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Okura kauerte hinter einem Schott und horchte auf die Stimmen, die durch den Mittelgang hallten. Männerstimmen, mindestens zwei. Sie hatten ihn gesehen. Nicht gut. Überhaupt nicht gut.

Der Aktenkoffer lag noch in der Kammer, in der er die letzten Tage gewohnt hatte, versteckt unter dem wegen der Schlagseite unbrauchbaren Bett. Aber war er auch gut genug versteckt? Der Gedanke setzte in Okuras Kopf ein Gedankenkarussell in Gang.

Die Bergungsleute konnten ihn finden. Nahmen sich das Geld. Sein Geld. Das durfte er nicht zulassen.

Okura zog die Pistole aus dem Hosenbund. Lauschte auf die Stimmen, den hohlen Klang der Schritte auf den Kabinenwänden. Schritte, die näher kamen.

***

Court wanderte unbeholfen vor Ridley am Seil den engen Flur hinunter zum Hauptkorridor. Er verstand nicht, woher das Unbehagen kam, das schleichend von ihm Besitz ergriff. Schließlich war das Deckshaus der Lion bei Weitem nicht so unfreundlich wie die darunterliegenden Laderäume, geschweige denn die finsteren, von Öldunst durchwaberten Betriebsgänge zuunterst im Schiff. Dieser Flur war verhältnismäßig hell, die Luft war frischer, und der Ozean war dort, wo er hingehörte – draußen.

Aber dies war ein Geisterschiff. Ein Mensch war hier gestorben. Und Harrington war hundertprozentig überzeugt, eben ein Gesicht gesehen zu haben.

Was zum Teufel kannst du hier wollen, Mann?

Sie erreichten den langen, breiteren, von wasserdichten Schotts unterbrochenen Mittelgang. Hier herrschte Halbdunkel, die Luft roch abgestanden, die Geräusche von oben drangen nur gedämpft in die Stille.

Court zeigte zum Heck. »Erste Kammer links«, flüsterte er. »Da habe ich ihn gesehen.«

Er ließ das Seil los und trat in den Gang hinein. Die gebrochenen Rippen protestierten. An den Schmerzen konnten auch die festen Verbände nichts ändern. Ridley folgte ihm, keiner der Männer sprach, kaum, dass sie zu atmen wagten. Court fühlte sein Herz pochen, fragte sich, was er tun würde, falls sich tatsächlich ein blinder Passagier an Bord versteckt hielt.

Mir in die Hose machen, wahrscheinlich. Und schreien wie ein Mädchen.

Dann dachte er an McKenna und fand den Vergleich nicht mehr so passend. Der Skipper der Gale Force würde mit ziemlicher Sicherheit einem blinden Passagier – oder auch einem Geist – mit etwas mehr Aplomb gegenübertreten.

Die Männer erreichten die verdächtige Kammer. Da sie an Steuerbord lag, befand sich die Tür über ihnen in der Wand. Sie stand offen, eine von Staubpartikeln durchtanzte Lichtbahn fiel auf den Boden und die Wand gegenüber. Court streckte die Arme aus, hielt sich links und rechts am Türrahmen fest und wollte sich hochziehen. Es blieb bei dem Versuch. Er konnte sich mit Mühe und Not einen Schmerzensschrei verbeißen, trat zurück, schaute Ridley an und zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht kannst du’s besser.«

Ridley nickte. Vollführte ächzend einen Klimmzug. Court schaute auf die strampelnden Füße des Chiefs, während dieser sich in der Kammer umsah. Wartete angespannt auf Zeichen einer plötzlichen Konfrontation, Gebrüll, einen jähen Ausbruch von Gewalt.

Nichts geschah. »Hier ist niemand«, verkündete Ridley und ließ sich nach unten fallen, auf die einigermaßen waagerechte Backbordwand. »Nur eine leere Kammer.«

Court zuckte mit den Schultern, vorsichtig. »Dann habe ich mich wohl getäuscht.«

Er schaute den Korridor hinauf und hinunter, etwas in ihm wollte nicht akzeptieren, dass er sich das Gesicht am Fenster nur eingebildet haben sollte. Ungefähr drei Meter weiter zum Heck hin, an der Backbordseite des Korridors, stand noch eine Tür offen. Harrington balancierte im Winkel von Wand und Boden darauf zu, blieb an der offenen Tür stehen, beugte sich vor, so weit, wie seine Rippen es zuließen, und schaute in die Kammer hinein.

»Ridley.« Er winkte, sein Herz schlug noch etwas schneller. »Komm her und sieh dir das an.«

Diese Kammer sah bewohnt aus. Bewohnt wie in nach der Havarie. In einem Winkel ein Haufen Bettzeug, ein Stapel leerer Coladosen, Schokoriegelpapier.

»Das ist ein Lager«, sagte Court. »Hier drin hat einer biwakiert.«

»Der Tote vielleicht«, meinte Ridley. »Bevor er tot war. Oder welche von Christer Magnussons Crew.«

Court dachte über den Einwand nach. Er fühlte sich körperlich erschöpft, geistig ebenfalls. Sein Brustkorb schmerzte, sein Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt, und er hatte eigentlich nur den Wunsch, in seine Koje zu kriechen.

Andererseits …

»Möglich«, antwortete er. »Aber wer ist das dann an dem Bullauge gewesen?« Er richtete sich mühsam auf. »Komm schon. McKenna ist noch nicht wieder da. Suchen wir weiter.«

***

Sie kamen näher.

Die Männer hatten sein Lager entdeckt. Ihre Neugier war geweckt. Sie wussten jetzt, dass sie tatsächlich einen Menschen hinter dem Bullauge gesehen hatten, und wollten ihn finden.

Man würde ihn in ein Flugzeug nach Japan setzen. Die Yakuza würde ihn liquidieren lassen. Und die Bergungsmannschaft bekam mit den gestohlenen Inhaberobligationen noch einen hübschen Bonus zum Bergelohn dazu.

Fünfzig Millionen Dollar. Mein Geld.

Okura ging rückwärts weiter den Korridor hinunter; sein Gehirn arbeitete mit Überschallgeschwindigkeit. Wenn er gezwungen war, auf die Männer zu schießen, würde der Knall ihre Freunde alarmieren und die wiederum die Coast Guard. Das waren Leute mit militärischer Ausbildung und entsprechend bewaffnet.

Verdammt!

Doch er hatte keine Wahl. Wenn die Männer ihn entdeckten, musste er sie erschießen und hoffen, dass der Schussknall in all den anderen Geräuschen des arbeitenden Schiffs unterging. Anschließend konnte er sich den Aktenkoffer holen und dann …

Für die Beantwortung dieser Frage hatte er keine Zeit. Die Männer kamen auf ihn zu. Er schob mit dem Daumen den Sicherungshebel nach oben, wich Schritt für Schritt zurück und starrte über den Lauf der Waffe hinweg in die Dunkelheit, um sofort abzudrücken, sobald sich dort etwas bewegte.