Hiroki Okura hockte in der kleinen Zelle im hinteren Raum des Polizeireviers, starrte auf die Betonwand und wünschte sich, die Begegnung mit Tomio Ishimaru in dem verräucherten Jansou hätte nie stattgefunden.
Sein Kopf schmerzte von dem Schlag, den der Mann auf der Lion ihm versetzt hatte. Er wusste noch, dass er vor der jungen Frau gestanden und sich bemühte hatte, den Mut aufzubringen, um sie zu erschießen, erinnerte sich, ganz kurz diesen anderen Mann gesehen zu haben, bevor ihm schwarz vor Augen wurde. Erst auf dem Schiff der Coast Guard war er wieder zu sich gekommen, wo man ihn behandelte wie ein Paket, das keiner bestellt hatte. Sein Kopf wurde verbunden, aber Schmerzmittel bekam er keins, man nahm ihm Gürtel und Schnürsenkel ab und ließ ihn nicht aus den Augen.
»Selbstmordgefahr«, wurde er informiert. »Wir können nicht zulassen, dass Sie eine Dummheit begehen.«
Tatsächlich lag Okura der Gedanke an Selbstmord gar nicht so fern. Er hatte keine Zukunft mehr, für die es sich zu leben lohnte. Ein Helikopter der Coast Guard brachte ihn schließlich nach Dutch Harbor zurück, wo eine kleine Polizeieskorte darauf wartete, ihn ins Gefängnis zu transportieren.
Fingerabdrücke. Fotos. Personalien. Keine Dusche, obwohl er die nach den Wochen auf dem Schiff dringend nötig gehabt hätte. Dann sperrte man ihn in diese winzige Zelle, auf drei Seiten Gitterstäbe, an der vierten Beton. Mitten im Raum eine Edelstahltoilette.
»Steht noch nicht fest, ob man dir hier den Prozess macht oder dich in die Heimat zurückverfrachtet«, teilte einer der Beamten Okura mit. »Anscheinend hast du so etwas wie einen internationalen Zwischenfall heraufbeschworen.«
Großartig, dachte Okura. Ende der Anonymität.
Im besten Fall standen ihm mehrere Jahre Gefängnisaufenthalt bevor. Und im schlimmsten Fall?
Lieber nicht darüber nachdenken, dafür war später noch mehr als genug Zeit. Doch kaum war es ihm gelungen, den sich selbst gegebenen Rat zu befolgen, als die Zwischentür aufgeschlossen wurde und ein Polizeibeamter hereinmarschiert kam, gefolgt vom schlimmsten Fall in Fleisch und Blut.
»Frohe Botschaft«, verkündete der Beamte. »Dein Bruder ist gekommen, um dich zu besuchen. Moralische Unterstützung oder was weiß ich.«
Er öffnete die Zellentür und trat beiseite, um den Mann, der sich als Okuras Bruder ausgab, vorbeizulassen. Hinter ihm schloss er wieder ab.
»Zehn Minuten«, damit ging er hinaus. Okura blieb allein mit seinem Besucher zurück.
***
Dieser Besucher war jung, Mitte zwanzig und sehr schlank. Er hatte dunkle Augen, fast so schwarz wie sein Haar. Bekleidet war er mit einem schwarzen Anzug, weißem Hemd, schwarzer Krawatte. Die scheinbare Windstoßfrisur hatte viel Geld gekostet und erforderte allmorgendlich geraume Zeit vor dem Badezimmerspiegel.
Er war nicht Hiroki Okuras Bruder. Okura hatte keinen Bruder, und wenn er einen gehabt hätte, wäre es nicht dieser Mann gewesen.
Der Mann hielt es nicht für nötig, sich vorzustellen. Er trat in die Mitte der Zelle. Schnupperte zur Toilette hin, rümpfte die Nase. Dann richtete er den Blick auf Okura und entblößte lächelnd zwei Reihen Haifischzähne. Okura schauderte.
»Mit besten Grüßen von Katsuo Nakadate«, sagte der Mann, zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Jackentasche, faltete es auseinander und hielt es Okura hin.
Okura zögerte. Die Hand mit dem Blatt ruckte auffordernd. Nimm.
Okura gehorchte, von einer bösen Vorahnung erfüllt. Er zwang sich, den Blick auf das Blatt zu senken. Schluckte krampfhaft.
Seine Schwester. Ihr Töchterchen. Vor ihrem Haus aufgenommen, aus größerer Entfernung.
»Wir sind keine Barbaren«, fuhr der Mann fort. »Vielleicht wussten Sie nicht, was Sie tun, als Sie Ishimaru geholfen haben. Sie waren alte Freunde. Wir verstehen das. Wir sind nicht grausam.«
Okura sagte nichts, konnte nichts sagen. Seine Beine zitterten. Er musste sich mit aller Kraft darauf konzentrieren, aufrecht stehen zu bleiben und nicht die Kontrolle über seine Blase zu verlieren.
»Mr. Nakadate möchte lediglich den Gegenstand zurückbekommen, den man ihm entwendet hat. Ich nehme an, Sie wissen, wovon ich spreche?«
Okura nickte. Ja.
»Wissen Sie, wo sich dieser Gegenstand befindet?«
Okura nickte wieder.
»Sagen Sie es mir, Okura-san. Ich kann Ihnen im Namen von Katsuo Nakadate versichern, dass dem Kind und seiner Mutter nichts passieren wird.«
Okura schloss die Augen. Hoffte inständig, dass er, wenn er diesem Mann gesagt hatte, was er wissen wollte, endlich wieder frei atmen konnte und dass seine Schwester und ihre kleine Familie davor bewahrt blieben, für seine Dummheit büßen zu müssen.
»Auf dem Schiff«, sagte er, und seine Stimme war so schwach, dass der Mann sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »In der Krankenstation, in einem Medikamentenschrank. Wenn er da nicht ist, hat einer von der Bergungsmannschaft ihn gefunden und mitgenommen.«
Der junge Mann lächelte wieder sein Haifischlächeln. »Vielen Dank, Okura-san. Ich hoffe, um Ihrer Familie willen, dass wir unser Eigentum unverzüglich wiedererlangen.«
Er trat ans Gitter und rief nach dem Beamten, der sofort erschien, um ihn herauszulassen. Ging den Flur hinunter. Vor der Zwischentür hielt er kurz inne, blickte über die Schulter und zwinkerte Okura zu. Dann war er fort, und Okura ließ sich auf die harte Betonbank sinken.