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An Bord der Salvation, zwei Tage außerhalb von Dutch Harbor

Okura wachte auf und fühlte sich zerschlagen. Er hatte den ersten Tag in der Kombüse des alten Schleppers verbracht und sich auf dem kleinen Fernseher alte Schwarzenegger-Filme angesehen. Blecherne kleine Explosionen und von Kratzern auf der DVD zerhackte markige Sprüche, Maschinengewehrfeuer kreuz und quer über den ganzen Bildschirm. Zwischendurch, wenn die Salvation zu sehr stampfte und rollte, flüchtete er hinauf aufs Achterdeck, um frische Luft zu schnappen. Okura fuhr seit vielen Jahren zur See, aber die Salvation war um einiges kleiner als die Frachter, an die er gewöhnt war, und nahm die Wellen auf Augenhöhe.

Er schlief unruhig. Sah in seinen Träumen die Lion – endlose Gänge, finstere, unheimliche Laderäume – und aus dem Augenwinkel Ishimaru, der nicht mehr da war, wenn er sich zu ihm umdrehte. Ishimaru mit seinem Aktenkoffer und den fünfzig Millionen Dollar. Okura fuhr schweißgebadet hoch und musste sich erst besinnen, wo er war. Für eine Schrecksekunde in einer Gefängniszelle in Yokohama.

Ich muss diesen Aktenkoffer haben.

Er zog sich an, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und warf einen Blick in die Messe. Magnussons Männer saßen um den Tisch und wärmten sich die Hände an dampfenden Kaffeebechern. Er stieg den Niedergang hinauf und fand im Ruderhaus Magnusson und Carew, die sich unterhielten.

Magnusson schaute sich um, als Okura hereinkam. »Von dieser Position wurde euer Mayday abgesetzt.«

Okura schaute aus dem Fenster. Sah nichts als Wasser, sich überlagernde, weiß gestreifte Wellen, und durch die Wolkendecke kleine Flecken blauen Himmel. Keine Spur von der Lion.

»Sie ist abgetrieben«, sagte er.

»Die Strömung läuft in Richtung der Aleuten. Wir müssen hinterher.«

»Wie lange, bis wir sie eingeholt haben?«

»Ein paar Stunden. Genug Zeit für Sie, um gemütlich zu frühstücken und Vorbereitungen zu treffen, falls es Vorbereitungen zu treffen gibt. Ich sage Bescheid, sobald wir die Lion gesichtet haben.«

Wieder schaute Okura auf die leere, unruhige Wasserfläche. Dann stieg er nach unten in die Kombüse, goss sich einen Becher Kaffee ein, suchte noch einen Actionfilm heraus und versuchte sich zu entspannen.

***

Schwarzenegger hatte gerade den Bösewicht erledigt, als das Horn der Salvation tutete, lange und laut. Okura drückte auf Pause und eilte mit dem Rest der Besatzung den Niedergang hinauf und ins Ruderhaus.

Magnusson und Carew standen am Ruder, Carews Decksmann, Robbie, neben ihnen. Alle drei schauten gespannt nach vorn. Okura folgte ihrem Blick.

»Iya«, ächzte er. »Was für eine Katastrophe.«

Sie hatten die Pacific Lion gefunden. Das Schiff lag genau vor ihnen auf der Seite und zeigte seinen gewaltigen roten Bauch mit dem parallel zur Wasseroberfläche verlaufenden Kiel. Darüber sah man das Blau des Rumpfs und das Weiß der Aufbauten. Am Heck ragten einige der riesigen Blätter des Propellers aus dem Wasser. Die Lion sah aus, als könnte schon die nächste Welle ihr Ende herbeiführen.

Okura zog fröstelnd die Schultern hoch. Er hatte nicht damit gerechnet, sein Schiff je wiederzusehen. Zu sehen, welchen Schaden er verursacht hatte.

Das Funkgerät knackte.

»An das Schiff, das sich dem Frachter Pacific Lion nähert, vom Seefernaufklärer der Coast Guard über Ihnen. Bitte identifizieren Sie sich und nennen Sie uns den Grund für Ihre Anwesenheit in diesen Gewässern.«

Für einen Moment herrschte tiefes Schweigen im Ruderhaus. Man hörte das Brummen eines Propellerflugzeugs über dem Schiff. Carew reckte den Kopf aus dem Steuerbordfenster, beschirmte die Augen mit der Hand und suchte den Himmel ab.

»Eine Hercules«, sagte er. »HC-130, wahrscheinlich aus Kodiak.«

Christer Magnusson hatte sich schon das Funkgerät geschnappt. »Coast Guard Fernaufklärer, hier spricht Kapitän Magnusson auf dem Bergungsschlepper Salvation. Wir sind im Auftrag von Commodore Towing hier. Wir haben die Absicht, diesen Havaristen zu bergen.«

Eine Pause, dann: »Stand by, Salvation

Okura fing Magnussons Blick auf. »Glauben Sie, die überlassen uns das Schiff?«

»Müssen sie«, antwortete Carew. »Die Coast Guard ist für eine so große Aufgabe nicht ausgestattet. Nicht hier, mitten im Nirgendwo. Ich wette, sie zerbrechen sich schon länger den Kopf darüber, wie sie verhindern sollen, dass der Kasten einen Felsen rammt und ausläuft wie ein zerbrochenes Ei. Ölverschmierte Enten, Wale, putzige Seeotter im ganzen Pazifik. Sie brauchen die Salvation. Nur Geduld.«

Okura wartete. Die anderen ebenso. Am Himmel zog die Hercules brummend ihre Kreise über der Lion.

Wieder knackte das Funkgerät. »Salvation, hier Coast Guard Patrol. Kapitän, wir wissen Ihre Initiative zu schätzen. Dieses Schiff driftet immer tiefer in US-amerikanische Gewässer, und einige Leute in der Gegend fangen an, sich Sorgen zu machen. Stehen Sie in Kontakt mit den Schiffseignern?«

»Meine Firma verhandelt in diesem Moment über ein Bergungsabkommen«, erwiderte Magnusson.

»Verstanden. Geben Sie Bescheid, sobald Sie bereit sind, mit der Bergung zu beginnen. Wir überwachen die Situation von hier oben, und in Kürze trifft die Munro ein, die Ihnen notfalls Hilfestellung geben kann.«

Der Funker wünschte ihnen Glück und beendete die Verbindung. Die große Hercules über ihnen wackelte mit den Flügeln. Magnusson legte den Hörer auf. »Erledigt«, sagte er. »Das Schiff gehört uns.«