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Dies war die Albtraumzone.

Das Seil in den Händen, die Füße gegen das Deck gestemmt, wanderte Okura rückwärts zwischen zwei Reihen Nissans hindurch und hielt Ausschau nach seinem – seinem! – Aktenkoffer. Die dicht an dicht angeordneten Fahrzeuge, die der Bewegung des Schiffs folgend auf und ab wogten, hin und her, erinnerten Okura an einen ungeschnittenen Bogen Dollarscheine, eine Einheit, die sich im gleichen Rhythmus hob und senkte.

Die Witterung musste sich dramatisch verschlechtert haben. Das Knarren und Knirschen und Ächzen war lauter geworden, das Rollen des Schiffs heftiger. Einige Male schlugen Seen mit solcher Gewalt gegen den Rumpf, dass Okura wie ein wild ausschlagendes Pendel nach hinten flog, und wenn im Rückschwung seine Fußsohlen wieder gegen das Deck schmetterten, fühlte es sich an, als würden sämtliche Knochen zersplittern.

Irgendwo unter ihm hatte sich Wasser angesammelt. Okura hörte es schwappen und gurgeln, und irgendwo in der Dunkelheit fielen Tropfen. Das Deck war glitschig. Aus den Autos sickerten Motoren- und Getriebeöl, das sich auf der geneigten Fläche ausbreitete. Okura stellte sich die schwarze, schlammige Mixtur am Grund des Frachtdecks vor, malte sich aus, wie es wäre, in die kalte Brühe zu stürzen, darin zu versinken, röchelnd Öl und Salzwasser auszuhusten. Und womöglich ihm wiederzubegegnen, Tomio Ishimaru. Okura hatte den alten Freund von der kleinen Plattform geschoben und gehört, wie die Leiche im Fallen einmal, zweimal mit etwas kollidierte, Autos wahrscheinlich, dann ein Klatschen, und der Komplize, der Mitwisser, der Teilhaber war verschwunden.

Fünfzig Millionen Dollar. Jetzt gehören sie mir allein.

***

Am Ende des Seils angekommen, und noch immer keine Spur vom Aktenkoffer. Okura wickelte sich den letzten Meter um die behandschuhte Hand, suchte sich einen Vorsprung, auf dem er stehen konnte, rollte die schmerzenden Schultern und trank gierig aus einer seiner Wasserflaschen. Sondierte die Lage. Autos, überall. Unbelebte Materie, doch in der Masse und von Dunkelheit umhüllt erzeugte sie die Atmosphäre eines subtilen Horrorfilms.

Drei oder vier Reihen weiter unten ahnte Okura die Bordwand der Lion. Ein See aus öligem Wasser hatte die erste Reihe der Fahrzeuge verschlungen und die Hälfte der zweiten. Scheinwerfer stierten aus den trüben Fluten wie die Augen von Seeungeheuern. Und nirgends ein Aktenkoffer.

Er musste bis ganz nach unten gefallen sein, schwamm vermutlich irgendwo zwischen den versunkenen Autos. Hoffentlich war er wasserdicht. Was für eine Ironie des Schicksals, all die Mühen und Gefahren auf sich genommen zu haben für einen Batzen aufgeweichter, unleserlicher und vollkommen wertloser Papierfetzen. Die perfekte Pointe für diesen ganzen jämmerlichen Witz.

Magnusson wird die Lion in Schlepp nehmen, überlegte er und starrte in den schwarzen Teich mit den versunkenen Nissans. Man wird das eingedrungene Wasser abpumpen, das Schiff richtet sich auf, und ich schnappe mir den Aktenkoffer, sobald man wieder etwas sehen kann und sich vernünftig bewegen kann. Zum Teufel mit der Kraxelei hier unten.

Er richtete sich auf und streckte die Arme, spürte schon den Seewind im Gesicht und roch den frisch gebrühten Kaffee in der Kombüse der Salvation. Doch als er sich umdrehte und anschickte, zur Luke hinaufzuklettern, fiel ihm etwas ins Auge, ein mattes Aufleuchten im Schein der Stirnlampe. Er schaute genauer hin und siehe da! Der Aktenkoffer!

Da lag er auf der Windschutzscheibe einer Sportlimousine, fünf oder sechs Reihen von ihm entfernt. Der Himmel mochte wissen, wie Ishimaru es geschafft hatte, das verdammte Ding mit einem Fußtritt so weit weg zu befördern, aber dort lag es, trocken und soweit erkennbar, unbeschädigt.

Und wartete darauf, dass er es holte.