit ließ, sich wieder zu fassen. Als die Pfeife schließlich zog, hatte er sich so weit in der Gewalt, daß er aufatmend sagen konnte: Wenn ich das gewußt hätte, wär ich längst vorbeigekommen. Er lese ab und zu über sie in der Zeitung, sagte er dann.

Du liest vermutlich, daß ich eine tüchtige Seuchenärztin bin, spottete Laura. Wilhelm und seine Frau hätten ihr so etwas erzählt.

Ob sie das nicht freue, fragte Heinz irritiert.

Mich schon, die beiden nicht. Die fürchten sich neuerdings vor Schwindsucht, Mumps, Cholera und Pest. Und den Windpocken, die sie allerdings wirklich ins Haus geschleppt habe, das gebe sie zu.

Aber das sei doch selbstverständlich, daß man als Kinderärztin mit diesen Krankheiten in Kontakt komme, und wenn man seiner kleinen Schwester seinerzeit dieses Diphtherieserum gegeben hätte, dann würde sie sicher noch leben.

Sie unterhielten sich über Lauras Arbeit, sie berichtete von ihren Krankenbesuchen in Moabit und Wedding. Dann fragte sie Heinz nach der Schule. Seine Miene wurde starr, verschloß sich. Da gäbe es nicht viel zu erzählen.

Und, was gibt es dann zu verschweigen?

Da seien neue Kollegen gekommen, stieß Heinz nach einer kurzen Pause hervor, weißt du, so Hundertprozentige. Sie werfen mir vor, daß ich zu lasch bin, was unser Vaterland betrifft. Bei der Sedanfeier hätten meine Schüler den Choral schlampig gesungen, an des Kaisers Geburtstag seien in meiner Klasse zu wenig Fähnchen aufgesteckt gewesen, und bei der Gedenkstunde zur Völkerschlacht von Leipzig hätten von meinen Schülern fünf unentschuldigt gefehlt. Und weshalb ausgerechnet ich als erfahrener Lehrer es nicht schaffe, daß zumindest einige meiner Schüler mit Matrosenanzügen zum Unterricht kämen. Im übrigen mache ich zu allem, was das Vaterland anbetreffe, spöttische Bemerkungen. Ich sei ein Defätist und sehe Deutschland ständig in irgendwelche unheilvolle Kriege verwickelt.

Siehst du nicht manche Dinge wirklich zu schwarz? fragte Laura.

Du meinst meine Sorge, daß es Krieg geben könnte?

Ja, sicher.

Und wo, bitte, soll dieses entsetzliche Wettrüsten hinführen, wenn nicht in einen Krieg? Meinst du, dein Bruder produziert diese ganze Leuchtmunition nur zum Jux? Und deine Schwägerin, diese so geschäftstüchtige Frau, würde sie auch nur einen Pfennig in etwas investieren, was nicht zum Erfolg führt? Aber dieser Erfolg ist für diese Leute nun mal der Krieg. Er durchzieht doch bereits unser ganzes Leben.

Du übertreibst, sagte Laura. Bloß weil der Flottenverein und die Alldeutschen so aktiv sind, kann man doch nicht sagen, daß es Krieg gibt.

Doch nicht wegen dem Flottenverein allein. Aber fest steht doch, daß dieser Verein es seit seiner Gründung geschafft hat, ganze Heerscharen von Leuten auf sich einzustimmen. Leute, die nie in ihrem Leben auch nur irgendeinen Gedanken an ein Schiff verschwendet haben, glauben plötzlich, sie gehörten auch noch mit achtzig zu »unseren blauen Jungs«. Und dieser Tirpitz, dessen Name du als Kind so bewundernswert perfekt aussprechen konntest – schau dir an, zu was er es gebracht hat, und vor allem, welchen Einfluß er auf unseren Kaiser inzwischen hat! Auf den Wogen dieser Flottenbegeisterung spielt er virtuos aus, was er dem Kaiser verkaufen will: Ruhm, Ehre, Größe – Deutschland, die allergrößte Nation mit einer Schlachtflotte, vor der die Feinde winseln.

Damals, als er noch an der Entwicklung der Torpedos arbeitete, sagte Laura, hat kaum einer gedacht, daß dies eine Waffe sein würde, die wirklich einsetzbar ist. Man hat ihn nicht ernst genommen.

Mag sein, aber als ihn der Kaiser zum Leiter des Marineamtes ernannte – und das war bereits vor der Jahrhundertwende –, konnte Tirpitz bereits in die vollen gehn. Und da er so etwas wie den Flottenverein nicht gut selber gründen konnte, wurde er von den Leuten gegründet, die hinter dem Kaiser und Tirpitz standen und die das Geld dazu hatten, der Kanonenkönig Alfred Krupp war selbstverständlich dabei. Und alle rennen nun dorthin – jung und alt, vom Lehrling bis zum Professor. Und die Kinder lockt er über diese Matrosenanzüge. Und um diese Kinder mache ich mir die meisten Sorgen, sagte Onkel Heinz zum Schluß. Sie wachsen in diese Welt hinein, werden von ihr eingefangen, ohne überhaupt zu spüren, daß sie nicht in lichte Höhen geführt werden, sondern in einen dumpfen Sumpf rutschen.

Weißt du, sagte Laura vorsichtig, um Heinz nicht zu verletzen, du siehst das vielleicht ein bißchen zu schwarz. Die Kinder, mit denen ich Tag für Tag umgehe, schauen nicht so aus, als würden sie auf dergleichen hereinfallen.

Nun ja, dann bin ich eben ein Schwarzseher, sagte Onkel Heinz ergeben und rief abrupt die Bedienung, um zu zahlen.

Genau drei Tage später wußte Laura, daß sie Onkel Heinz unrecht getan hatte.

Sie kam am Samstag nachmittag von einem Hausbesuch zurück, früher als sonst, und sie freute sich auf eine ruhige Stunde mit Edmund oder mit einem Buch im Garten. Sie zog sich um, mußte allerdings schnell feststellen, daß der Garten zu dieser Stunde nicht ihr gehören würde, sondern daß sie hier nichts weiter war als ein lästiger Störenfried.

Jeder Schuß, ein Ruß, jeder Stoß, ein Franzos, und Serbien muß sterbien! erscholl es im Chor, als würden Schüler in der Schule gemeinsam ein Gedicht lernen.

Sie ging verblüfft hinaus, schaute zu dem einstigen Rosenpavillon hinüber, wo die Liegestühle standen, und dachte zunächst, daß Anton mit gleichaltrigen Freunden wieder einmal ein Kriegsspiel inszenierte. Aber dann stellte sie fest, daß seine Armee aus Theodor, Fränzi und Hildegard, einem Kind aus der Nachbarschaft bestand. Hildegard darf mitspielen, wenn sie Süßigkeiten mitbringt oder Geschenke, hatte Theodor einmal beim Essen verraten und dafür unter dem Tisch einen heftigen Fußtritt von Anton einstecken müssen.

Die »Armee« marschierte soeben auf drei lebensgroße Pappfiguren zu, die mit den entsprechenden Uniformen – Russen, Franzosen, Serben – bemalt waren. Wenn man exakt auf die Herzgegend zielte und mit seinem Geschoß traf, löste sich auf der Rückseite der Figur eine Verankerung, und sie stürzte auf den Boden, was die Kinder jedesmal mit einem ohrenbetäubenden Geschrei begrüßten. Laura hatte, als sie dieses Spiel zum erstenmal vom Fenster aus verfolgte, dem Kindermädchen verboten, daß Edmund daran teilnehmen durfte. Sie hatte sich auch dann noch gesträubt, als Flora sie davor warnte, ihren Sohn zu einem Einzelkind zu erziehen. Das Verbotene reize am meisten, sagte Flora. Und letztendlich sei es egal, ob die Kinder Räuber und Gendarm spielten, Indianerüberfälle oder einen realistischen Krieg, wie er heute stattfinden könne. Und wie sie das Verbot überhaupt überwachen wolle, da sie doch selten hier sei. Ein Argument, dem Laura nichts entgegenzusetzen hatte.

An diesem Nachmittag war klar, daß ihr Verbot überschritten wurde. Sie entdeckte Edmund, als Anton ihn rüde anbrüllte, weil er zu langsam marschierte. Die Rüge bezog das Kindermädchen mit ein, das versäume, Edmund zu einer rascheren Gangart anzutreiben. Jedes der Kinder, aber auch das Kindermädchen, hatte ein Gewehr, die Jungen trugen am Koppel Patronentaschen.

Das Gewehr üüüber! tönte inzwischen das schneidende Kommando Antons, und dann, alle zuckten zusammen, bereits der nächste Befehl: Pflaaaanzt auf das Bajonett!

Laura blieb stehen, unfähig, sich zu rühren, als sie sah, mit welcher Geschwindigkeit die drei Älteren das Bajonett aufpflanzten. Trotzdem waren sie in den Augen Antons zu langsam: Nun, meine Herren, mit dieser Geschwindigkeit brauchen Sie zehn Jahre, bis Sie Paris erobern können, rief Anton mit Hohn in der Stimme und blickte dabei Hildegard und Fränzi scharf an. Und der Rekrut – das war offensichtlich Edmund – könne sich ohne weiteres bei dem Herrn Leutnant – Theodor – eine Scheibe abschneiden, was Geschwindigkeit betreffe.

Die nächsten Kommandos gingen in ohrenbetäubendem Geschrei unter, weil Fränzi inzwischen der Meinung war, nun sei es an der Zeit zu wechseln, jetzt sei er General und Anton habe zu dienen. Da Theodor seinen Bruder bei diesem Wunsch unterstützte, Edmund dazwischenschrie und versuchte, Anton das Gewehr zu entreißen, hielt Laura es für geboten, endlich einzugreifen. Sie ging forschen Schrittes auf die Gruppe zu, was ein allgemeines entnervtes Gestöhne hervorrief. Edmund, zisch ab! rief Anton zornig. Du mußt schon wieder aufs Töpfchen, was Edmund zu einem solchen Schreikrampf veranlaßte, daß selbst Flora aus ihrem Wintergarten herbeieilte.

Also weißt du! sagte sie vorwurfsvoll. Die spielen hier schon seit einer Stunde ohne Streit, aber kaum tauchst du auf, gibt es ein Riesengebrüll. Was war denn?

Laura bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren, und sagte ruhig, sie wolle sich gewiß nicht mehr in die Erziehung Antons einmischen, aber Edmund habe bei diesem Spiel nichts zu suchen.

Sie verstehe das wirklich nicht, grübelte Flora. Weshalb nimmst du ihnen die Freude am Spiel und machst alles kaputt?

Sie glaube kaum, daß Antons Einfluß auf die Kinder ein guter sei, sagte Laura zornig, und sie wolle nicht, daß Edmund diesem Einfluß unterliege.

Mein Gott, Laura! Du tust, als handle es sich um einen Gewaltverbrecher, so schlimm ist Anton nun wirklich nicht. Wir waren als Kinder auch keine Engel!

Sage ihm bitte, daß ich ihm verbiete, von Edmund idiotische Mutproben zu verlangen, erhitzte sich Laura. Ich mag es nicht, wenn mein Sohn nachts schreiend aufwacht und wimmernd fragt, ob er jetzt den Kopf aus der Höhle tun dürfe, ob er mutig genug gewesen sei. Und sage ihm auch, daß Edmund das im Schlaf gesagt hat, bei vollem Bewußtsein hätte er sich ihm gewiß nicht widersetzt, weil Anton entsetzliche Strafen angedroht hat, wenn einer auch nur das geringste verrate von diesen Spielen. Er hat ihn schwören lassen, verstehst du? Ein Zwölfjähriger läßt einen Zweieinhalbjährigen schwören, daß er nichts verrät, falls er es doch tut, stellt er ihm die Hölle vor Augen.

Flora nickte kurz. Sie wolle klären, sagte sie, ob das stimme und nicht etwa Edmund gelogen habe.

Den nächsten Zwischenfall gab es zwei Tage später. Flora hatte inzwischen zugegeben, daß sie eine ganze Menge von dem, was Anton tat, auch nicht gut fand. Sie habe mit Anton ernsthaft geredet, sagte sie, was vermutlich bedeutete, daß der Junge von Wilhelm ziemliche Schläge bekommen hatte. Es war bei einem Mittagessen, an dem Floras Vater teilnahm, und Laura, was selten genug der Fall war, keinen Hausbesuch oder dergleichen als Vorwand für ihr Fernbleiben vorbringen konnte.

Noch ehe der Nachtisch aufgetragen wurde, sagte Anton mit schneidender Stimme: Nun, meine Herren! Er klopfte auf den Tisch und schaute dann auffordernd zu Theodor hinüber. Nun?

Theodor stieß seinen Zeigefinger in Richtung Fränzi und rief: Jetzt Zwischenruf!

Sozischwein! brüllte Fränzi und drohte mit seiner Gabel.

Vaterlandslose Gesellen, schrie Theodor zurück. Dann steigerten sich die Ausdrücke, bis Laura schockiert den Löffel auf den Teller fallen ließ, was der Großvater der Sprößlinge mit dröhnendem Gelächter quittierte.

Die werden richtig, deine Söhne, sagte er lachend zu Flora, die werden goldrichtig.

Was soll dieses alberne Spiel? wollte Laura später wissen, als der Tisch abgeräumt war und die Jungen das Zimmer verlassen hatten.

Sie spielen Reichstag, sagte Flora amüsiert. Es ist ihr liebstes Spiel. Und es sei gewiß harmlos. Es schlägt sich dabei zumindest niemand das Knie auf oder hat anschließend eine Beule am Kopf.

Laura schaute sie ungläubig an. Sie spielen was?

Reichstag.

Und woher wollen diese Knirpse wissen, was im Reichstag geschieht?

Der Vater eines Klassenkameraden von Anton ist Reichstagsmitglied. Er scheint, wie das so üblich ist, zu Hause über die Sitzungen zu berichten. Da schnappen die Kinder eben dies und das auf. Und da Anton ohnehin eine gefährliche Neigung zu Schimpfwörtern hat, die ich ihm bisher nicht abgewöhnen konnte, ist er absolut in seinem Element, wenn es um despektierliche Ausdrücke der Abgeordneten geht, die er dann noch aus seinem eigenen Repertoire ergänzt.

Das sei ganz und gar unmöglich, ereiferte sich Laura, daß es im Reichstag so zugehe.

Ah ja, meinte Flora, bist du da so sicher? Woher weißt du das?

Laura zögerte. Nun, sie informiere sich.

Flora lachte. Jaja, du informierst dich. Ich möchte wissen, wann du zum letztenmal eine Tageszeitung gelesen hast.

Sie habe sich zu informieren, was es auf dem Gebiet der Medizin Neues gebe, damit sei sie genug beschäftigt, sagte Laura lasch.

Du bist immer beschäftigt. Du solltest dir einige Tage Ruhe gönnen, erwiderte Flora. Eine Pause machen. Seit du wieder hier bist, hast du nicht einen einzigen Tag nichts getan.

Laura lachte auf. Eine Pause? Wie denn? Neulich hat mir dein Mann bereits vorgeworfen, daß ich mir wohl keine Gedanken darüber mache, wie ich meinen Kredit abzahlen könne.

Für den Kredit habe ich gebürgt, sagte Flora. Und Laura solle sich nicht von ihrem Bruder verrückt machen lassen.

Du? fragte Laura mißtrauisch. Ich dachte, ihr wolltet es gemeinsam tun?

Ja, zunächst. Aber dann dachte ich, es ist besser, wenn wir Frauen das unter uns erledigen. Und im übrigen sei das auch völlig egal. Weißt du, was, neulich dachte ich, daß es sicher gut für dich wäre, abends einmal auszugehen. Was hast du schon von deinem Leben? Morgens Sprechstunde, dann Krankenbesuche, dann nochmals Abendsprechstunde und dazu einen Sohn, der manchmal sicher gar nicht mehr weiß, wie seine Mutter aussieht.

Nein, Flora, sagte Laura abwehrend, nicht wieder die Geschichte, ich soll den Vater des Kindes benachrichtigen und so!

Das habe sie auch gar nicht gemeint, sagte Flora, aber abgesehen davon, könne sie schließlich doch auch einmal ausgehen. Schau dich an! Schau in den Spiegel! Bald wirst du Krähenfüße um deine Augen herum haben.

Krähenfüße?

Ja, Krähenfüße. Sie wisse schon, daß sie welche habe, fuhr sie fort, als Laura sie prüfend ansah, aber sie sei ja auch vier Jahre älter. Sie gehe heute abend übrigens mit einem Prokuristen, der neu bei ihnen eingetreten sei, in einen Vortrag. Der Mann kenne die Stadt nicht und habe sie gefragt, ob sie niemanden kenne, der ihm Berlin zeigen könne.

Berlin zeigen? Weshalb nimmt er sich keinen Fremdenführer?

Laura, dieser Mann will mit einer netten Frau abends einmal ausgehen, sagte Flora. Er will nicht wissen, wann die erste Pferdebahn von Charlottenburg zum Kupfergraben fuhr, wann der Dampfverkehr auf der Spree begann oder wann in Berlin der Zunftzwang beseitigt wurde. Er ist ein Mann, falls du überhaupt noch weißt, was das ist.

Laura lachte. Neulich habe sie ein Dompteur dieses Zirkus, bei dem sie nun quasi Hausärztin sei, eingeladen, und der habe auch von sich gesagt, daß er ein Mann sei, der Berlin nicht kenne. Ihr aber sei’s egal, ob einer ihr seine Käfersammlung zeigen wolle oder seine Schallplatten oder ob er Berlin nicht kenne. Sie sei abends müde.

Leb wohl, Schwägerin! verabschiedete sich Flora fröhlich. Eines Tages bist du alt und merkst es nicht mal. Und dann wirst du alles nachholen wollen, was du früher versäumt hast.

Laura stand vor dem Spiegel und betrachtete sich. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt, weil sie fand, daß sie dies besser kleidete als der Knoten. Dann löste sie die Haare wieder und sagte kopfschüttelnd: Naja, so wohl auch nicht. Sie spannte die Haut seitlich der Augen, ließ sie wieder zusammenrutschen, spannte sie von neuem, zwinkerte sich zu und streckte sich schließlich die Zunge heraus.

Aber immerhin ließ sie sich einige Tage später von Floras neuem Prokuristen zum Abendessen einladen. Essen, hatte sie betont, nicht tanzen, nicht ins Varieté, nicht ins Theater. Nur Essen.

Aber gewiß doch, Gnädigste, hatte Harald Bremer erwidert. Er halte sich genau an das, was sie ihm zugestehe.

Also gingen sie miteinander essen und unterhielten sich über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet des Gewehrbaus. Bremer bestritt dieses Gespräch solo, so daß sie ihren eigenen Gedanken nachhängen und sich überlegen konnte, wie sie den morgigen Tag am besten einteilen würde. Anschließend brachte er sie mit seinem Automobil, einem soliden und keinesfalls schnellen Wagen, wie sie es ausgemacht hatten, nach Hause. Er verabschiedete sich kurz und küßte ihr die Hand. Dann stieg er wieder ein und fuhr davon.

Laura verspürte eine leichte Enttäuschung, für die sie keine Erklärung fand. Sie stellte sich vor ihren Spiegel, betrachtete sich, den neuen Hut, den sie extra für diesen Abend gekauft hatte, und das elegante Seidenkostüm. Beim Zähneputzen fand sie sich schließlich vor die ernsthafte Frage gestellt, was sie wohl falsch gemacht hatte, weil sie nicht geküßt worden war, wie dies vermutlich nach solch einem anspruchslosen Abend überall auf der Welt der Fall gewesen wäre.

Die nächsten Tage waren so mit Arbeit ausgefüllt, daß sie kaum Zeit hatte, über ihr »tiefschürfendes Problem«, wie sie sich selber verspottete, nachzudenken. Dann kam das Wochenende, und Harald Bremer lud sie ein zweites Mal zum Essen ein. Du wirst diesmal ein paar Grad zugeben, befahl sie sich, eine Spur intimer sein, eine hauchdünne Spur zumindest, und dann werden wir ja sehen, wie der Abend endet.

Aber der Abend endete nicht anders als der erste.

Sie stellte sich abermals vor den Spiegel, diesmal kritischer, und sie entdeckte neben dem rechten Auge einen winzigen Krähenfuß, den sie bisher noch nie wahrgenommen hatte. Sie zerrte die Haut hin und her, versuchte, die Falten durch Grimassen zu vertreiben, aber der Krähenfuß tat ihr diesen Gefallen nicht. Im Gegenteil, nach dieser ausgiebigen Mißhandlung wirkte er wie ein roter Pfad in einem unwegsamen Gelände.

Sie ging in das Kinderzimmer, deckte Edmund, der sich losgestrampelt hatte, zu und ging dann zu Bett. Sie nahm ein Buch zur Hand, versicherte sich, daß sie noch nicht müde war und lesen wollte, aber sie wußte, daß sie sich belog. Sie war müde, und sie wollte auch keinesfalls lesen. Sie wollte wissen, was mit ihr passiert war. Seit Heidelberg war sie, bis sie Harald Bremers Einladung gefolgt war, mit keinem Mann mehr ausgegangen. Seit sie mit Viktor zusammengewesen war, korrigierte sie sich, hatte sie keinen anderen Mann mehr für erstrebenswert gehalten.

Du hast ein Kind, einen Beruf, eine Wohnung – das genügt, sagte sie sich und schloß die Augen. Aber nach einigen Minuten stellte sie fest, daß die geschlossenen Augen ihre Gedanken keinesfalls davon abhielten, weiter einen wilden Reigen zu tanzen. Und was ist, wenn er nie mehr zurückkommt?

Sie seufzte. Wenn er tot wäre, sagte sie sich, wüßte ich es.

Und er kommt zurück.

Und was, wenn er inzwischen verheiratet ist? forderten ihre Gedanken sie zu weiteren Grübeleien auf.

Er ist nicht verheiratet, sagte sie sich. Wen sollte er denn heiraten, wenn er jeden Tag bis zu den Ellbogen im Dreck wühlt, um alte Krüge und Schalen aus dem Sand zu buddeln, und am Abend zu müde ist, sein Zelt zu verlassen?

Eine seiner Assistentinnen, antworteten ihre Gedanken hämisch, schließlich gräbt er nicht allein.

Dieser Schlußgedanke ließ sie am anderen Tag in die Bibliothek des archäologischen Institutes gehen und sich dort Berichte über die neuesten Grabungen besorgen. Sie las sich fest in den Mitteilungen der Deutschen Orientgesellschaft, erfuhr, daß man seit dem vergangenen Jahr in Erech im Zweistromland Stufenpyramiden ausgrub. Sie studierte die Ausgrabungsberichte, las über die hundert Schwierigkeiten, angefangen bei den Querelen beim Beschaffen von Zucker, Schilfmatten und Lampen, über den ständigen Hickhack und die Nadelstiche der Behörden bis zu der korrupten Polizei und den Meutereien von Arbeitern, denen der Lohn zu gering und die Arbeit zu hart war. Sie erfuhr auch von Überfällen, Räubern sowie Schießereien und war nach dieser Lektüre nicht eben erleichtert. Von Assistentinnen war allerdings an keiner Stelle die Rede. Aber sie mißtraute diesen Berichten, die nur Männernamen nannten. Vielleicht tauchten die Frauen darin einfach nicht auf, weil sie Frauen waren.

Es war Wilhelm, der sie am Sonntag nachmittag im Garten mit ihrer seltsamen Lektüre entdeckte, sich verwundert über die Zeitschriften und Aufsätze neigte und fragte, was das denn mit Medizin zu tun habe.

Genaugenommen gar nichts, sagte Laura leicht verlegen. Ich wollte nur einmal etwas anderes als Fachzeitungen lesen. Wilhelm schaute sie abwartend an und begann dann zu lächeln. Viktor könne ja auch gerade in der Antarktis sein und dort im ewigen Eis schürfen, sagte er dann.

Laura sprang auf und starrte ihren Bruder an. In der Antarktis? Wieso in der Antarktis?

Wilhelm lachte. Neinnein, es war nur ein Witz. Soviel er wisse, schürfe man im Eis nicht. Sag mal, fuhr er fort, weshalb suchst du eigentlich nicht konkret? Weshalb wendest du dich nicht an irgendeine Stelle und erkundigst dich nach ihm?

Du meinst, ich gehe zur Deutschen Orientgesellschaft oder sonstwohin und forsche nach einem Viktor Berendsen, und wenn mich jemand fragt, weshalb ich das tue, dann sage ich ganz kühl: Wissen Sie, er ist der Vater meines Kindes, und er weiß es bisher nicht.

Du bist ein Schaf, sagte Wilhelm gutmütig. Entweder willst du ihn finden oder nicht. Wenn du aber darauf wartest, daß er dich findet, ohne einen Hinweis zu haben, dann wirst du ihn vermutlich bis zur nächsten Eiszeit nicht treffen. Hier wird er dich auf jeden Fall nicht suchen, alles, was er weiß, ist, daß die Villa längst den Besitzer gewechselt hat.

Er kann sich in Heidelberg erkundigen, sagte Laura hartnäckig, falls er es überhaupt will.

Bei irgendwelchen deiner Kollegen, die längst nicht mehr dort sind?

Dann kann er aufs Polizeirevier gehen oder über ein Adreßbuch oder Telephonbuch gemeinsame Bekannte erreichen. Emanzipation! Stimmrecht! Gütertrennung! zählte Wilhelm an den Fingern auf. Ihr wollt auf der einen Seite die Sterne vom Himmel holen, und auf der anderen Seite wartet ihr auf den Prinzen, der Dornröschen wachküßt.

Wilhelms Worte klangen in Lauras Ohr tagelang nach. Dies um so mehr, als Flora genau einen Tag zuvor gesagt hatte, daß Harald Bremer auf ihre Frage nach dem Abendessen mit ihrer Schwägerin achselzuckend gemeint habe, diese Frau sei kompliziert und so angenehm wie ein Eisberg.

Laura hatte Flora betroffen angestarrt. Eisberg? Hat er wirklich Eisberg gesagt? Sie sei doch durchaus freundlich gewesen und ...

Jaja, unterbrach sie Flora, du hast seine harmlose Einladung zu einem Abendessen so hingestellt, als wolle er dich in ein Etablissement mit zwielichtigen Frauen führen.

Laura wehrte sich. Das habe sie nicht. Sie habe gesagt, nicht Varieté, nicht Theater, nicht Tanz. Nur Essen.

Es hat auf ihn aber ganz offensichtlich so gewirkt.

Du willst mich verkuppeln, sagte Laura abrupt. Gib’s zu!

Laura, sagte Flora beschwörend, erzähle irgend jemandem diese verrückte Geschichte von einem Vater, der auf Forschungsreise ist und nicht weiß, daß er einen Sohn hat! Hör zu, Harald Bremer ist nicht irgendwer, er wird in einiger Zeit in den Aufsichtsrat gewählt werden, und dann ist er ein wichtiger Mann in unseren Firmen.

Laura starrte sie an, dann lachte sie laut. Aha, deswegen, damit der Familienclan wächst und das Geflecht sich verdichtet. Floras Gesicht verschloß sich. Du würdest mich ganz gewiß nicht verspotten, wenn du wirklich alles von mir wüßtest, sagte sie dann zornig und ging zur Tür. Laura lief ihr nach, hielt sie zurück und nahm sie in den Arm. Ich verspotte dich nicht, sagte sie dann ernst. Bitte, glaub mir das! Und wenn du es so sehr willst, gehe ich eben nochmals mit dem zukünftigen Aufsichtsratsmenschen eurer Firmen essen.

Beim nächsten Treffen mit Harald Bremer beschloß Laura, sich und der Welt zu zeigen, daß sie ganz gewiß kein Dornröschen war, das auf den Prinzen wartete. Diesmal wollte sie den Schluß des Abends in die Hand nehmen.

Also wartete sie nicht auf Bremers Handkuß, sondern legte ganz leicht ihre Hand auf seinen Arm, schloß die Augen und hob ihm ihre Lippen entgegen. Als eine Sekunde lang nichts geschah, öffnete sie die Lider wieder, sah das verwunderte Gesicht ihres Begleiters, und dann sah sie nichts mehr. Er preßte sie wie in einem Schraubstock an sich, küßte sie leidenschaftlich und versuchte, seine Zunge mit Gewalt in ihren Mund zu schieben, so daß sie keine Luft mehr bekam. Dann machte er Anstalten, ihr den Haustürschlüssel aus der Hand zu winden. Laura wich verstört zurück, der Schlüssel fiel bei diesem Kampf auf den Boden. Aber ganz offensichtlich hatte Harald Bremer dies lediglich als Ungeschicklichkeit Lauras gewertet. Er bückte sich rasch, achtete weder auf Lauras abwehrende Haltung noch auf ihr entsetztes Gesicht, sondern schloß die Haustür auf mit einem leisen, geschmeidigen: Nach Ihnen, Madame!

Laura schluckte, blieb starr stehen. Bremer lachte und sagte, er trage die Dame auch gerne über die Türschwelle.

Neinnein, wehrte Laura ab, sie habe das nicht so gemeint. Er ließ seine Hände an sich herabsinken und schaute sie ernüchtert an. Nicht so gemeint, wie denn dann?

Nun, Laura zerrte an ihrem Hut, zog die Nadeln heraus und nahm ihn dann in die Hand. Auf jeden Fall nicht so.

Würden Sie mir dann bitte sagen, wie es gemeint war, sagte Harald Bremer steif und trat einen Schritt zurück.

Ich kann nicht, sagte Laura.

Was können Sie nicht?

Ich kann es nicht tun, wiederholte Laura und öffnete die Haustür. Im Dunkeln stieg sie die Treppe hinauf und schloß die Wohnungstür hinter sich, lehnte sich gegen sie und brach dann in Lachen aus.

Sie ging in ihr Bett, diesmal ohne das Ritual des Krähenfüßesuchens zu zelebrieren. Mein Gott, Laura! murmelte sie. Du bist wahrscheinlich wirklich solch ein Schaf, wie dein Bruder behauptet!

Acht Tage später – sie hatte soeben Edmund zum Mittagsschlaf ins Bett gebracht – stand ihr Vater vor der Tür. Laura starrte ihn an. Er lächelte linkisch und sagte, er wolle sie besuchen.

Wie bist du aus dem Sanatorium herausgekommen? fragte sie langsam, um Zeit zu gewinnen.

Der Vater tat erstaunt. Durch die Tür, wie denn sonst? Ob er eintreten dürfe.

Laura nahm ihren Vater in den Arm, zog ihn in die Wohnung. Haben die dich einfach so gehen lassen? fragte sie dann mißtrauisch.

Er habe nicht lange gefragt, sagte er. Er sei ein freier Mensch. Schließlich sei er nicht im Gefängnis, oder?

Laura nickte langsam. Nein, das bist du nicht.

Er sei gekommen, weil er die Villa seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen habe.

Das stimmt, sagte Laura und fragte sich, was eigentlich an ihrem Vater verrückt sein solle. Ein Gespräch wie dieses mit jedem anderen Menschen wäre ihr völlig normal erschienen. Komme ich dir ungelegen? fragte der Vater unsicher.

Nein, gewiß nicht, beeilte sich Laura und fragte sich, was sie sagen sollte, als das Telephon klingelte. Aber es war nicht, wie sie befürchtet hatte, das Sanatorium, sondern eine Mutter, deren Kind Halsschmerzen hatte. Laura fragte nach der Höhe des Fiebers, nach Symptomen und versprach, am Nachmittag vorbeizukommen.

Er wolle noch einmal die Hütten sehen, sagte der Vater, der sichtlich erleichtert dem Telephonat gefolgt war.

Die Hütten? fragte Laura zurück und überlegte, wie sie es anstellen konnte, daß Wilhelm ihr beistand.

Ja, er habe sie so lange nicht mehr gesehen. Und da er bald sterbe, wolle er sie vorher noch einmal sehen. Schließlich habe sich ein Großteil seines Lebens in diesen Hütten abgespielt.

Willst du nicht erst einen Tee trinken, etwas essen? schlug Laura vor.

Später, sagte der Vater entschieden, später. Erst die Hütten. Laura schluckte und sagte: Vielleicht sollten wir lieber Wilhelm holen.

Nein, nicht Wilhelm! sagte der Vater, und sie sah, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Ganz gewiß nicht Wilhelm. Und auch nicht diese ziegenköpfige Frau.

Laura lachte. Diese ziegenköpfige Frau heiße Flora, und sie sei sehr tüchtig.

Ja, sagte der Vater, das wisse er bereits. Und jetzt die Hütten. Die Hütten, in denen man die Sterne mache. Bevor er sterbe, wolle er sehen, wie man sie heute macht.

Laura hatte inzwischen nach dem alten Emil telephoniert, den Wilhelm wieder eingestellt hatte und den ihr Vater bestimmt noch kannte.

Als Emil, der sich über die Maßen freute, den alten Herrn wiederzusehen, kam, ließ sie die beiden allein und eilte in Wilhelms Büro. Wilhelm hatte den Telephonhörer in der Hand und schrie soeben, daß er nicht das viele Geld bezahle, wenn Patienten in diesem teuren Sanatorium einfach verschwinden könnten.

Er ist bei mir, sagte Laura rasch.

Wer?

Nun, Vater, sagte sie und nahm Wilhelm den Hörer aus der Hand, um den Sachverhalt zu klären.

Um Himmels willen, was macht er denn, fragte Wilhelm nahezu tonlos, als Laura auflegte.

Er will die Hütten noch einmal sehen, bevor er stirbt.

Wilhelm starrte sie an, als müsse er seine Schwester zusammen mit seinem Vater in das Irrenheim bringen. Du meinst, du läßt, ich meine, du läßt ihn völlig allein durch die Gegend stapfen?

Doch nicht allein, mit Emil. Und schließlich sei ihr Vater nicht gemeingefährlich. Und wenn er das Gefühl habe, bald sterben zu müssen, dann sei es doch sein gutes Recht, noch einmal alles sehen zu wollen.

Wilhelm stöhnte auf, zog seine Schwester am Arm und rannte mit ihr durch den Garten in die Richtung der Hütten.

Am Abend in seiner Stammkneipe tippte sich der alte Emil an die Stirn. Übergeschnappt seien wohl die anderen, sagte er zu seinen Kollegen, nicht dieser alte, freundliche Chef, dem er begeistert erzählt habe, was sie heute alles herstellten. Und Fragen habe der gestellt, ganz normale Fragen. Keine Sonnen mehr? Nein, keine Sonnen mehr. Auch keine Sterne? Nein, keine Sterne. Was dann? Leuchtraketen, Leuchtmunition, Leuchtfeuer. Wie sie dies anstellen, habe er wissen wollen, und er, Emil, habe es erzählt. Auch die Mischungsverhältnisse, weil der alte Herr es ganz genau habe wissen wollen, der habe nach wie vor seinen Fachverstand. Und er sei leutselig gewesen, dieser alte Chef, leutselig gewiß. Nicht wie der junge, der sich in seiner Hochnäsigkeit, weil er ja nun dank dieser Frau ein reicher Mann geworden sei, an manchen Tagen gar nicht mehr sehen lasse hier und nur noch in dem anderen Werk arbeite. Verrückt seien die Jungen, nicht dieser nette alte Mann, der sich völlig sanftmütig habe in das Auto setzen und in die Klapsmühle zurückbringen lassen. Spielt sich jetzt auf, der junge Herr, als hätte er, Emil, Geheimnisse ausgeplaudert. Ausgerechnet ihm, der den Knirps Wilhelm noch im Matrosenanzug habe herumlaufen sehen, traue man das zu.

War ja wohl ein bißchen Klamauk anschließend bei denen in Dalldorf, sagte einer seiner Kumpel, oder etwa nicht?

Ach was, wehrte Emil ab, Klamauk! Dann lachte er leise vor sich hin. Naja, Klamauk schon.

Das, was Emil als Klamauk in Dalldorf abtat, hatte sich folgendermaßen abgespielt:

Der Anruf kam am Abend, einen Tag nach dem überraschenden Besuch des Vaters, als Laura soeben zu Bett gehen wollte. Sie möchte doch kommen, sagte die Stationsschwester erregt, es sei wegen ihrem Vater.

Laura verkrampfte sich. Was ist mit ihm?

Kein unbedingter Grund zur Aufregung, aber sie möchte trotzdem kommen. Jetzt gleich.

Laura überlegte, ob sie Wilhelm benachrichtigen solle, aber da die Schwester bei ihr angerufen hatte, war er vermutlich nicht zu Hause. Als sie später durch das Tor der Klinik trat, stellte sie fest, daß der Garten hell erleuchtet war und einige Wärter mit Taschenlampen die Hecken und das Gebüsch durchsuchten. Sie fragte im Vorbeigehen, ob etwas verlorengegangen sei.

Nein, sagte einer der Männer mißmutig, der sie vermutlich für eine Ärztin hielt, einer der Verrückten hat sich nur einen Scherz erlaubt. Läßt fast das halbe Irrenheim in die Luft gehen.

Laura entschloß sich, nicht weiterzufragen, da sie plötzlich das Gefühl hatte, daß diese Aussage etwas mit ihrem Vater zu tun haben könnte. Eine Vermutung, die sich ziemlich rasch bestätigte, als sie hastig den Flur entlangging und überall Patienten im Gespräch stehen sah, sichtlich erregt die einen, in enthusiastischer Stimmung die anderen: Endlich geschieht hier mal etwas!

Also, dann doch lieber apathisch, sagte die Schwester, die diesen Trakt betreute, zornig zu einer anderen. Lieber stumpfsinnig im Zimmer als noch einmal das!

Was ist mit meinem Vater?

Sie sollten sich lieber nach den anderen Patienten erkundigen als nach Ihrem Vater! empörte sich die Schwester. Und sie frage sich, wie jemand aus der Familie so naiv sein könne und dem Mann dieses Zeug mitgeben.

Welches Zeug? fragte Laura stockend.

Nun, was wohl? Das Zeug, das Ihre Familie herstellt. Feuerwerk. Das heißt, jetzt soll es ja etwas anderes sein: Leuchtspurmunition, Leuchtraketen. Der ganze Himmel war hell, der Garten grell erleuchtet, als würde hier gleich eine Staffel von feindlichen Flugzeugen landen. Sämtliche Patienten gerieten in Panik.

Laura schüttelte hilflos den Kopf. Mein Vater ...

Natürlich, Ihr Vater. Wer sonst? Und sie habe, fügte die Schwester hinzu, das Gefühl, daß dieser Mann so krank gar nicht sei.

Laura betrat das Zimmer, das bereits dunkel war. Ihr Vater lag im Bett und kicherte leise vor sich hin. Das hättest du sehen sollen! sagte er dann glücklich, als sie zu ihm ans Bett trat. So was haben die hier noch nie gesehen. Ich ja auch nicht, weißt du, es sind ja völlig andere Sachen.

Laura legte ihm die Hand auf den Arm. Es hat aber doch wohl nicht allen so gefallen – oder?

Ach was! Der Vater winkte ab. Die Ärzte und die Schwestern haben die Patienten erst richtig in Panik versetzt. Einer fragte, ob ich noch mehr von dem Zeug hätte, aber – der Vater kicherte wieder – naja, so viel konnte ich ja nicht unter meinem Mantel hereinmogeln. Ich meine, nachdem Emil mir die Mischverhältnisse so detailliert geschildert hat.

Vater! Laura lachte und streichelte seine Hand. Schlaf jetzt! Du hast es nötig nach deinem Abenteuer.

Du wirst es nicht zulassen, daß sie etwas mit mir tun, sagte er plötzlich ängstlich, nicht wahr? Da gibt’s solche Räume, naja, du weißt schon, die mit den runden Ecken. Und Jacken gibt’s auch. Er setzte sich hoch, verschränkte die Arme auf der Brust und tat, als bekomme er keine Luft mehr.

Laura küßte ihn. Du darfst sicher sein, ich werde nicht zulassen, daß dir irgend etwas geschieht. Schließlich bin ich auch Ärztin.

Für Frauen, nicht wahr?

Für Kinder, sagte sie und zog seine Bettdecke hoch.

Der Vater seufzte. Ich vergesse so viel, weißt du.

Ich weiß, aber es macht nichts, sagte sie beruhigend. Verstehst du, es war auch alles so schrecklich langweilig, jeden Tag das gleiche: aufstehen, frühstücken, Arztvisite, Gartengang bei geschlossenem Parktor, Kiesrechen, und dann erst die Gespräche und Geschichten. Jeder weiß von jedem inzwischen alles. Mein Nachbar links ist Napoleon, mein Nachbar rechts ist König Attila, gegenüber wohnt Lucretia Borgia.

Und du, wer bist du?

Nun wer wohl? Stuwer, sagte der Vater glücklich.