5

»All in.«

Court Harrington schob sechs hohe Stapel Pokerchips in die Tischmitte, dabei hielt er die Augen hinter der verspiegelten Sonnenbrille starr auf den grünen Filzbezug gerichtet. Das laute Stimmengewirr im Casino wurde zu einer amorphen Geräuschkulisse, ein entferntes Meeresrauschen, überlagert vom Trommelwirbel seines Herzens.

Hoffentlich merkt der Typ auf Nr. 8 nichts davon. Harrington riskierte einen Blick zu seinem Opponenten, einem älteren Mann mit einer LAS VEGAS-Baseballkappe – ein selektiver Spieler, der den ganzen Tag nicht einmal versucht hatte zu bluffen. Diesmal, mit drei Kreuz auf dem Board, hoffte Harrington inbrünstig, der Typ würde ihm den Flush zutrauen.

Die Minuten schlichen dahin, während Nr. 8 im Kopf die Möglichkeiten durchspielte. Es war der vierte Tag des Main Events der World Series of Poker, das bei einem Buy-in von zehntausend Dollar in diesem Jahr mehr als sechstausend hoffnungsfrohe Siegesanwärter angelockt hatte, die auf Ruhm und Reichtum spekulierten. Siebenhundert hatten bis jetzt überlebt, und davon würden höchstens sechzig mit einem Plus in der Tasche nach Hause fahren. Wegen der billigen Baseballkappe und seiner vorsichtigen Spielweise hatte Harrington Nr. 8 unter Tourist einsortiert, der auf Nummer sicher gehen und jedes Risiko vermeiden würde.

Aber der gute Mann ließ sich wahrhaftig Zeit, fixierte Harrington über den Tisch hinweg, als wollte er ihm hinter die Stirn schauen, und plauderte dabei in liebenswürdigem Ton. »Du hältst Kreuz, stimmt’s? Ich hätte nach der vierten Karte erhöhen sollen.«

Harrington antwortete nicht. Bloß keine Signale geben. Stattdessen sortierte er seine Chips, studierte die Karten auf dem Tisch, versuchte durch reine Willenskraft den Typ zu bewegen, sich zu entscheiden.

Endlich lehnte Nr. 8 sich zurück, schaute noch einmal seine Karten an, schob sie seufzend zusammen und legte sie auf den Tisch. »War eine gute Hand«, sagte er zu Harrington. »Nächstes Mal lasse ich dich nicht lange genug mitspielen, um auf einen Flush zu spekulieren.«

Warten wir’s ab. Harrington warf seine Karten – zwei rote Siebenen – zu den anderen und sammelte seine Chips ein. Ich muss nur daran denken, dass ich dir aus dem Weg gehe, wenn du wirklich mal auf Risiko spielen willst.

***

Pause, zwanzig Minuten, die letzte Unterbrechung für heute. Harrington folgte den anderen Teilnehmern in das Foyer des Casinos. Siebenhundert Spieler schwärmten aus, ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend: Toilette, Nikotin, Nahrungsaufnahme. Harrington reihte sich in die Schlange am Imbissstand ein und nutzte die Wartezeit, um auf sein Handy zu schauen. Ein verpasster Anruf, out-of-state. Die Nummer sagte ihm nichts, nicht auf Anhieb.

Dann fiel der Groschen, und er musste einmal tief Luft holen. Er drückte Rufwiederholung, blickte auf, merkte, dass er vor dem Tresen angekommen war, und bestellte einen Cheeseburger. Kramte das Portemonnaie aus der Hosentasche, während er dem Rufton lauschte. Dann klickte es, und da war McKenna Rhodes und hörte sich ganz genauso an wie früher, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen.

»Court. Hallo.«

»Hallo.« Harrington nahm seinen Cheeseburger in Empfang und winkte ab, als die Bedienung ihm das Wechselgeld reichte. »Lange nichts von dir gehört. Wie lange eigentlich genau?«

McKenna antwortete nicht gleich. »Ein paar Jahre, nehme ich an«, sagte sie dann. Ihre Stimme hatte einen seltsamen Unterton, als wäre etwas im Busch. »Hör mal, weshalb ich anrufe … Hast du eine Minute für mich?«

Harrington ging mit seinem Burger zu einem Tisch, setzte sich und wickelte ihn aus dem Papier. »Fünf Minuten«, antwortete er. »Aber wirklich nicht mehr. Ich könnte mich aber später wieder melden, in ein paar Stunden oder morgen.«

»Zu spät. Es geht um einen Job. Hast du Interesse?«

Ein Job.

Mit sechsunddreißig war Court Harrington auch jetzt noch einer der jüngsten Schiffbauingenieure in den Vereinigten Staaten – und einer der fähigsten weltweit. Absolvent des angesehenen Webb Institute auf Long Island und anschließend des MIT, hatte ein alter Professor ihn auf das Bergungswesen als interessantes Tätigkeitsfeld gestoßen und ihn Randall Rhodes empfohlen, der jemanden für einen speziellen Job suchte, ein Containerschiff, das vor der kolumbianischen Küste auf ein Riff gelaufen war. Der Rumpf war beschädigt, und die Gewässer in der Region galten als ökologisch extrem sensibel. Rhodes wollte von ihm wissen, ob es möglich wäre, das Schiff vom Felsen zu lösen, ohne dass Treibstoff austrat. Obwohl – wie er Harrington mitteilte, als er ihn am Flughafen von Cali abholte – die örtlichen Behörden das Projekt bereits als chancenlos ansahen.

»Es gibt immer eine Chance«, hatte Harrington entgegnet, hatte dem Kapitän die Hand geschüttelt und seinen Laptop gezückt. »Mit den Modellen, die meine Software möglich macht, könnten wir Atlantis vom Meeresgrund heben.«

Zugegeben, das war übertrieben, ein bisschen, aber das von Harrington entwickelte Hydrostatik-Programm hatte ihm seinen Doktortitel eingebracht. Es versetzte ihn in die Lage, exakte, detaillierte Bildschirmmodelle aller Schiffstypen zu erstellen, auf oder unter der Wasseroberfläche, und sichtbar zu machen, wie Veränderungen der Umgebung – von Menschen gemacht oder natürlich – die Stabilität des Schiffs beeinflussten. Eine unbezahlbare Hilfe, wenn es darum ging, havarierte Schiffe so weit flottzumachen, dass man sie in den Hafen schleppen konnte. Und nicht zu vergessen, von den Eigentümern den Bergelohn einstreichen.

Er hatte Randall Rhodes geholfen, das Schiff in Kolumbien zu bergen, und der Skipper der Gale Force war von seinen Fähigkeiten so beeindruckt, dass er Court den Vorschlag machte, ab sofort exklusiv für Gale Force Marine zu arbeiten, auf Abruf, bei einer monatlichen Grundvergütung mit einem Bonus für jeden erfolgreichen Einsatz. Harrington schlug ein, wenn auch nicht ohne die Zusicherung, dass er seine freie Zeit weiterhin auf seinem Segelboot in Myrtle Beach verbringen könne, faulenzen, Videospiele spielen und beim Spring Break mit Studentinnen flirten.

Es war der Beginn einer fruchtbaren Partnerschaft, die vier Jahre währte, Court ein hübsches Sümmchen Geld einbrachte und einen Ruf wie Donnerhall in der gesamten Branche.

Die Kehrseite der Medaille war, dass er die Beziehung zur Tochter des Kapitäns selbst für seine Verhältnisse massiv vergeigte. Derselben McKenna Rhodes, die ihn jetzt anrief, um ihm einen Job anzubieten.

***

»Ein Autotransporter«, hörte er McKenna sagen. »Oben in Alaska. Beim Ballastwasseraustausch an der 200-Meilen-Zone ist was schiefgegangen. Buchstäblich, übrigens. Das Schiff hat ungefähr 60 Grad Schlagseite.«

»Oh.« Harrington spürte ein verräterisches Rühren in den Eingeweiden. Bezweifelte, dass die Zeit noch reichte, um den Cheeseburger zu vertilgen und sich den drängenden geschäftlichen Erledigungen zu widmen, bevor er zurück in den Saal musste. »Na ja, schade, McKenna, aber ohne die Einzelheiten zu kennen, kann ich dir keine große Hilfe sein. Wenn du magst, könntest du ja die relevanten Daten an mein Hotel hier in Vegas faxen.«

McKenna zögerte, dann lachte sie verlegen. »Wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich gehofft, du würdest mit uns rausfahren.«

»Raus? Wohin? Zu dem Havaristen?«

»Du bist der Beste in deinem Fach«, sagte McKenna. »Egal, was zwischen dir und mir gewesen ist …« Sie verstummte. Als sie weitersprach, war ihr Ton sachlich und entschieden. »Court, ich könnte dich wirklich hier brauchen. Die Mannschaft könnte dich brauchen.«

Zwei Minuten noch, bis das Spiel weiterging. Zu spät für den Abstecher in die Porzellanabteilung, und aufessen musste er am Tisch, was nicht gern gesehen wurde. Er hastete aus dem Zelt und durch das Foyer zu dem für die Pokerspieler reservierten Saal, der Letzte der letzten Nachzügler.

»Schlechtes Timing«, sagte er. »Hör zu, McKenna, ich würde dir – würde euch – wirklich gern helfen, aber ich stehe so kurz davor, hier richtig groß abzuräumen, und das kann ich nicht sausen lassen.«

»Wie groß? An meinem Ende geht es um einen Scheck über zehn Millionen.«

»Nicht schlecht, aber das hier sind die Weltmeisterschaften im Pokern, und ich liege momentan, was die Anzahl der Chips angeht, an zweiter Stelle. Dem Sieger winken 8,6 Millionen.«

Am anderen Ende herrschte Stille. Harrington schob sich durch die Schwingtüren in den Saal. Kurvte durch das Labyrinth der Tische zu seinem Platz.

»Wie lange brauchst du?«, fragte McKenna schließlich.

»Um das Turnier zu gewinnen? Noch eine Woche, geschätzt. Dann noch ein paar Tage, um zu feiern.«

»Zu lange. In einer Woche könnte das Schiff auf dem Meeresgrund liegen.«

Harrington erreichte seinen Tisch. »Es schwimmt noch?«, forschte er. »Da greifen ganz andere physikalische Gesetzmäßigkeiten. Habe ich noch nie gemacht. Meines Wissens hat das überhaupt noch nie jemand gemacht.«

»Weiß ich«, sagte McKenna. »Ist eine große Sache, Court. Für uns alle.«

Sie ließ die Worte wirken, und gegen seinen Willen begann Harrington über das Angebot nachzudenken. Überlegte, dass der Ruhm, den ihm die Bergung dieses Wracks einbringen würde, in etwa für das Nicht-Gewinnen des Pokerturniers entschädigte. Überlegte, dass es auch geldlich fast auf dasselbe hinauskam.

Fast, aber nicht ganz.

Der Dealer teilte aus. Nr. 8 beobachtete ihn, nahm seine Karten auf, schaute sie an. Harrington seufzte. »Ich kann das nicht machen«, sagte er. »Ich kann nicht aufstehen und weggehen, nicht, während meine Chancen so stehen, wie sie stehen. Tut mir leid.«

Er beendete das Gespräch. Setzte sich auf seinen Stuhl, steckte das Handy ein, legte sich den Burger auf den Schoß und riskierte einen Blick auf seine Karten: zwei Damen.

Ach zum Teufel mit dem Wrack, sagte er zu sich und zog einen Stapel Chips heran. Spielen wir Poker.