Bei Tagesanbruch war McKenna sicher, dass sie fühlen konnte, wie das Schiff sich aufrichtete. Der Wasserstand im Laderaum war merklich gesunken, und die Pumpe förderte immer noch. Wenn sie nach oben schaute, war das Quadrat der Lukenöffnung jetzt hellgrau, und der Wind hatte hörbar aufgebrist. Das Schiff rollte heftig in einer aufgewühlten See. Zwischen zwei Besuchen an der Pumpe, um Benzin nachzufüllen, kletterte McKenna zur Luke auf Deck sieben, um einen Blick auf das Wetter zu werfen.
Einem Schönwettersegler wäre das Herz in die Hose gerutscht. Der Ozean war eine tobende Masse aus zu weißem Schaum geprügeltem Wasser und steilen Seen mit bleigrauen Flanken. Sie wuchsen ansatzlos aus der Tiefe, brachen, versanken, erhoben sich wieder als gischtgefleckte Walzen, die heranrollten und an der Lion donnernd zerschellten. McKenna starrte auf das Chaos und verwünschte Christer Magnusson. Er hatte kostbare Zeit verschwendet, und sie mussten es ausbaden.
Harrington erwachte kurz nach Tagesanbruch, rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf. »Meine Wache?«
McKenna antwortete nicht gleich. Sie war die ganze Nacht wach geblieben, hatte die Pumpe gehütet und Harrington schlafen lassen. Bloß nicht das Gespräch vom Abend fortsetzen müssen.
»Ich fand, du als Gehirn der Operation könntest den Schlaf brauchen«, antwortete sie. »Außerdem ist es immer noch früh. Du kannst mich jetzt für eine Weile ablösen.«
Harrington musterte sie. Sah aus, als läge ihm eine Frage auf der Zunge, aber: »Fühlt sich an, als wäre das Wetter ziemlich rau geworden«, sagte er stattdessen.
»Windstärken bis vierzig Knoten.«
»Bist du müde?«
»Nicht mehr als sonst auch.«
»Ich habe mir überlegt, dass ich schon anfangen könnte, Daten zu sammeln. Den Füllstand der Ballasttanks protokollieren und so weiter. Falls es dir nichts ausmacht, noch länger auf die Pumpe aufzupassen.«
McKenna dachte über den Vorschlag nach. In Anbetracht der Wetterentwicklung konnten sie gar nicht früh genug anfangen. Und etwas Abstand zu Harrington wäre erholsam. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Ich kann dich nicht allein auf diesem Kahn herumwandern lassen. Zu riskant. Warte noch eine Stunde, dann gehen wir zusammen.«
Harrington zögerte. Dann nickte er. »In Ordnung, McKenna«, sagte er. »Okay.«
***
Kurz nach sieben Uhr schickte die Coast Guard ihren Dolphin. McKenna stand mit Ridley auf dem Wetterdeck bereit und nahm den Korb in Empfang – Nachschub von der Gale Force. Frisch gemachte Brote, heißer Kaffee, Benzin für die Pumpen. Ridley übernahm die Aufsicht über die Pumpe auf Deck vier, und McKenna ging mit Harrington zu Matt und Stacey, die sich ebenfalls ein Nest gebaut hatten, um auf ihre Pumpe aufzupassen.
»Wie macht sie sich?«, fragte McKenna.
»Keine Probleme bis jetzt«, antwortete Stacey. »Und der Krach übertönt Matts Geschnarche. Fast.«
»Alles nur dir zuliebe, weil ich dachte, du vermisst die beiden Diesel auf der Gale Force«, lachte Matt. »Du liebst mich, gib’s zu.«
Er beugte sich vor, um sie zu küssen, was Stacey pro forma abwehrte, um schließlich doch nachzugeben, und es war schmalzig, romantisch und furchtbar für McKenna und Harrington, die an ihre hochnotpeinliche Unterhaltung vom Abend zuvor denken mussten.
Stacey bemerkte die betretenen Mienen. Verstand sofort. »Heiliger«, sagte sie und wurde rot. »Entschuldigt, Leute. Wir haben vergessen, dass wir nicht allein sind.«
Harrington setzte zu einer Antwort an, McKenna ebenfalls. Sie sprudelten beide gleichzeitig los und vergrößerten die Peinlichkeit um den Faktor zwei.
»Vergesst es«, winkte McKenna schließlich ab. »Ich mache mit Court die Runde zu den Ballastwassertanks. Füllmaterial für die leeren Stellen in seinem Computerprogramm. Ihr zwei bleibt bei der Pumpe, bis wir zurückkommen oder der Laderaum trocken ist, was immer zuerst passiert. Bis dahin wird Court hoffentlich einen Plan für uns haben.«
Matt schaute Court an. »Ich könnte mit Court gehen«, schlug er vor. »Falls du dich ein Stündchen aufs Ohr legen möchtest oder so.«
Guter Gott. Deshalb sollte man nie etwas mit einem Kollegen anfangen.
»Ich gehe«, antwortete McKenna bestimmt. »Ihr beiden bleibt hier.«
»O-kay.« Matts Miene drückte Zweifel aus. »Dann passt gut auf euch auf. Da unten ist es nicht ungefährlich.«
»Wir sind vorsichtig«, sagte Court. Sein Mir-kann-keiner-Lächeln war verschwunden. McKenna hätte gern gewusst, ob wegen des Abstiegs in die Unterwelt oder weil ihm der Gedanke, längere Zeit mit ihr allein zu sein, Unbehagen verursachte.
Falls es Ersteres war, sprach es für ihn, dass er die Sache nicht auf die leichte Schulter nahm. Ballast- und Treibstofftanks der Pacific Lion befanden sich zuunterst im Schiffbauch, direkt über dem Kiel, um durch einen möglichst tiefen Schwerpunkt die Stabilität zu verbessern. Das hatte zur Folge, dass man von Deck vier aus noch weiter nach unten steigen musste, bis zu Deck eins, das an Backbord mehr als zwanzig Meter tief unter Wasser lag. Dort war es finster und eng, und wenn etwas passierte, tendierten die Überlebenschancen gegen null.
Das Risiko gehe ich ein, dachte McKenna. Alles ist besser, als hier oben zu bleiben und ein Frauengespräch über Beziehungen im Allgemeinen und im Besonderen zu führen.
Auch Matts und Staceys Niedergang endete auf Deck vier, doch wo die Stufen aufhörten, stießen sie auf eine wasserdicht verriegelte Luke, die sich erst nach einiger Mühe öffnen ließ. Sie machten eine Schlaufenleiter fest und ließen sie in die Dunkelheit fallen.
McKenna fing Staceys besorgten Blick auf, als sie sich anschickte, durch die Luke zu steigen. »Seid vorsichtig«, sagte Stacey. »Ich mein’s ernst.«
»Schon vergessen, was Court gesagt hat?«, antwortete McKenna. »Uns passiert nichts.«
Sie klinkte den Karabiner in die erste Schlaufe, ließ sich durch die Öffnung gleiten und suchte mit den Füßen die schräge Wand. Schritt für Schritt wanderte sie abwärts.
Die Schlagseite der Lion hatte sich tatsächlich merkbar verringert. Einerseits erfreulich, weil die Ventilationsöffnungen sich weiter und weiter vom Wasser entfernten, andererseits wurde es schwieriger, sich im Schiff zu bewegen. Parallel zum Krängungswinkel veränderte sich die Neigung von Boden und Wänden, bis man bei fünfundfünfzig Grad auf den Wänden nicht mehr und auf dem Boden noch nicht gehen konnte. Und bevor es in Sachen Fortbewegung schließlich besser werden würde, standen McKenna und ihre Crew problematische Zeiten bevor.
Davon abgesehen, gab es noch einen gravierenden Nachteil. Je weiter die Lion sich aufrichtete, desto mehr Angriffsfläche bot sie dem Wind und war für die Gale Force umso schlechter zu beherrschen. Bei nur vierzig Seemeilen freiem Wasser zwischen der Lion und den Inseln durfte buchstäblich nichts aus dem Ruder laufen.
Wir müssen das Schiff aufrichten, damit wir den Sturm irgendwo abwettern können, dachte McKenna, als wieder einmal eine harte See sie an ihrem Seil wie einen Jojo hochschnellen und abwärtssausen ließ. Sie klammerte sich aus Leibeskräften fest, klinkte mit zitternden Händen den Karabiner ein und atmete tief durch.
Versuch nicht abzustürzen, ermahnte sie sich selbst. Dir selbst und den anderen zuliebe, nicht abstürzen.
***
McKenna lernte schnell, dass man in den langen Betriebsgängen über dem Kiel am besten kriechend vorwärtskam. Die Stahlplatten waren eiskalt, der ungünstige Winkel von Schott und Wand erforderte einige Gelenkigkeit, aber es war weniger anstrengend, als sich aufrecht gehend gegen die Schlagseite und das ständige Rollen des Schiffs behaupten zu müssen. Harrington führte durch ein Labyrinth ungekennzeichneter Korridore, die einer aussahen wie der andere. Offenbar hatte er den Konstruktionsplan des Schiffs im Gedächtnis gespeichert; jedenfalls schien er sich seiner Sache ganz sicher zu sein.
»Du hast deine Hausaufgaben gemacht, Respekt«, sagte Mc Kenna zu seinen Schuhsohlen.
Harrington warf einen Blick über die Schulter. »Tja«, meinte er, »ich habe zwar gesagt, dass man auch Glück braucht, was aber nicht heißt, dass man nichts können muss.«
Die Ballasttanks an Steuerbord waren leer. Knochentrocken. Harrington machte einen Vermerk in seinem Notizbuch. »Das erklärt das ganze Malheur. Ich glaube nicht, dass sie es so geplant hatten.«
»Der vorgeschriebene Ballastwasseraustausch.« McKenna nickte. »Nur haben sie Mist gebaut und vergessen, das japanische Wasser durch amerikanisches zu ersetzen.«
»Dann ist das Problem kein Problem«, verkündete er. »Wir pumpen Wasser aus den Backbordtanks nach Steuerbord und hoffen, dass wir ein Gleichgewicht herstellen können.«
Hoffen.
»Wenn du sagst, der Computer zeigt dir die Chancen und Risiken an, was heißt das genau?«
»Es heißt …« Harrington stieß den Atem aus. »Also. Ich habe mehrere Simulationen gefahren, aber wie schon gesagt, etwas Glück gehört dazu. Bei jeder vierten oder fünften Simulation richtet das Schiff sich auf, aber die Drehung um die Längsachse setzt sich fort, bis es auf der Steuerbordseite liegt.« Er machte eine Pause. »Und sinkt.«
»Bei einem von fünf Versuchen?«
»Pocket aces.« Harrington wandte den Kopf über die Schulter und grinste. »Wenn man beim Pokern von Anfang an zwei Asse auf der Hand hat. Das Beste, was einem passieren kann. Sichert dir eine achtzigprozentige Gewinnchance gegen jede beliebige andere Hand. Damit gehen wir ins Spiel, McKenna. Pocket aces.«
Pocket aces. »Wie war das noch, als du aus diesem Pokerturnier geflogen bist?«, fragte sie zuckersüß.
Harringtons Lächeln erlosch. »Darüber will ich nicht reden«, sagte er. »Los, weiter.«
***
Sie arbeiteten sich an der Steuerbordseite der Lion entlang, kontrollierten die Füllstände von Ballasttanks, Treibstoffen und Bilge. Die Lion verfügte über eine Anlage zur Abwasseraufbereitung und natürlich Tanks für Frischwasser. Die leeren Seiten in Harringtons Notizbuch wurden weniger.
Sie stiegen durch einen weiteren engen Gang zur Backbordseite ab. Dort herrschte Totenstille. Wasser tropfte aus Ritzen und Fugen und sammelte sich zu Pfützen – Sickerwasser von den Frachtdecks. Die Schotten der Lion hielten dicht, und Deck vier musste inzwischen leergepumpt sein, aber McKenna fühlte sich deswegen kein bisschen wohler. Sie fühlte sich von Wasser eingeschlossen, bedrängt, bedroht.
Harrington schüttelte sich. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wie sich das Leben auf einem U-Boot anfühlt.«
Anders als die an Steuerbord, waren die Ballasttanks an Backbord gefüllt, was Harrington noch optimistischer stimmte. »Wir pumpen die Hälfte nach drüben, bis wir etwa Gleichstand haben«, sagte er zu McKenna. »Die Situation könnte viel schlimmer sein. Ich meine, wenigstens hat der Rumpf kein Leck.«
»Stimmt.« McKenna schaute zu, wie er noch etwas aufschrieb und einen schwungvollen Strich darunter zog. »Was hat dich eigentlich an diesem Gebiet fasziniert?«
Harrington hob den Blick. »Ballastwasser pumpen?«
»Schiffe. Mein Vater hat immer gesagt, du hättest einen Verstand wie kaum ein anderer. Du könntest, was weiß ich, Raketen bauen oder so was. Wieso Schiffbau und maritime Technik?«
»Wieso nicht? Ich hatte immer schon ein Faible für Schiffe. Mein Vater hat mich als Kind mit zum Hafen genommen und mir von den großen Frachtschiffen erzählt, die wir dort liegen sahen. Ich glaube, insgeheim hat er davon geträumt, auf einem davon anzuheuern und in die weite Welt hinauszufahren.« Er zuckte mit den Schultern. »Wie dem auch sei, als ich älter wurde, habe ich mir vorgestellt, dass ich mal Schiffbauer werden würde, dann aber stellte sich heraus, dass es in den Vereinigten Staaten für Schiffbauer kaum noch Arbeit gibt. Außerdem ist das hier spannender.« Er lachte. »Und lukrativer, wenn man’s richtig macht.«
»Ja, wenn.«
»Trotzdem besser als ein Schreibtischjob.« Harrington zeigte mit dem Bleistift nach vorn. Sie waren an ein weiteres wasserdichtes Schott gelangt. »Der Maschinenraum. Nur noch ein paar Tanks kontrollieren, und wir können die Pumpen herschaffen und anwerfen.«
McKenna hörte es gern. Sie gierte nach Weite und frischer Luft.
Harrington versuchte, die Tür zu öffnen. Rüttelte am Hebel. Nichts. »Zu früh gefreut«, meinte er. »Wir kommen nicht rein.«