Hiroki Okura hatte den mühevollen Weg vom Deckshaus zur Brücke hinter sich gebracht und starrte auf ein tollwütig gewordenes Meer.
Es sprang mit tausend Zähnen und Krallen gegen das Schiff, glitt ab und bäumte sich auf, um erneut anzugreifen. Achterliche Seen, Riesenwellen, die von hinten an die Lion heranrollten, sie ein- und überholten, den Frachter hochhoben und in lichtlose Klüfte zwischen bleigrauen Wasserwänden stürzten. Und alles war düster und kalt und schief und schwankte, wie von einer dämonischen Bosheit beseelt.
Der Anblick war atemberaubend und furchteinflößend. Hin und wieder brandete eine Welle über die Backbordreling, weißes Wasser überschwemmte das Vorschiff und prasselte gegen die Fenster der Brücke. Eine Monsterwelle konnte Schlimmeres anrichten, wusste Okura: die Fenster zerschmettern und ihn von seinem Hochsitz auf dem Kartentisch fegen, die Ventilationsöffnungen fluten, die in den Laderaum hinunterführten. Man konnte nichts tun, um das zu verhindern, nur das Beste hoffen. Die See führte den ersten Schlag, erst dann hatte der Mensch die Möglichkeit zu reagieren.
Die Bergungsmannschaft hatte offenbar einen Entschluss bezüglich ihres weiteren Vorgehens gefasst. Als er die Inseln an Steuerbord sah, wusste Okura, was sie tun wollten. Das mussten die Aleuten sein, das einzige Land auf Hunderte, sogar Tausende Meilen im Umkreis. Und da es bei Wind und See von achtern widersinnig war, die Lion mit ihrer umweltzerstörenden Fracht näher an Land zu schleppen, hatte man vor …
Man hatte vor, den Frachter zwischen den Inseln hindurch auf die andere Seite zu bringen und dort, in ruhiger See und vor dem Wind geschützt, die Arbeit fortzusetzen. Okuras Sicht nach vorn war eingeschränkt, weil die Lion mit dem Heck am Schleppdraht hing, aber er hoffte, dass die Durchfahrt breit war und der Schlepper stark genug motorisiert.
Seit dem Morgen mit dem Hubschrauber, dem Verunglückten und den fremden Leuten auf »seinem« Schiff hatte er sich im Mannschaftsdeck versteckt, schlief in seinem improvisierten Bett, unternahm, wenn er sich dem Gestank gewachsen fühlte, Ausflüge in die Kombüse, um seine Vorräte aufzufüllen, und vertrieb sich die Zeit mit Versuchen, den Code der Schlösser des Aktenkoffers zu knacken. Er hatte beschlossen, in der verhältnismäßig komfortablen Situation auszuharren, bis die Bergungsmannschaft das Schiff aufgerichtet und näher an die Zivilisation gebracht hatte. Erst dann wollte er sich grußlos empfehlen. Auf dem Schlepper ahnte man nichts von seiner Anwesenheit. Man wusste nichts von dem Aktenkoffer und dessen wertvollem Inhalt. Okura war überzeugt, auch weiterhin unentdeckt bleiben zu können und so eine Konfrontation zu vermeiden, doch es schadete nie, auf den Fall der Fälle vorbereitet zu sein.
Deshalb hatte er sich aus seinem Refugium herausgewagt und starrte nun wie gebannt auf die kochende See, bis ihm wieder einfiel, weshalb er eigentlich gekommen war.
Er riss sich von dem Anblick los und ging zu dem Schrank im Kartenraum, in dem sich der kleine Safe befand. Einen Meter hoch, breit und tief, an der Tür ein Zahlenkombinationsschloss.
Okura kannte die Kombination nicht, Kapitän Ise hütete diese privilegierte Information eifersüchtig. Aber Ise wurde alt und vergesslich. Okura hatte die Kombination in der Kabine des Kapitäns gefunden, auf einem Post-it notiert, das an seinem Schreibtisch klebte.
Jetzt hielt Okura sich mit einer Hand fest, während er mit der anderen das Zahlenrad drehte; das jähe Auf und Ab und Hin und Her komplizierte selbst diese simple Verrichtung. Es dauerte ein paar Minuten, aber zu guter Letzt hatte er die letzte Zahl eingestellt, drückte den Hebel nach unten, hörte die Riegel zurückspringen. Er zog die Tür auf und sah, was er zu sehen gehofft hatte.
Die Pacific Lion war mit Bargeld ausgestattet – dreißigtausend amerikanische Dollar –, um Hafengebühren und Lotsen zu bezahlen und den gelegentlichen korrupten Hafenbeamten zu schmieren. Über diesen Betrag verfügte der Kapitän und ausschließlich der Kapitän, aber Kapitän Ise war nicht an Bord, sondern längst wieder zu Hause, in Japan. Okura steckte die akkurat gebündelten Hundertdollarscheine in die Hosentaschen.
Doch sein Besuch galt nicht ausschließlich dem Geld. Hinten im Safe lag eine Pistole, eine Beretta M9, samt einem Stapel Ersatzmagazine. Ises letzte Bastion im Fall von Piraterie oder Meuterei.
Okura nahm die Waffe und die Magazine an sich. Hangelte sich zurück zum Kartentisch, um die Waffe in Augenschein zu nehmen. Die Beretta war elegant, mattschwarz und tödlich. Allein der Anblick wirkte auf Okura elektrisierend.
Er hatte noch nie auf jemanden geschossen. Er hatte auch jetzt nicht vor, auf jemanden zu schießen, doch als die Lion wieder von einer Welle in die Höhe getragen wurde und er durch die verglaste Brückenfront in der Ferne die Munro liegen sah, nimmermüder Bewahrer von Recht und Ordnung, war es ein gutes Gefühl, etwas Feuerkraft in der Hinterhand zu haben.