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Fünfzig Millionen Dollar.

Die HMCS Nanaimo folgte der Gale Force wie ein Schatten den ganzen Tag hindurch bis in die Nacht. Auf der Höhe von Port Angeles, dem Südzipfel von Vancouver Island gegenüber, querte die Gale Force mit der Pacific Lion im Schlepp die unsichtbare Grenze zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten. Die Nanaimo drehte ab und wurde ersetzt durch ein größeres – und schwer bewaffnetes – Schiff der US-amerikanischen Coast Guard. Am Morgen fuhren sie in den Puget Sound ein und befanden sich in heimatlichen Gewässern. Die vertrauten Sternbilder hatten etwas Beruhigendes, das blaue Meer, die grünen Wälder, die grün-weißen Doppelendfähren der Washington State Ferries, die über die Bucht pendelten. McKenna überwachte im Ruderhaus das Kürzen des Schleppdrahts, das erforderlich war, um auf engem Raum manövrieren zu können. Es war der Moment, um erleichtert aufzuatmen: fast zu Hause, Schiff und Anhang unversehrt, Bankkonto gut gefüllt.

Nur war da immer noch der Aktenkoffer, der einer Entscheidung harrte. Fünfzig Millionen Dollar, über den Daumen gepeilt. McKenna wusste, dass sie nach Recht und Gesetz verpflichtet war, den Fund der Polizei zu übergeben, der Coast Guard, der kanadischen Marine, irgendeiner staatlichen Institution. Andererseits war sie immer noch eine Rhodes. Immer noch Riptides Tochter, Nachfahrin von Glücksspielern und Abenteurern. Natürlich war es das Naheliegendste und Vernünftigste, den Aktenkoffer samt Inhalt den Behörden auszuhändigen, aber keinem Rhodes hatte man je vorwerfen können, besonders vernünftig zu sein.

Warte, bis wir in Seattle festgemacht haben. Dann gibst du ihn den Cops und vergisst die ganze Sache.

Ja, dachte sie. Mal sehen.

***

Im Lauf des Vormittags kam Seattle in Sicht. Die Besatzung versammelte sich im Ruderhaus und sah die Space Needle auftauchen, die Skyline, die Elliott Bay mit ihren Fähren und Fischerbooten und riesigen Containerschiffen.

Vier Bugsierschlepper warteten, um die Pacific Lion zu einem Liegeplatz zu bringen, kräftige kleine Arbeitstiere. McKenna stoppte die Gale Force und erledigte die Formalitäten. Matt und Stacey Jonas kamen über eine Gangway zurück an Bord. Dann trennten sich die Wege der beiden Schiffe, endgültig diesmal, und die Lion wurde zu einem Trockendock in der weitläufigen Hafenanlage manövriert, gegenüber dem Alaskan Way und den dahinter gelegenen Stadien der Seahawks und Mariners.

McKenna zögerte noch einige Augenblicke mit der Weiterfahrt, ihr Blick wanderte vom majestätisch durch das Gewimmel gleitenden Koloss der Pacific Lion über die Stadtlandschaft, und sie fühlte sich gleichzeitig angekommen und heimatlos. Ihr ganzes Leben hatte sich in den letzten Wochen um dieses Schiff gedreht, und jetzt, nachdem sie wieder frei war, wusste sie nicht, was sie mit dieser Freiheit anfangen sollte. Das Leben auf dem Festland war ungleich komplizierter als das Leben auf dem Meer, und ein Teil von ihr wünschte, sie könnte für immer auf See bleiben. Nur sagte ihr der Verstand, dass ihre Crew andere Wünsche hatte, deshalb richtete sie den Bug des Schleppers nach Norden und nahm Kurs auf den West-Point-Leuchtturm und die Ballard Locks dahinter. Die Gale Force, vom schweren Anhang befreit, schien fast übers Wasser zu schweben.

Während sie in der Schleusenkammer auf das Niveau der Salmon Bay gehoben wurden, telefonierte McKenna mit Matsuda und teilte ihm mit, dass die Lion sicher in Seattle eingetroffen wäre und der Vertrag damit erfüllt. Den Vorfall vor der kanadischen Küste ließ sie unerwähnt, und Matsuda fragte nicht. Er bedankte sich und versprach, das Geld zu überweisen, und damit war auch das erledigt.

Die Gale Force näherte sich ihrem angestammten Liegeplatz, Al und Jason nahmen ihre Position an Heck und Bug ein, und McKenna schaute auf die vertrauten Häuserzeilen, und wieder meldete sich das Gefühl eines melancholischen Was-soll-ich hier. Sie und ihre Crew hatten hart gearbeitet. Sie hatten ein verloren gegebenes Schiff gerettet und geborgen. Und jetzt?

Und jetzt kümmern wir uns um den Aktenkoffer. Sie wappnete sich mit einem tiefen Atemzug für das Telefonat, vor dem sie sich nicht länger drücken konnte. Coast Guard, FBI, irgendjemand würde wissen, wer für herrenlose Millionen zuständig war.

Dann hörte sie Stimmen von draußen, fröhliche Stimmen, und bei einem Blick aus dem Fenster sah sie jemanden am Pier stehen und warten. Es war Harrington.

Der Schiffbauingenieur wirkte erholter als bei ihrem Abschied in Dutch Harbor, hielt sich aufrechter, bewegte sich freier. Sein Gesicht war gebräunt, er lächelte sein Court-Harrington-Lächeln, und zwischen ihm und Al Parent am Bug flogen die üblichen Frotzeleien hin und her. McKenna fühlte, wie auch ihre Mundwinkel sich zu einem Lächeln verzogen, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Die Gale Force glitt näher an die Pier heran, und jetzt bemerkte sie die dunklen Schatten unter Harringtons Augen und die tief eingegrabenen Linien in seinem Gesicht. Seit er in Dutch Harbor in den Flieger gestiegen war, schien er um fünf Jahre gealtert zu sein.

Mit der Hilfe des Bug- und Heckstrahlruders manövrierte McKenna ihr Schiff an den reservierten Liegeplatz der Gale Force Marine. Jason und Al belegten Vor- und Achterleine, Matt und Stacey die Vor- und Achterspring. McKenna wartete im Ruderhaus, bis die Gale Force ordnungsgemäß festgemacht war. Anschließend absolvierte sie in Windeseile ihr Alles-auf-aus-Ritual und beeilte sich, an Deck und auf die Pier zu kommen, wo bereits eine ausgelassene Begrüßung im Gange war.

»Wie, du hast uns noch nicht satt?«, fragte sie und stieg über das Schandeck. »Heimlicher Masochist oder was?«

Harrington lächelte verlegen. »Ich wollte mich überzeugen, dass euch nichts passiert ist. Diese Typen, mit denen ihr es zu tun hattet, sind ziemlich übel.«

»Court sagt, sie sind ihm bis nach Seattle gefolgt«, platzte Jason Parent heraus. »Sie haben ihn als Geisel genommen, um ihn gegen den Aktenkoffer auszutauschen.«

McKenna schaute mit einer hochgezogenen Augenbraue zu Harrington, der wortlos den Oberkörper etwas zur Seite drehte und sein T-Shirt ein Stück hochzog. Aus dem Hosenbund ragte der Kolben einer Pistole.

»Was zur Hölle!«, fuhr sie auf. »Harrington, wieso läufst du mit einer Schusswaffe durch die Gegend?«

Er zuckte die Achseln. »Sagen wir mal, dein jüngster Telefonanruf kam in einem sehr günstigen Moment. Der Typ, dem ich sie abgenommen habe, war kurz davor, mich damit zu erschießen.«

Und du hast mir nichts davon gesagt? Verdammt nochmal, Court!

»Unwichtig.« Harrington fuhr mit der Hand durch die Luft. »Viel interessanter ist, ob ihr endlich nachgesehen habt, was in diesem Koffer drin ist.«

»Fünfzig Millionen Dollar.« Wieder Jason Parent, der knallrot wurde und die Hand vor den Mund schlug. »Nichts. Nichts, wollte ich sagen.«

»Ernsthaft?«, fragte Harrington. »Das kann er nicht ernst meinen, oder? Ich habe mir gedacht, dass der Inhalt wertvoll sein muss, aber fünfzig Millionen …«

McKenna wollte antworten, wollte Jason Parent erwürgen, doch bevor sie sich entschieden hatte, was zuerst, rollte oben auf dem Kai ein bulliger Cadillac SUV heran und hielt. Die Fahrertür ging auf, ein Mann stieg aus, ein junger, schlanker Japaner. Er schaute auf die in einer Gruppe zusammenstehende Besatzung der Gale Force hinunter und ließ den Blick über die Gesichter wandern; bei Harrington angelangt, stutzte er, und seine Miene wurde grimmig.

Harrington wandte sich ab. »Nicht gut, gar nicht gut«, sagte er. »Das ist der Kerl aus meinem Hotelzimmer.«

Der junge Mann öffnete die hintere Fahrertür des Cadillacs. Ein älterer, vornehm wirkender Herr stieg aus, schmal, fast grazil, stilvoll und teuer gekleidet. Er äußerte etwas zu seinem Fahrer, der die Tür schloss und daneben stehen blieb. Von seinem Platz aus starrte er unverwandt zu Harrington hinunter, als wolle er ihn mit Blicken erdolchen.

Der ältere Herr kam mit vorsichtigen, kleinen Schritten die Rampe herunter und steuerte auf McKenna zu, die bei ihren Leuten stand. Er hatte die Ausstrahlung eines Mannes, der gewohnt war, dass man sich ihm widerspruchslos unterordnete. Er lächelte, aber es war ein Lächeln ohne Wärme.

»Kapitän Rhodes«, sprach er sie an. »Mein Name ist Katsuo Nakadate. Wenn ich nicht irre, haben Sie etwas, das mir gehört.«