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Der Dolphin setzte McKenna und ihr Team auf dem Wetterdeck an Steuerbord ab, genauer gesagt auf der Außenwand des Deckshauses. Von dort seilte sich das Team durch den hinter einer Luke mittschiffs befindlichen langen und dunklen Niedergang zu den Ladedecks ab. Ridley blieb an Deck zurück, während die anderen auf geknoteten Strickleitern, mit je zwei Karabinerhaken am Klettergeschirr gesichert, nach unten stiegen.

Safety first.

Im Innern des Schiffs, vor dem Wind geschützt, war es ruhiger, nur die Seile schlugen jedes Mal aus wie Uhrpendel, wenn eine Welle traf. McKenna achtete akribisch darauf, immer mit einem Karabiner gesichert zu sein. Es war ein langer Weg nach unten.

Auf der Lion gab es neun Ladedecks, Decks vier bis zwölf, von unten nach oben nummeriert. Sie wollten nach ganz unten, Deck vier. Es war ein langer Abstieg, feucht und kalt, geisterhaft die regellos huschenden Lichtstrahlen der Stirnlampen, die von den Wänden widerhallenden, angestrengten Atemzüge der Kletterer im Rhythmus des Abwärtssteigens.

Endlich spürte McKenna festen Boden unter den Füßen und fand sich in einem Escher-Chaos aus Linien und Winkeln wieder. Den festen Boden bildete im Grunde das Vertikalschott mit der wasserdichten Tür zum Deck vier.

Im eigentlichen Boden, der mit der Wand den Platz getauscht hatte, gab es noch eine Luke. Sie führte weiter nach unten, zu den Decks und Betriebsgängen unterhalb der Laderäume, wo von der Besatzung regelmäßig die Füllstände in den Treibstoff- und Wassertanks zu kontrollieren waren. Auch sie mussten noch in diesen Orkus, aber erst einmal galt es festzustellen, wie viel Leckwasser bereits im Schiff war.

Matt und Stacey trafen kurz nach McKenna unten ein, dicht gefolgt von Court Harrington. Die beiden Jonasse waren außer Atem, die Gesichter von der Anstrengung gerötet. Court stupste Stacey freundschaftlich in die Rippen. »Ganz schön weit weg von Baja, oder?«

Sie lächelte unbekümmert. »Jep, aber die Gesellschaft ist besser.«

McKenna mischte sich ein. »Court, das Deck wird nicht unter Wasser stehen, wenn ich die Tür aufmache? Mir ist heute absolut nicht nach Ertrinken.«

Harrington schaute auf seinen Laptop. »Wasser ist da, aber überflutet? Nein. Nicht meinen Berechnungen zufolge jedenfalls.«

»Und wie groß ist dein Vertrauen in diese Berechnungen?«

»Grenzenlos.«

McKenna seufzte. »Gleich wissen wir’s genau.« Sie drehte an dem Rad und hielt den Atem an, als sich, begleitet vom Zischen der Hydraulik, die Verriegelung löste, aber es folgte kein gewaltiger Wasserschwall. Sie zog die Tür langsam auf, lugte durch den Spalt. Kein Wasser.

Nur Autos. Viele Autos, wie in tollkühner Schussfahrt auf dem ölig schillernden Deck erstarrt. Jedes einzelne schien mit stummem Aufbäumen gegen die aufgezwungene Bewegungslosigkeit zu protestieren, wenn wieder eine Welle gegen das Schiff hämmerte.

Düster und bedrohlich reihten sie sich von der hochgelegenen Steuerbordseite nach Backbord, weiter, als der Schein von McKennas Stirnlampe reichte. Man ahnte nur die lauernden Silhouetten in der Schwärze.

Und irgendwo da unten gluckerte und gluckste Wasser.

»Wir haben Leckwasser in diesem Laderaum«, informierte sie die anderen. »Court hat recht gehabt. Gehen wir runter und sehen nach.«

Matt Jonas machte am Fuß der Treppe eine weitere Leine fest und warf sie durchs Schott, anschließend eine zweite. Zwischen den Fahrzeugen war nicht genug Platz für eine dritte, deshalb sollte McKenna Court an seinem Seil folgen.

Stacey machte den Anfang. Sie seilte sich rückwärtsschreitend ab, gleichmäßig wie ein Uhrwerk, kein noch so geringfügiges Zögern, keine Spur von Angst. McKenna wusste, diese Frau war immun gegen Klaustrophobie oder Panikattacken, sie bewahrte auch in brenzligen Situationen stets einen kühlen Kopf.

Und brenzlig werden konnte es sehr leicht. Die Lion verfügte über drei Rampen für das Be- und Entladen der rollenden Fracht. Die sieben Meter hohe Winkelheckrampe lag ein gutes Stück oberhalb der Wasserlinie, deshalb stellte sie kein Problem dar. An Steuerbord mittschiffs gab es eine zweite, kleinere Ladeluke, wegen der Schlagseite der Lion ebenfalls völlig unproblematisch. Allerdings hatte sie ein Gegenstück an Backbord, und das lag aus demselben Grund zu zwei Dritteln unter Wasser. Natürlich galten die Luken als wasserdicht, doch es war schon Wasser im Laderaum. Das sprach dafür, dass Wasser einsickerte, zusätzlich zu dem, das durch die Lüftungsschächte hereinkam. Wenn es einen Kurzschluss gab und die Luke aufging, stürzte das Meer herein und verwandelte Deck vier in ein riesiges Aquarium. Für die dort befindlichen Menschen bedeutete es das Ende.

Sinnlos, sich deswegen verrückt zu machen. Noch war die Rampe geschlossen.

Court Harrington folgte Stacey. McKenna gab ihm eine Minute Vorsprung. Neben ihr stand stumm und mit unbewegter Miene Matt Jonas und überwachte die Operation. Falls er sich um seine Frau Sorgen machte, zeigte er es nicht.

McKenna schaute ihn an, und er lächelte. »Dann los, du bist die Nächste.«

Na gut. Sie klinkte sich ein und stieg rückwärts durch die Türöffnung.

Das Deck war von einer schmierigen Schicht überzogen. Man musste doppelt aufpassen, um nicht abzurutschen und unversehens bäuchlings auf den abschüssigen Stahlplatten in die Tiefe zu schlittern. Und da waren noch die Autos, soweit sie erkennen konnte aus dem oberen Preissegment und entsprechend massig, die an ihren Fesseln rüttelten – eine nicht zu ignorierende Gefahr.

Fast eine Erlösung Staceys Stimme aus der Tiefe: »Gefunden. Heiliger, ziemlich viel Wasser hier unten.«

Etwa zehn Meter unterhalb von McKenna warteten Stacey und Harrington am Rand eines öligen Sees. Sie sah wenigstens zwei komplette Reihen Autos unter Wasser, vielleicht mehr. Unheimliche Schemen, aber eigentlich bedauernswert. Selbst wenn es gelang, die Pacific Lion zu bergen, führte ihr Weg in die Schrottpresse. Positiv war, dass der Wasserpegel nicht sichtbar anstieg.

Stacey zog einen Entfernungsmesser aus ihrer Gürteltasche, ein Kästchen, ähnlich einem elektronischen Metermaß aus dem Baumarkt. Sie stieg so weit wie möglich nach unten, richtete den Laser über die Wasserfläche hinweg zur anderen Seite und rief die gemessene Entfernung zu Court Harrington hinauf. Dann zielte sie mit dem Laser ins Wasser, zwischen zwei Reihen Autos, und meldete die Entfernung zur Bordwand.

Harrington schrieb die Zahlen in sein Notizbuch. »Simple Trigonometrie«, sagte er zu McKenna. »Wenn wir ungefähr wissen, mit welcher Wassermenge wir es in diesem Laderaum zu tun haben, dann wissen wir auch, wie das Schiff sich verhält, wenn wir die Lenzpumpen in Betrieb nehmen.«

»Großartig.« McKenna schielte auf die hingekrakelten Zahlen und Symbole. »Und wie viel Wasser ist es nun?«

»Haben wir gleich.« Harrington tippte mit dem Bleistiftende auf das Notizbuch, während Stacey eine dritte Maßangabe nach oben rief. »Wenn man die Länge des Schiffs in Betracht zieht, die Fahrzeuge im Wasser, das Wasser in den oberen Decks …« Er hielt inne, warf ein paar Zahlen aufs Papier. »Grob überschlagen, haben wir es mit annähernd fünfzehntausend Tonnen Leckwasser zu tun. Und mit jeder Welle wird es mehr.«

McKenna riskierte noch einen Blick auf das kryptische Zahlengewirr. »Das ist verdammt viel Wasser«, meinte sie. »Willst du vielleicht auf deinem Laptop noch einmal nachrechnen?«

Harrington schüttelte den Kopf, weil ein Genie wie er sich selbstverständlich niemals irrte. »Nicht nötig. Jetzt brauchen wir nur noch Mengenangaben für alle anderen Flüssigkeiten an Bord – Schweröl und Bal-last und Trinkwasser und was weiß ich –, dann können wir loslegen.«

Wieder donnerte eine Welle gegen das Schiff und versetzte die hängenden Autos in Aufruhr. McKenna dachte an die Ventilationsöffnungen unter der Reling und malte sich aus, wie sie alle paar Minuten Wasser schöpften. Auf der Pacific Lion gab es dreiunddreißig Tanks, deren Inhalt ermittelt werden musste. Draußen nahte das Sturmtief. Es war keine Zeit zu verlieren.

»Wir müssten Prioritäten setzen«, sagte sie zu Harrington. »Wenn es uns nicht gelingt, den Zufluss von Wasser zu unterbinden, übersteht dieses Schiff den Sturm nicht.«

»Wir könnten die Öffnungen verschließen«, schlug Stacey vor, die über der Bilge pendelte. »Panzerplatten davor festschweißen. Die Ausrüstung haben wir.«

McKenna überlegte. Die Gale Force so nah an einem möglicherweise kenternden Schiff parken? Bei diesen Wetterverhältnissen und so lange? Ungern, höchst ungern. »Andere Vorschläge?«

Harrington schrieb in sein Notizbuch. »Wenn wir die Bilge auspumpen, korrigieren wir …« Er tippte wieder mit dem Bleistift auf die vollgekritzelte Seite. »Den Krängungswinkel um acht Grad. Dadurch verbessern wir uns von den momentanen dreiundsechzig Grad auf weniger anfällige fünfundfünfzig.«

»Könnte fürs Erste genügen«, sagte McKenna. »Je weiter die Öffnungen vom Wasser entfernt sind, desto besser.«

»Das ist eine Menge zu pumpen, McKenna«, gab Stacey zu bedenken. »Es wird die ganze Nacht dauern, das Wasser aus dem Schiff zu befördern.«

McKenna dachte an ihre Koje auf der Gale Force, Jason Parents gute Hausmannskost. Nicht heute Nacht, Mädchen.

»Klingt realistisch«, erwiderte sie. »Krempeln wir die Ärmel hoch.«