30

Wieder ging Okura vor Robbie den Mittelgang der Pacific Lion entlang. Draußen schaufelte der Wind Wasser, warf es zu Hügeln, zu Bergen auf. Okura zuckte bei jedem Rollen des Schiffs zusammen, bei jedem Ächzen der Stahlhülle und blechernem Knirschen aus den Laderäumen.

Sie hatten jeden Zentimeter des Deckshauses abgesucht, hatten in jede Kabine, jeden Gang, jeden Schrank geschaut. Keine Spur von Tomio Ishimaru. Keine Spur des Aktenkoffers. Wenn er sich noch an Bord befand, konnte er nur noch im Maschinenraum sein oder irgendwo auf den Ladedecks.

Oder er war über Bord gespült worden.

Okura war noch nicht bereit, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Er konnte es sich nicht erlauben, die Hoffnung aufzugeben, jetzt noch nicht. Sie kamen zu einem Schott mittschiffs, das Okura öffnete. Dahinter gähnte die unwirtliche Finsternis des von tausenderlei Geräuschen durchhallten Schiffsbauchs. Es gab eine Treppe, aber bei der extremen Schräglage des Schiffs waren Stufen reine Dekoration. Man brauchte ein Seil, um hinunterzukommen.

»Die Treppe führt bis ganz nach unten in den letzten Laderaum, Deck vier«, erklärte Okura. »Insgesamt gibt es neun Cargodecks. Fünftausend Pkws.«

Neun Decks. Jedes Deck zweihundert Meter lang und sechsunddreißig Meter breit. So viel Raum, der noch abgesucht werden musste, dunkel und voller Unwägbarkeiten. Okura schaute Robbie zu, der eine Leine festmachte. Er testete die Haltbarkeit des Knotens und zögerte einen Moment an der Schwelle des Schotts, und der Schein seiner Stirnlampe fing sich an den absurden Linien und Winkeln der Stahlgittertreppe.

Fünfzig Millionen Dollar. Okura nahm das Seil in beide Hände und ließ sich in den Bauch der Lion hinab.

***

Auf halber Höhe des ersten Ladedecks – Deck zwölf – hörte Okura Robbie rufen.

Der Decksmann beugte sich durch das offene Schott. »Habe eben das Signal gehört«, rief er. »Mein Sprechfunk funktioniert hier unten nicht. Ich muss nach oben.«

»Das geht jetzt nicht«, antwortete Okura. »Wir haben noch nicht einmal angefangen zu suchen.«

»Wenn der Käpt’n ruft, muss ich springen. Bin gleich wieder da.«

Okura hörte, wie die Schritte des Decksmanns sich entfernten. Er war allein. Er bemühte sich, ruhig zu atmen, packte das Seil fester und stieß sich von der Wand ab. Die Dunkelheit unter ihm schien von gespenstischem Leben erfüllt zu sein: Wasser tropfte, ein Stöhnen wie von verlorenen Seelen, ein kalter Luftzug, der den Nacken streifte, wabernde Schatten, die aus der Tiefe nach ihm griffen.

Robbie kam wieder, als Okura eben das Schott von Deck zwölf erreicht hatte. »Schlechte Neuigkeiten«, rief er nach unten. »Da ist ein zweiter Schlepper aufgetaucht, die Gale Force aus Seattle. Sie wollen uns verdrängen, und Bill meint, ihr Schiff ist besser als unseres.«

Okura betrachtete seine Umgebung und stutzte. Die Luke war offen, was nicht hätte sein dürfen. Solange das Schiff auf See war, hatte sie geschlossen und verriegelt zu sein.

»Ich könnte hier etwas gefunden haben!«, rief er nach oben. »Ich will mir das anschauen.«

»Nicht heute«, kam die Antwort. »Wir können demnächst wieder in dem Kahn herumstochern, aber jetzt müssen wir zurück zur Salvation und hören, was der Skipper vorhat.«

Okura steckte den Kopf durch die Luke. Der Schein der Stirnlampe reichte nicht weit, aber was er aus der Dunkelheit schälte, war beeindruckend. Autos hingen aufgereiht in einem Geflecht aus Haltegurten. Sie rutschten und bockten im Rhythmus der Rollbewegungen des Schiffs, soweit der ihnen zugestandene Spielraum es zuließ, und der Laderaum hallte wider von den grellen Protesten überdehnter Laschungen und strapazierter Feststellbremsen. Die Reihen der Blechkarossen erstreckten sich bis zum Rand des Lichtkegels, wo sie sich im Dunkel verloren, ein potenziell tödlicher Hindernisparcours, eine am seidenen Faden hängende Blechlawine im wahrsten Sinne des Wortes.

»Aber es kommt ein Sturm«, wandte Okura ein. »Wir müssen weitersuchen, solange das Wetter es zulässt.«

»Hör zu, wenn der andere Schlepper uns den Auftrag wegschnappt, setzt keiner von uns mehr einen Fuß auf dieses Schiff.« Robbie machte eine Pause. »Ich fahre zurück. Du kannst bleiben oder mitkommen. Such’s dir aus.«

Okura stützte sich am Schott ab und suchte in seinem geliehenen Rucksack nach dem zweiten Seilbündel. Er hatte einige Wasserflaschen dabei und eine Handvoll Energieriegel. »Du kannst gehen«, sagte er. »Ich bleibe.«

***

Die Echos von oben verrieten, dass Robbie den Rückzug angetreten hatte. Okura befestigte das Seil an einer Strebe, warf es durch die Luke in den Laderaum und stieg hinterher. Schickte sich an, nach unten zu klettern, doch zufällig ging sein Blick nach links. Er erstarrte.

Neben der Türöffnung befand sich eine Stützstrebe, die vom tiefsten Punkt des Schiffs bis hinauf zum Schottdeck führte. Bedingt durch die sechzig Grad Schlagseite, entstand zwischen Lukenrahmen und Vorsprung eine Art Nische.

In dieser Nische lag etwas Schwarzes, von dem Okura erst annahm, es wäre ein Bündel Lumpen. Dann regte sich die Schwärze, murmelte etwas Unverständliches, und Okura schaute genauer hin, sah das blutunterlaufene, verschwollene Gesicht, die rissigen Lippen, die verdreht wirkenden Gliedmaßen.

Das da war ein menschliches Wesen, verletzt, von Hunger gezeichnet und dem Verdursten nahe.

Tomio Ishimaru.