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Sato stand im Cockpit des geschlossenen Rettungsboots, das sich mit jaulendem Motor durch die hohen Wellen kämpfte.

Auf dem Schlepper hatte man die Suchscheinwerfer eingeschaltet, die grellen Lichtkegel wanderten hin und her über die schwarze, kabbelige Wasseroberfläche. Von Nahem gesehen war der Schlepper unvermutet groß; die rot-weißen Aufbauten wuchsen hoch und kühn aus dem zernarbten schwarzen Rumpf heraus. Er zerteilte die Wellen, als wäre alles in schönster Ordnung, als hätte man das Herannahen des Rettungsbootes nicht bemerkt oder nicht der Beachtung für wert gehalten.

Aber Sato wusste, der Eindruck war falsch. Er hatte gehört, wie die Frau auf dem Frachter ihre Freunde warnte, hatte den Funkverkehr zwischen McKenna und der Leitstelle der Coast Guard belauscht. Daher wusste er, dass das Militär informiert war, und auch, dass er zwei Stunden Zeit hatte, um das Eigentum seines Arbeitgebers wiederzubeschaffen.

In zwei Stunden, dachte er, gehen wir an Land. Mit dem Aktenkoffer.

Doch um innerhalb des Zeitfensters zu bleiben, mussten sie schnell vorgehen, also keine Diplomatie, sondern simple rohe Gewalt.

Die Frau, die das Sagen hatte, würde den Aktenkoffer herausgeben, er, Sato, ihn an sich nehmen. Nur eine Frage der Zeit.

Der Seegang bereitete dem Motor Probleme, er heulte angestrengt, der Propeller schnarrte, wenn er ins Leere quirlte. Vor ihnen meisterte der Schlepper souverän die Wellen. Sato konnte im Ruderhaus Bewegung erkennen, die Umrisse von zwei Personen am Fenster. Ein dritter Mann erschien auf dem Achterdeck und machte sich an etwas zu schaffen, das wie eine Deckskanone aussah. Sato verfolgte sein Tun mit zusammengekniffenen Augen. Einen Moment lang war er tatsächlich besorgt, aber dann begann das »Geschützrohr« Wasser zu speien.

Ein Wasserwerfer. Damit wollte die Besatzung des Schleppers sich verteidigen.

Sato war sekundenlang geblendet, als der Suchscheinwerfer das Boot erfasste. Er duckte sich zur Seite und rief Fuchida an der vorderen Luke zu: »Schick ihnen einen Liebesgruß!«

Fuchida legte an, zielte und feuerte dreimal. Der Mann am Wasserwerfer fiel um.

Na bitte, dachte Sato. Was sagt ihr dazu?

***

»Runter!«

McKenna und Ridley warfen sich hin, als die Angreifer das Feuer eröffneten. Kugeln trafen die Außenwand des Ruderhauses, rissen Funkengarben aus der Stahlverkleidung.

Al Parent am Heckwasserwerfer brach zusammen. McKenna rappelte sich auf, hastete tief geduckt zur Tür an Steuerbord, der von den Angreifern in ihrem kleinen Rettungsboot abgewandten Seite. Öffnete die Tür, spähte hinaus, erwartete, ihren Ersten Offizier von Kugeln durchsiebt in seinem Blut liegen zu sehen. »Al!«

Doch Al Parent war nicht tot. Er war rechtzeitig hinter dem Wasserwerfer in Deckung gegangen. »Komm weg da!«, schrie McKenna. »Hierher, schnell!«

Al stemmte sich hoch und sprintete zur Tür, im selben Augenblick fingen die Angreifer erneut an zu schießen. Querschläger pfiffen, Funken sprühten gespenstisch in der Dunkelheit. Der Schlepper rollte und stampfte in den Wellen, Al rutschte aus, fing sich, krabbelte auf allen vieren weiter, während ihm die Kugeln um die Ohren flogen. McKenna reckte sich aus der Tür – »Gib mir die Hand!« – und zog mit aller Kraft, bis er triefnass und schnaufend auf dem Boden des Ruderhauses lag. Dann sprang sie an das vordere Seitenfenster, schob es auf. Jason Parent hatte an dem Wasserwerfer am Bug Posten bezogen.

»Schwing deinen Hintern hierher!«, schrie sie gegen den Wind an und gestikulierte, falls er sie nicht hören konnte. »Scheiß auf den Wasserwerfer!«

Jason machte einen langen Hals und riskierte einen Blick zur Backbordseite des Schleppers, zuckte blitzartig zurück, als er sofort unter Feuer genommen wurde, und beeilte sich, McKennas Aufforderung Folge zu leisten.

»Du nimmst Al und Jason mit nach unten in den Maschinenraum«, sagte McKenna zu Ridley. »Da bleibt ihr und macht keinen Mucks, bis ich komme und euch hole, verstanden?«

Ridley Augen wurden schmal. »Und was hast du vor?«

McKenna warf einen prüfenden Blick auf den Monitor des Autopiloten, schaute zu den Angreifern, die bis auf fünfzig Meter herangekommen waren. Ein Rettungsboot. Sie hatten ein Rettungsboot der Pacific Lion gestohlen. Aber wo zur Hölle sind sie überhaupt hergekommen?

»Ihnen zu geben, was sie haben wollen«, antwortete sie und griff nach dem Funkgerät. »Jetzt weg mit euch und verrammelt die Türen.«

***

Sato schaute zu, wie die Besatzung der Gale Force Hals über Kopf vor dem Kugelhagel flüchtete. Sie saßen auf ihrem Schiff in der Falle, und vielleicht noch fünf Minuten, schätzte Sato, dann hatten er und seine Leute das Heck des Schleppers erreicht und konnten ihn entern.

Die Menschen im Ruderhaus verschwanden, Sato konnte nur noch eine Silhouette an den Fenstern ausmachen. Er fragte sich, was die anderen vorhatten. Sich verstecken, höchstwahrscheinlich.

Dann meldete sich das Funkgerät.

»Wir haben euren Aktenkoffer.« Eine Frauenstimme, die Schiffsführerin. »Hört auf zu schießen, dann bekommt ihr ihn.«

Fuchida und Tsunoda warteten auf Satos Reaktion. Er hob die Hand. Feuer einstellen. Dann griff er nach dem Handmikrofon des Funkgeräts. »Ich will ihn sehen.«

Kurze Stille. Dann: »Ja, in Ordnung. Warten Sie einen Moment, bin gleich wieder da.«