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Nach zwanzig endlosen Minuten traf der Helikopter der Coast Guard ein. Der Sanitäter brauchte weitere zwanzig Minuten für den Abstieg.

Harrington hatte die Augen nicht wieder geöffnet. McKenna hatte wiederholt den Puls gefühlt. Er war immer noch schwach, aber deutlich und regelmäßig. Der verschwommene Blick, mit dem er sie angesehen hatte, deutete nach McKennas Meinung auf eine Kopfverletzung, mindestens eine Gehirnerschütterung hin. Knochenbrüche? Garantiert. Bleibende Schäden? Für immer gelähmt? In McKennas Kopf drehte sich das Gedankenkarussell.

Der Sanitäter sprang von der Schlaufenleiter, stellte seinen Koffer ab. »Wahrscheinlich habt ihr dieselbe Welle abbekommen, die uns getroffen hat. Zehn Meter, wenn nicht mehr.«

McKenna antwortete nicht. Der Sanitäter untersuchte Harrington behutsam. »Ja, okay«, meinte er. »Bleiben Sie bei ihm. Ich sage oben Bescheid, dass wir die Trage brauchen.«

Es dauerte noch einmal zwanzig Minuten, bis die Trage da war. Inzwischen war seit dem Sturz eine Stunde vergangen. McKenna konnte die Minuten verstreichen fühlen, genau wie damals, als ihr Vater über Bord gegangen war.

Komm schon, komm schon, komm schon …

Matt Jonas ließ die Trage von Deck vier zu ihr herunter. Das Ding war lang und sperrig, pendelte hier scheppernd gegen die Stufen, scharrte da an der Wand entlang. McKenna wurde angst und bange. Wie sollten sie Court nach oben transportieren, ohne dass er sich noch mehr verletzte?

Der Sanitäter legte die Trage neben Harrington auf den Boden, und unterstützt von McKenna gelang es ihm, den Verletzten transportfertig zu machen. Harrington war immer noch bewusstlos. Er atmete flach.

»Wir machen es folgendermaßen«, erklärte der Sanitäter. »Sie klettern nach oben zu den anderen, und ihr zieht die Trage nach oben. Ich bleibe neben ihm und sorge dafür, dass die Trage nicht ins Pendeln gerät. Dann dasselbe noch einmal bis hinauf zum Wetterdeck.«

»Verstanden.« McKenna griff nach der Schlaufenleiter. Richtete den Blick auf Harrington. »Seien Sie vorsichtig, ja?«

Der Sanitäter machte sich an der Trage zu schaffen. »Ich passe schon auf«, sagte er. »Aber je schneller er abtransportiert wird, desto besser.«

***

McKennas Tempo auf der Schlaufenleiter war rekordverdächtig, zumal sie auf die Sicherung mit dem Karabiner verzichtete, jedenfalls bis wieder eine Welle sie fast vom Seil geschüttelt hätte. Sie machte die Augen zu, sah Harrington fallen, hörte den dumpfen Schlag des Aufpralls. Öffnete die Augen, angelte nach dem Karabiner und sicherte sich den Rest des Aufstiegs vorschriftsmäßig.

Stacey stand neben Matt an der Luke. Sie trat zur Seite, während Matt und McKenna Harrington nach oben hievten. Der Wunderknabe war nicht besonders schwer, jedenfalls nicht, wenn man zu zweit am Seil zog, und aus irgendeinem Grund versetzte das McKenna einen schmerzhaften Stich.

Das wichtigste Mitglied in diesem Team, und du musstest an ihm herumnörgeln. Gott helfe dir, wenn er deinetwegen stirbt.

Harrington war nach wie vor bewusstlos, als sie die Trage greifen konnten, sie herauszogen und vorsichtig auf den Boden legten. Stacey legte die Hand an den Hals und flüsterte: »Lieber Gott!«

Der Sanitäter stieg aus der Luke. »Auf ein Neues«, sagte er. »Habt ihr noch genug Power?«

»Sonst übernehme ich«, erbot sich Stacey, aber ihr Mann und McKenna waren schon unterwegs.

Der Wind riss McKenna den Atem vom Mund, als sie, oben angekommen, den Kopf aus der Luke steckte. Der über dem Schiff stehende Helikopter wurde von den Böen hin und her gestoßen. Der Himmel war immer noch stumpfgrau, die fliegende Gischt strahlend weiß wie Baiser.

Ridley half McKenna aufzustehen, dann griff er nach dem Seil und hob mit Matt zusammen Harringtons Trage aus dem Niedergang.

Die Prozedur dauerte gefühlte Stunden. Der Wind legte noch einige Knoten zu, zerrte an Kleidern und Haaren. McKenna spürte ihre Hände kaum noch und bemühte sich, die innere Stimme zu ignorieren, die ihr zuraunte, dass sie die Pacific Lion abschreiben konnte. Frei nach Lloyd’s Open Form: No Court, no cure, no pay. Kein Court, keine Bergung, keine Bezahlung.

Schließlich lag die Trage mit Harrington auf dem nicht mehr ganz so stark geneigten Deck. Der Sanitäter gab dem Bordmechaniker das Zeichen, das Windenseil abzulassen. Der Mann brauchte mehrere Versuche, weil der Wind das Seil wegriss. Beim dritten Mal landete es zehn Meter neben dem Ziel. McKenna und Matt rannten hin, zogen es zur Trage und halfen dem Sanitäter, sie anzuhängen. Vier Augenpaare, dann fünf, als Stacey an Deck erschien, folgten Harrington himmelwärts.

Als Nächstes war der Sanitäter an der Reihe. McKenna hielt ihn am Arm zurück. »Wie schlimm ist es?«

Der Mann wich ihrem Blick aus. »Wir tun für ihn, was in unserer Macht steht. Wir haben ausgezeichnete Ärzte, aber Wunder vollbringen können sie nicht.«