McKenna führte den Gast ins Ruderhaus der Gale Force. Jetzt ist es so weit, dachte sie. Wir erleben das Ende der Geschichte. Hoffentlich überleben wir es auch.
Spike, der auf der Brückenkonsole schlief, hob den Kopf, als die Tür aufging. Der Kater warf einen Blick auf den Fremden, stand auf, sprang zu Boden, sauste nach draußen und verschwand unter Deck. Nakadate schien es nicht zu bemerken.
Sie nahmen am Kartentisch Platz. Nakadate war entspannt, ganz Herr der Lage. McKennas Nervosität wuchs. Sie beschloss, ohne Umschweife zur Sache zu kommen.
»Sie kommen wegen dieses Aktenkoffers«, sagte sie.
»Ja.«
»Sie haben Leute geschickt, die den Auftrag hatten, mein Schiff anzugreifen und mich und meine Besatzung zu ermorden.«
»Sie hatten den Auftrag, gestohlenes Eigentum wiederzubeschaffen. Sie hatten nicht den Auftrag, jemanden zu töten.«
»Ob mit oder ohne Auftrag, sie haben auf uns geschossen. Auch wenn Sie es angeblich nicht befohlen haben, sie waren bereit, Gewalt anzuwenden, um den Koffer in ihren Besitz zu bringen.«
Nakadate musterte sie über den Tisch hinweg. Sein Gesicht verriet nicht die geringste Gemütsbewegung. »Der Inhalt des Aktenkoffers, von dem wir sprechen, ist überaus wichtig für mich. Meine Angestellten sind darauf bedacht, nicht mit leeren Händen zu mir zurückzukehren.«
»Sie hätten mit uns sprechen können. Sagen, was sie wollen. Wir hätten eine friedliche Lösung finden können.«
»Und Sie hätten mir mein Eigentum zurückgegeben, Kapitän Rhodes?«, fragte Nakadate. Sein bisher neutrales Lächeln zeigte einen Anflug von Sarkasmus. »Sie hätten meinen Angestellten den Aktenkoffer überlassen, wenn man Sie darum gebeten hätte?«
»Genau das hatte ich vor, allerdings.« McKenna begann innerlich zu kochen. »Ihre Angestellten haben auf mich geschossen, bevor ich überhaupt Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. Bis dahin hatten wir den Koffer nicht einmal geöffnet.«
Das Lächeln verschwand, Nakadate wirkte peinlich berührt. »Das bedaure ich außerordentlich«, sagte er. Danach schwieg er eine geraume Weile. Es entspann sich ein kleines Duell: Wer bricht als Erster das Schweigen. McKenna setzte seiner ausdruckslosen Miene ihr Pokerface entgegen. Auch wenn sie den Namen Katsuo Nakadate noch nie gehört hatte, er war eindeutig ein sehr mächtiger Mann. Gut möglich, dass ich ihm nicht so ruhig gegenübersitzen könnte, wenn ich mehr über ihn wüsste.
Nakadate ließ den Blick durch das Innere des Ruderhauses wandern. Dann seufzte er und sah plötzlich sehr müde aus.
»Der Inhalt des Aktenkoffers ist für mich überaus wichtig«, sagte er noch einmal. »Sie werden verstehen, dass ich nichts unversucht lassen konnte, um ihn wiederzubekommen, doch es war nie meine Absicht, dass dabei Blut fließen sollte. Ich bedaure, dass die Dinge sich so ungünstig entwickelt haben.«
McKenna ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Ihr war eine Idee gekommen, aber sie wusste nicht, ob sie die Chuzpe hatte, das gewagte Manöver durchzuziehen.
»Vielleicht erklären Sie mir, was es mit diesem Aktenkoffer auf sich hat«, fragte sie. »Wir haben ihn geöffnet, und ich weiß jetzt, der Inhalt besteht aus Inhaberobligationen, die einen hohen Geldwert repräsentieren. Aber was genau stellen sie dar?«
Nakadate öffnete die gefalteten Hände, breitete sie aus. »Jedes dieser Papiere entspricht einem Anteil an einer Scheinfirma in der Schweiz. Wenn man es genau nimmt, Kapitän Rhodes, sind Sie durch diese Papiere Inhaberin eines meiner Unternehmen.«
»Sie reden von Geldwäsche.«
»Das sind Ihre Worte. Ich würde lediglich sagen, die Papiere eignen sich vorzüglich zur Wahrung von Anonymität.«
Der kultivierte Mann, der so gelassen vor ihr saß, war hundertmal furchteinflößender als die Handlanger, die versucht hatten, sie und ihre Crew zu töten. McKenna fröstelte innerlich. Dieser Mann machte sich nicht selbst die Hände schmutzig, er tötete aus der Ferne, durch Stellvertreter, kalt und emotionslos.
Nakadate schien erkennen zu können, was sie dachte. »Sie verstehen sicherlich, dass es in unser beider Interesse ist, die Sache zu einem Abschluss zu bringen. Ich möchte mein Eigentum zurückbekommen, und Ihrerseits möchten Sie gewiss vermeiden, längerfristig in meine Angelegenheiten involviert zu sein.«
»Ist das eine Drohung?«, fragte McKenna.
Nakadate legte die Hände locker zusammen und verschränkte die Finger. »Nein. Ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass es für Sie problematisch sein würde, sollten Sie den Versuch unternehmen, einen Käufer für die Papiere zu finden. Und selbst wenn es Ihnen gelingen sollte, die Papiere zu Geld zu machen, klopfen womöglich eines Tages die Behörden bei Ihnen an und möchten Näheres über Ihre Verstrickung in derart zweifelhafte Praktiken erfahren.«
Ein gutes Argument. McKenna hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, wie man gestohlene Wertpapiere an den Mann bringen konnte. Auch die Aussicht, das Vorhandensein der Papiere dem FBI erklären zu müssen, war wenig reizvoll.
Sie fixierte ihr Gegenüber mit einem festen Blick. Zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ich leite eine Bergungsfirma, Mr. Nakadate«, begann sie. »Ich finde verlorene Dinge und gebe sie dem rechtmäßigen Eigentümer zurück. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt.«
Nakadate lehnte sich zurück. Legte die Fingerspitzen zeltförmig zusammen. Lächelte sie an. »Schlagen Sie vor, dass ich für etwas bezahle, das ohnehin mir gehört, Kapitän Rhodes?«
»Ich habe eben erst ein Frachtschiff geborgen, das einhundertfünfzig Millionen Dollar wert ist. Die Besitzer haben eine entsprechende Belohnung gezahlt.«
»Da hatten Sie das Gesetz auf Ihrer Seite. Der Bergelohn ist im Seerecht geregelt. Hier haben Sie nichts in der Hand.«
»Ich habe den Aktenkoffer.«
»Den ich sehen will, bevor wir über einen Finderlohn verhandeln, Kapitän Rhodes.«
»Verständlich, aber wir sind hier nicht mehr auf hoher See. Hier ist Amerika, und Ihnen läuft die Zeit weg. Früher oder später werden Polizei, Küstenwache oder Marine wissen wollen, warum drei bewaffnete Männer mein Schiff unter Feuer genommen haben, und ich werde nicht umhinkönnen, ihnen den Koffer auszuhändigen. Sie können mir glauben: mit mir zu verhandeln ist weitaus angenehmer als mit denen.«
Nakadate ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. »Der Aktenkoffer ist noch hier auf dem Schiff. Die Logik gebietet es.«
»Richtig. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich Ihnen erlaube, mein Schiff zu durchsuchen, und auch mit Ihrem Leibwächter sind Sie uns gegenüber in der Minderzahl.«
Wieder musterte Nakadate sie lange und schweigend. McKenna bemühte sich, den forschenden Blick ungerührt zu ertragen. Scheinbar ungerührt, denn ihr Herz schlug wie ein Dampfhammer. Sie hoffte, dass dieser Nakadate es nicht bemerkte.
Schließlich richtete er sich auf und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nun gut, Kapitän Rhodes. Welchen Finderlohn schlagen Sie vor?«
McKenna zuckte mit den Schultern. »In meinem Metier beginnen wir normalerweise bei zehn Prozent.«
»Zehn Prozent. Ich darf wohl annehmen, dass Sie den Gesamtwert der Papiere ermittelt haben?«
»Fünfundvierzig Millionen Euro. In US-Dollar etwas mehr, abhängig vom Tageskurs. Einigen wir uns auf runde fünf Millionen Dollar.«
»Und wenn ich nicht einverstanden bin?«
»Verhandeln wir neu, aber ich sage Ihnen, wenn man die Unannehmlichkeiten bedenkt, die dieser Aktenkoffer uns bereitet hat, ganz zu schweigen davon, dass wir von Ihren Leuten beschossen wurden und mir Schäden an meinem Schiff entstanden sind, halte ich fünf Millionen für ausgesprochen fair.«
Nakadate sagte nicht. Das ist es, dachte McKenna. Alles oder nichts, der große Bluff. Sie hörte in der Stille das Blut in ihren Ohren rauschen. Nakadate hüllte sich weitere ein, zwei Minuten in Schweigen.
Dann, endlich, nickte er. »Fünf Millionen Dollar«, sagte er. »Ich will den Aktenkoffer sehen, bevor ich das Geld anweisen lasse.«