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Tomio Ishimaru blinzelte in das grelle Licht und fragte sich, ob er endlich gestorben war. Er lag schon so unendlich lange in dieser schwarzen Vorhölle, schmerzgepeinigt, frierend, seine ganze Welt zusammengeschrumpft auf das nicht aus menschlichen Kehlen stammende Lamento aus der Tiefe. Die Erinnerung an das, was er getan hatte, nagte an seinem Gewissen.

Naoko. Saburo. Akiro. Seine Kollegen. Seine Freunde. Sie hatten an einen Jux geglaubt, als sie ihn die Pistole ziehen sahen, die Hiroki Okura ihm von wer weiß woher besorgt hatte. Und er hatte sich gewünscht, es wäre ein Jux. Die Nervosität, das Händezittern, das furchtbare Herzklopfen.

Er erinnerte sich an den Ausdruck auf Saburos Gesicht, als er den Abzug betätigte. Nie würde er ihn vergessen, nie, egal, wie lange er hier noch ausharren musste. Akio hatte ihm Verwünschungen entgegengeschleudert, Naoko um Gnade gefleht.

Ishimaru hatte ihn nicht anschauen können, nicht zum Schluss.

Er hatte den Aktenkoffer gestohlen – fünfzig Millionen Dollar –, so, wie mit Okura abgemacht. Und Okura hatte ihm geholfen, aus Yokohama zu fliehen, wie abgemacht. Doch vor seinen Taten gab es kein Entrinnen, nicht auf diesem Schiff und überhaupt nirgendwo auf der ganzen Welt.

Dies war Tomio Ishimarus persönliches Fegefeuer, und er wusste, er hatte es verdient, jede einzelne Sekunde davon.

Als – es schien eine Ewigkeit her zu sein – das Schiff zu krängen begann, hatte er sich sofort auf den Weg nach oben zum Wetterdeck gemacht, wo es hoffentlich eine Möglichkeit gab, sich zu retten. Unterwegs war ihm der Altenkoffer eingefallen, und er hatte kehrtgemacht, um ihn zu holen. Nahm einen zweiten Anlauf den inzwischen steilen Korridor hinauf, verlor das Gleichgewicht, den Halt. Er schlitterte abwärts, überschlug sich, prallte gegen unnachgiebigen Stahl, fühlte und hörte sein Bein brechen, als er benommen und orientierungslos in einem fensterlosen Quergang landete.

Er hatte keine Vorstellung davon, wo auf dem Schiff er sich befand. Lag in dem von Wand und Fußboden gebildeten Winkel, die Finger um den Griff des Aktenkoffers gekrallt, während das Schiff sich langsam und unaufhaltsam weiter zur Seite neigte.

Von irgendwo hatte er Okuras Stimme seinen Namen rufen hören, aber die vielfältigen Echos machten es unmöglich, die Richtung zu bestimmen.

Ishimaru hatte versucht aufzustehen, versuchte zu antworten, aber bei der kleinsten Bewegung wurde ihm vor Schmerzen schwarz vor Augen. Er gab auf und kroch stattdessen in die Richtung weiter, in die er nach dem Sturz zu liegen gekommen war. Da er sein Versteck bis zu diesem Zeitpunkt nie verlassen hatte, war das Innere des Schiffs für ihn vollkommen unbekanntes Terrain, ein Labyrinth. Woher sollte er wissen, wohin er sich wenden musste, um aus dieser Falle zu entkommen?

Er schleifte den Aktenkoffer hinter sich her. Kam zu einem Schott, und im selben Moment versagten die stromliefernden Generatoren. Alle Lampen gingen aus. Schlagartig herrschte in den Gängen tiefe Dunkelheit und Stille. Kein Wummern der Maschinen, keine menschlichen Stimmen. Selbst das Meer war kaum zu hören. Ishimaru konnte nicht die Hand vor Augen sehen. Nicht nur hatte er keine Ahnung, wo er war, auch das Gefühl für Richtung war ihm abhandengekommen.

Die Pacific Lion war verloren. Früher oder später würde das Meer hereinbrechen, das Schiff in die Tiefe ziehen und ihn, Tomio Ishimaru, mit. Er würde ertrinken, allein, in völliger Dunkelheit. Er tastete nach der Tür, bekam den Hebel zu fassen, zog sie auf, in der Hoffnung, einen Weg ins Freie gefunden zu haben.

Kein Glück. Dahinter wartete wieder nur Dunkelheit, ein gähnender schwarzer Schlund. In einer Hand den Griff des Altenkoffers, robbte er über die Schwelle und merkte zu spät, dass hinter der Tür eine Treppe war, nur wegen der erheblichen Krängung nicht dort, wo man sie erwartete.

Deshalb fiel er. Fiel durch die Dunkelheit, zu verdutzt, um auch nur aufzuschreien. Prallte gegen Vorsprünge, Geländer, scharfkantige Metallstufen. Irgendwann fing ihn etwas auf, und er lag da, ein Haufen gebrochener Knochen, Platz- und Schürfwunden, musste sich übergeben, wurde ohnmächtig, kam zu sich, übergab sich wieder.

Nach und nach wurde ihm klar, dass er neben einer weiteren Tür lag. Einer Luke. Die vielleicht nach draußen führte, in Licht und Luft oder zu einer bereits überfluteten Abteilung und in den sicheren Tod. Vielleicht führte sie nirgendshin, lag dahinter wieder nur schwarzes Nichts. Doch er hatte keine Wahl.

Es fiel ihm schwer, die Luke zu öffnen. Er stützte sich auf den Ellenbogen, zerrte am Hebel, und dann, so unvermutet, dass er fast mitgerissen wurde, fiel sie nach innen und hing im leeren Raum. Ishimaru nahm seinen Aktenkoffer und schob sich durch die Öffnung, vorsichtiger diesmal. Erkundete mit der freien Hand, was vor ihm lag. Links eine Wand oder ein Vorsprung. Was immer es war, bildete mit dem abschüssigen Deck einen fast rechten Winkel, eine Art v-förmige Rinne, in der er entlangkroch. Er wollte dieser Rinne folgen, egal wohin sie führte. Außer den Schmerzen des zerschlagenen Körpers quälten ihn Hunger und Durst. Nach seinem Gefühl irrte er bereits einen ganzen Tag auf dem sinkenden Schiff herum, vielleicht noch länger, und er gestand sich mit erstaunlicher Nüchternheit ein, dass er wahrscheinlich auch hier sterben würde. Trotzdem hielt er seinen Aktenkoffer fest und zog ihn mit, bis die freie, nach vorn tastende Hand ins Leere griff.

Aus. Ende. Kein Weiterkommen. Vor ihm ein Abgrund, der drei Meter tief sein konnte oder dreißig – keine Möglichkeit, es herauszufinden. Ishimaru war am Ende seiner Kräfte, sein ganzer Körper ein Trümmerfeld, ein einziger Schmerz.

Seither hatte er in dem V von Deck und Schott gelegen und den monströsen, urzeitlichen Lauten gelauscht, die ihn umgaben. Schloss die Augen und wartete auf den Tod. Wartete darauf, von der Erinnerung an seine Taten erlöst zu sein.

Naoko. Saburo. Akio.

Alle tot. Von seiner Hand.

***

Doch jetzt geisterte plötzlich ein Lichtschein über seine geschlossenen Lider, und eine Männerstimme sagte seinen Namen. »Der Aktenkoffer, Tomio«, sagte der Mann auf Japanisch. »Wo ist der Aktenkoffer?«

Ishimaru wollte sich aufrichten, doch er war zu schwach. Nur den Kopf konnte er wenige Zentimeter anheben. Er blinzelte in die für ihn grelle Helligkeit, betrachtete die Umgebung im Schein der Stirnlampe des Mannes, der ihn gefunden hatte. Die Plattform, auf der er lag, war schmal, hässlich gelb, nackter Stahl. Dahinter die schemenhaften Umrisse von Autos in langen Reihen, die sich außerhalb des Lichtscheins ins Dunkel fortsetzten. Und wo war der Aktenkoffer?

Der Aktenkoffer lag nicht bei ihm auf der Plattform. Ishimaru erinnerte sich, dass er ihn durch die Luke gezogen hatte, erinnerte sich, ihn abgestellt zu haben, als er den Kopf gegen die Wand lehnte. Er erinnerte sich an die von einer mächtigen Welle hervorgerufene Schaukelbewegung, die ihn aus seiner halben Bewusstlosigkeit aufgeschreckt hatte. Er erinnerte sich, dass er einen Widerstand an den Füßen gespürt und instinktiv ausgetreten hatte. Danach war der Widerstand verschwunden. Ihm wurde klar, was er getan hatte.

»Der Aktenkoffer, Tomio? Wo ist er?«

Die Stirnlampe blendete ihn, aber er erkannte die Stimme. »Hiroki?«

»Ja«, antwortete Okura. »Ich bin es, Tomio. Alles wird gut. Aber wo ist der Aktenkoffer?«

Ishimaru deutete mit den Augen zum Rand der Plattform. Okura folgte seinem Blick mit der Lampe. Nichts zu sehen von einem Aktenkoffer zwischen den Pkws und in der Dunkelheit, aber irgendwo da unten musste er sein. Er packte Ishimaru, schüttelte ihn. »Wo, Tomio, wo?« Seine Stimme klang heiser, fordernd.

Ishimaru hob den Kopf etwas weiter an und deutete mit dem Kinn zum Rand der Plattform. »Unten.«

Okura leuchtete noch einmal in die Tiefe des Frachtdecks. Fluchte. Schaute wieder Ishimaru an und stieß noch eine Verwünschung aus.