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Bei ihrer Rückkehr ins Ruderhaus war der Alarm verstummt. Sie stellte sich neben Matt und hielt Ausschau nach Anzeichen dafür, dass während ihrer Abwesenheit Probleme entstanden waren.

»Schaffen wir’s, was meinst du?«, fragte sie.

Matt schaute starr geradeaus, eine Hand am Ruder, die andere am Fahrtregler. Er hatte seine Sache gut gemacht und die Gale Force mehr oder weniger auf Kurs gehalten. Ein Blick nach hinten zeigte McKenna, dass die Lion nach wie vor in sicherem Abstand folgte.

»Wir schaffen’s«, antwortete er und schob das Kinn vor, »aber knapp. Die Steuerbordmaschine reißt sich grade den Arsch für uns auf.«

Er hatte die Gale Force im Griff. Sie machte genug Fahrt, dass die Ruder ansprachen und sie sich gegen die launische Strömung behaupten konnten. Doch vor ihnen lag noch ein großes Stück Ozean, bis sie die Passage hinter sich hatten, und McKenna konnte nur beten, dass der von Ridley reparierte Turbo durchhielt.

Wenn nicht, krepierte der Steuerborddiesel, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als den an Backbord zu zünden und die Daumen zu drücken, dass sie mit halber Kraft zu einem halbwegs geschützten Ankerplatz hinken konnten.

Das Funkgerät meldete sich. »Munro hier. Gale Force, wir haben bemerkt, dass Sie ein wenig ins Schlingern gekommen sind. Stecken Sie in Schwierigkeiten?«

»Alles in Ordnung, Munro.« McKenna war erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang. »Wir hatten ein kleines Problem mit der Motorkühlung, aber das ist behoben.«

Eine Pause. McKenna stellte sich vor, dass Tom Geoffries auf seinem Kapitänsstuhl gerade eine mittlere Panikattacke erlebte, weil er vor seinem inneren Auge die Gale Force ruderlos auf die Felsen treiben sah, die Pacific Lion auseinanderbrechen und einen sich unaufhaltsam ausbreitenden schwarzen Ölfilm auf dem Wasser.

Da sind wir schon zu zweit, Tom.

»Okay, Gale Force«, antwortete die Munro. Der Funker hörte sich an, als wäre er nicht hundertprozentig überzeugt von McKennas Behauptung, dass alles in Ordnung sei. »Halten Sie uns bitte über Ihre Situation informiert.«

McKenna versicherte ihm, dass sie das selbstverständlich tun werde. Legte auf und löste Matt Jonas am Ruderstand ab. Atmete mehrmals tief ein und aus, um ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen und den Adrenalinpegel herabzufahren, und konzentrierte sich darauf, ihr Schiff mit dem Havaristen im Schlepp durch den Samalga Pass zu fahren.

***

McKenna steuerte Kurs Nord, an Chuginadak Island vorbei. Der Krater von Mount Cleveland gloste düster-rot hinter der Nebelwand. Danach ging es zwischen den kleineren Inseln hindurch, Kagami und Ulaga an Backbord und an Steuerbord, fünf Meilen vor der Nordwestküste von Unmak Island gelegen, Adugak, winzig klein, kaum mehr als ein steinerner Pickel, der aus dem Meer lugte.

Die Tide trug sie in den sich weitenden Auslass der Passage, die Strömung verflachte, und das Beringmeer tat sich vor ihnen auf. Der Motor an Steuerbord versagte nicht. Der Turbolader funktionierte. Die Schleppdrähte hielten, und die Lion kenterte nicht. Der Meeresboden fiel ab auf sechshundert Faden, und die Inseln hielten den Wind ab. Statt Monsterwellen mäßige Dünung.

Sie hatten es geschafft.

Die Munro am Funkgerät. Kapitän Geoffries. »Gratulation, Kapitän Rhodes. Und wissen Sie schon, wo Sie den Kasten parken wollen?«

McKenna konsultierte den GPS-Monitor, suchte nach einem geschützten Ort, an dem sie durchatmen und überlegen konnten, wie es weitergehen sollte. Wurde fast sofort fündig.

»Inanudak Bay«, sagte sie zu Geoffries. Inanudak Bay war eine Bucht an der unbewohnten Nordseite von Umnak Island, zehn Meilen breit, als hätte jemand zwischen den drei Vulkanen der Insel ein Stück Land herausgebissen. Allem Anschein nach bot sie sowohl einen geschützten Ankerplatz als auch Raum genug, um mit Anhang zu manövrieren, falls es Schwierigkeiten gab.

»Gute Wahl«, lobte Geoffries. »Dort sind Sie bestens aufgehoben.«

McKenna berechnete den Kurs. »Jetzt ist es halb fünf«, sagte sie. »Wenn wir ankommen, ist es noch hell, und wir können uns überzeugen, ob der Platz geeignet ist. Wenn ja, werfen wir Anker und holen erst einmal den versäumten Schlaf nach.«

»Verstanden. Geben Sie Bescheid, wenn Sie Unterstützung brauchen. Unsere Ressourcen stehen Ihnen zur Verfügung.«

McKenna dankte, wünschte Kapitän Geoffries einen guten Abend und legte auf. Stand am Ruder, schaute auf die mäßig bewegte See, horchte auf den deutlich abgeflauten Wind und fühlte, wie Ruhe in sie einkehrte. Nicht nur in sie: Auch Spike hatte sich wieder schlafen gelegt.

Durch den Samalga Pass mit nur einem Motor. Sie trat an das Echolot, auf dem das Foto ihres Vaters in dem alten Zinnrahmen stand. Hob es auf, studierte das Lächeln auf seinem Gesicht, in seinen Augen, spürte seine Gegenwart, obwohl sie mit Spike allein im Ruderhaus war.

Wenn du nicht gewesen wärst …, dachte sie, machte eine Bewegung, um das Bild zurückzustellen, und sah sich im Glas des Rahmens unvermutet mit ihrem eigenen Spiegelbild konfrontiert. Der Anblick versetzte ihr einen gelinden Schock.

Sie war dreckig. Getriebeöl oder Schmierfett an der Stirn und unter einem Auge. An der Wange verwischtes Blut. Woher? Nicht feststellbar. Vielleicht von den aufgeschürften Fingerknöcheln. Sie sah müde aus, abgekämpft, k. o. – aber sie lächelte, und es war das Lächeln von Randall Rhodes auf dem Foto: trotz Erschöpfung mit sich und der Welt zufrieden.

Durch den Samalga-Pass mit nur einem Motor, dachte sie wieder und stellte das Foto hin. McKenna Rhodes, du hast deine Bewährungsprobe bestanden. Von heute an bist du ein echter Bergungsschiffer!