Ishimaru war nicht da.
Für den Weg von der Brücke zur Vorratskammer achtern hatte Hiroki Okura fast eine Stunde gebraucht. Bei den 60 Grad Schlagseite der Lion waren Wände Fußböden und Fußböden Wand. Er musste über offen stehende Türen und Korridormündungen springen und Schotts aufwuchten. Zweimal bäumte das Schiff sich auf, als es von einer besonders mächtigen Welle getroffen wurde, beide Male hatte er mit seinem Leben abgeschlossen.
Fünfzig Millionen Dollar.
Beruflich war er erledigt. Auch wenn das Arrangement mit Ishimaru nicht ans Licht kam – er als wachhabender Offizier hatte veranlasst, dass der verhängnisvolle Ballastwasseraustausch bei potenziell gefährlichem Seegang durchgeführt wurde. Man würde ihn für die Folgen zur Verantwortung ziehen.
Für solche Eventualitäten hatte er vorgesorgt. In seiner Kammer lagen fünfundzwanzigtausend amerikanische Dollar in bar, der Rest einer langen Reihe von Krediten, die ihm in einem Jansou der Yakuza gewährt worden waren, zu einem horrenden Zinssatz. Aber mit fünfundzwanzigtausend Dollar kam er nicht weit. Er musste den Aktenkoffer finden, wenn er eine Zukunft haben wollte.
***
Und nun war Ishimaru nicht in seinem Versteck.
Die Tür zur Vorratskammer, in der er ihn einquartiert hatte, stand offen. Im Licht der Notbeleuchtung im Gang sah Okura die umgekippte Pritsche, das zerwühlte Bettzeug, den auf dem Boden verstreuten Inhalt der Regale.
»Tomio!« Nichts, außer dem Echo, das durch die menschenleeren Gänge hallte, und dem Klatschen des Wassers, das außen gegen das Schott schwappte.
Wenn das Schiff nun volllief …? Wenn die Ladetore sich öffneten, durch einen Kurzschluss vielleicht …? Wenn die Lion sank …?
Nicht darüber nachdenken. Okura durchsuchte die Kammer nach dem Aktenkoffer, sicherheitshalber, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Ishimaru ihn zurückgelassen hätte. Er versuchte sich vorzustellen, wie der Buchhalter reagiert hatte, als die Alarmsirene losgellte. Was hatte er getan, wo war er hingegangen?
Er selbst wäre in Panik geraten. Nichts wie raus, wäre sein erster Impuls gewesen. Er hätte sich den Aktenkoffer geschnappt und versucht, zum Wetterdeck an Steuerbord zu gelangen, wo möglicherweise schon Rettungsmaßnahmen im Gange waren.
Ishimaru konnte nicht wissen, dass die Crew das Boot an Backbord klargemacht hatte, wo der Abstand zum Wasser nur wenige Meter betrug. War es denkbar, dass er an Steuerbord wartete und sich wunderte, wo die anderen alle geblieben waren?
Nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Okura verließ die Kammer. Hangelte sich an den Handläufen im Korridor nach oben. Das Deck an Steuerbord – das war von allen Orten, an denen Ishimaru sein konnte, der wahrscheinlichste.
***
Am Himmel über dem schwarzen Meer und dem aus dieser Höhe gesehenen winzigen Rettungsboot der Pacific Lion runzelte Sean McCloud im Cockpit des Rettungshubschraubers, eines Sikorsky MH-60T Jayhawk, die Stirn. »Eine weitere Person«, wiederholte er. »Und wo?«
Jim Bute, der Copilot, zuckte die Achseln. »Der Kapitän hat keinen Schimmer. Angeblich handelt es sich um den Zweiten Offizier, Okura oder so ähnlich. Nach Aussage des Dritten hat dieser Okura dabeigestanden und zugeschaut, wie seine Kumpels ins Boot gehüpft sind, dann hat er sich umgedreht und ward nicht mehr gesehen. Sie waren überzeugt, dass das Schiff sinkt, also haben sie sich davongemacht und ihn zurückgelassen.«
0345 Uhr. Vor neunzig Minuten hatte der Jayhawk mit einer in Kodiak stationierten Crew vom vorgeschobenen Einsatzposten in Dutch Harbor abgehoben. McCloud und Bute hatten das Rettungsboot der Pacific Lion dank GPS schnell geortet, warfen Leuchtbojen ab und informierten den Kapitän über Funk, dass sie in der Maschine nicht genug Platz hätten, um die gesamte Besatzung aufzunehmen, aber die Munro, ein Schiff der Coast Guard, wäre auf dem Weg und würde in geschätzt vier Stunden eintreffen. Kein Problem, hatte der Kapitän erwidert. Keine Verletzten an Bord, ausreichend Lebensmittel und Wasser. Dann kam die schlechte Nachricht.
Ein Mann wurde vermisst. Befand sich vermutlich noch auf dem Schiff.
McCloud schaute durch die Frontscheibe in den Nachthimmel hinaus. »Mist, verdammter.«
»Das Rettungsboot hat GPS und eine Notfunkbake«, äußerte Bute. »Die gehen schon nicht verloren.«
»Und in der Zwischenzeit stolpert der hirnverbrannte Idiot auf einem sinkenden Schiff herum.« McCloud straffte seufzend die Schultern. »Wir werden wohl oder übel nach ihm suchen müssen.« Über Funk setzte er die beiden anderen Besatzungsmitglieder im Laderaum von der Entwicklung in Kenntnis. »Werft noch ein paar Lichter ab. Anscheinend haben die Jungs da unten jemanden an Bord vergessen.«
Bordmechaniker David Denman, der bei Einsätzen die Winde bediente und als Signalmann für den Piloten fungierte, zog die Seitentür des Jayhawk auf, während Tyson Jones, der Rettungsschwimmer, noch einige Leuchtbojen bereitmachte. Das Risiko, dass der Hubschrauber das GPS-Signal des Boots verlor, war minimal, aber minimal war für McCloud nicht gut genug. Man durfte nicht sechsundzwanzig Leben aufs Spiel setzen, um eines zu retten.
Sobald Jones und Denman meldeten, dass der Auftrag ausgeführt war, ließ McCloud den Hubschrauber steigen. Das unruhige Meer und der darauf tanzende orangerote Klecks des Rettungsbootes blieben unter ihnen zurück.
»Die letzte bekannte Position des Schiffs ermitteln«, sagte er zu Bute. »Sehen wir nach, ob es da noch etwas zu retten gibt.«
***
Rettungsschwimmer Tyson Jones klinkte das Stahlseil von der Winde über der Seitentür des Jayhawk an den Karabinerhaken seines Winschgurts. Gab David Denman ein Daumen-hoch-Zeichen und schwang sich aus der Kabine.
Bei moderatem Wind sank er pendelnd dem Stahlkoloss entgegen, der wie ein mittlerer Eisberg in den Wellen schaukelte, und hielt nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau. Die beiden Rettungsboote an Steuerbord waren vorhanden und intakt, der Vermisste befand sich demnach mit allergrößter Wahrscheinlichkeit noch an Bord.
Sieht ganz gut aus, dachte Jones. Einen Hunderter, dass der Knabe in der Speisekammer sitzt und sich den Wanst vollschlägt.
McCloud setzte ihn, Denmans Anweisungen folgend, achteraus von der Brücke ab. Wegen der starken Krängung kam er auf der Seitenwand der Aufbauten zu stehen, statt auf dem Deck. Im ersten Moment war ihm mulmig, und er ließ das Kabel nicht los, als könnte sein Gewicht der entscheidende Impuls sein, der das Schiff zum Kentern brachte.
Unter den Füßen spürte er, wie es sich bewegte, ein träges, schwerfälliges Rollen. Danach zu urteilen hatte Wasser den Weg ins Schiff gefunden, und es lief voll, langsam, aber sicher. Er klinkte sich los, sandte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel und machte sich dann vorsichtig auf den Weg zur Brücke. Kein Licht. Keine Bewegung. Keine Spur von dem vermissten Besatzungsmitglied.
»Ich gehe rein«, meldete er nach oben. »Gebe Bescheid, wenn ich was finde.«
»Verstanden«, erwiderte McCloud. »Spiel nicht den Helden.«
»Ich doch nicht.« Jones erreichte die Brückennock, öffnete die Tür und schob sich ins Ruderhaus. Entdeckte das Geländer an der Rückwand, an dem er sich festhalten konnte. Mit tastenden, kleinen Schritten bewegte er sich weiter in das Ruderhaus hinein.
»Hallo?«, rief er. »Komm raus, Mann. Ich bin hier, um dich nach Hause zu bringen.«
Er nahm die Stablampe vom Schultergurt und ließ den Lichtkegel durch den Raum wandern. Ein Chaos – überall Papiere, Aktenordner, verschütteter Kaffee, erloschene Bildschirme und Anzeigen. Kein lebensmüder Seemann. Überhaupt keine Menschenseele.
»Nichts«, meldete er nach oben. »Der Kerl muss irgendwo anders stecken.«
Er klippste die Lampe wieder fest. Schaute sich noch einmal um und entdeckte die Tür in der Rückwand der Brücke, die ins Schiffsinnere führte.
»Ich werfe noch einen Blick ins Brückendeck«, sagte er in das Mikrofon.
»Wenn er nicht auf der Brücke ist, ist er wahrscheinlich über Bord gegangen«, lautete die Antwort. »Unser Sprit wird knapp, und wer weiß, wie lange der Pott sich bei dem Seegang noch hält. Komm zurück.«
»Gib mir zwei Minuten.« Jones hangelte sich auf dem Weg zur Tür von einem Halt zum nächsten, öffnete sie, schaltete wieder die Lampe ein und sah vor sich einen langen Korridor, das Rückgrat des Schiffs. Auch da keine Bewegung, kein Geräusch.
»Jones«, bellte McClouds Stimme aus dem Funkgerät. »Raufkommen. Sofort!«
»Verdammt.« Jones machte die Tür zu. Stapfte bergsteigermäßig nach Steuerbord, verließ die Brücke und stand wieder auf der Wand des Deckshauses. Legte den Kopf in den Nacken, schaute hinauf zu den Lichtern des Hubschraubers am Nachthimmel und signalisierte Denman, er solle die Leine ablassen. Während er wartete, schaute er zufällig zur Seite und sah etwa dreißig Meter achteraus den Gesuchten aus einem Schott auftauchen – Mr. Okura, sichtlich gestresst, der Jones mit der Miene eines Kindes anschaute, das heimlich ins Haus schleichen will und sich vom strengen Vaters ertappt sieht.
Na, wer sagt’s denn. Jones winkte. »Hallo!«, rief er. »Kommen Sie her, alles okay. Sie können nicht hierbleiben, wir bringen Sie zu Ihren Kameraden.«
Der Mann stierte ihn an. Schaute zum Hubschrauber hinauf. Machte nicht den Eindruck, als wäre er von der Aussicht, gerettet zu werden, sonderlich begeistert.
»Tu’s nicht.« Jones wünschte sich, er spräche Japanisch. »Es ist vorbei. Zeit, nach Hause zu gehen.«
Mr. Okura oder wie auch immer stand da wie angenagelt. Er schaute zurück in den Gang, aus dem er gekommen war. Dann sanken seine Schultern herab, und Jones dachte Na bitte!, er gibt auf, aber nein. Der Mann richtete sich wieder auf, sprang nach kurzem Zögern mit den Füßen voran in das dunkle Rechteck des Schotts und war verschwunden.
***
Okura konnte das Schiff nicht verlassen. Nicht ohne den Aktenkoffer. Er rutschte auf dem Hosenboden den Gang hinunter, angelte nach den Handläufen, um sich abzubremsen und nicht in voller Fahrt mit der stählernen Wand am anderen Ende zu kollidieren. Knochenbrüche wären das Mindeste, womit er rechnen musste. Es gelang ihm, sich am Rahmen einer offen stehenden Tür festzuklammern, auch wenn er das Gefühl hatte, bei dem Ruck würden ihm die Arme ausgekugelt.
Er robbte über die Schwelle und fand sich in einem Aufenthaltsraum der Mannschaft wieder. Die am Boden festgeschraubten Sofas standen noch an ihrem Platz, aber die Regale hatten ihren aus Trivialliteratur diverser Genres bestehenden Inhalt auf den Fußboden entleert. Im Fernseher, an der Wand befestigt, lief ein Spielfilm, etwas Amerikanisches, eben jetzt küsste ein Cowboy eine hübsche junge Frau vor einem spektakulären Sonnenuntergang.
Der Widerschein der Fernsehbilder flimmerte über die Wände. Der Soundtrack schwoll an, eine blecherne, irritierende Geräuschlawine. Okura stand mühsam auf und wusste, er konnte hier nicht bleiben. Er musste tiefer hinein in den Schiffsbauch, zu den fünftausend fabrikneuen Autos, die sich Gott sei Dank noch nicht losgerissen hatten. Dort versteckt konnte er darauf warten, dass die Coast Guard die Suche abbrach.
Er stapfte zur Tür zurück und wappnete sich geistig für eine weitere lange Rutschpartie. Spähte in den Korridor hinaus, und wer kam von oben herabgerauscht und landete vor ihm, breit grinsend, wenn nicht sein ungebetener Retter.?
»Hey«, sagte der Amerikaner schnaufend. »Das hat Spaß gemacht. Wie wär’s als Nächstes mit einem Hubschrauberflug?«
An dem Mann war kein Vorbeikommen. Einen anderen Ausgang gab es nicht. Hinter Okura verstummte die Filmmusik. Das Schiff rollte sacht in der Dünung.
Der Amerikaner streckte die Hand aus. Okura zögerte, aber es hatte keinen Zweck. Er war erledigt.
»Kutabare«, fluchte er, griff aber nach der ausgestreckten Hand.