Ein paar Tage nach diesem Gespräch und fast fünftausend Meilen entfernt von McKenna Rhodes und der Gale Force wurde Hiroki Okura von einem Klopfen an der Haustür aufgeweckt.
Die Wochen seit seiner Heimkehr waren ein einziges Trauerspiel gewesen. Wie erwartet hatten die Japanese Overseas Lines auf seine weiteren Dienste verzichtet. Er hatte Besuch von Kriminalbeamten erhalten, von Versicherungsdetektiven. Ihm drohte eine Vielzahl von Anklagen: einmal wegen seiner Rolle bei der Havarie der Pacific Lion, dann wegen Tomio Ishimarus illegaler Anwesenheit auf der Lion und seines Todes aus noch ungeklärter Ursache ebendort, wegen seines – Okuras – unerlaubten Verschwindens aus Dutch Harbor und des tätlichen Angriffs auf Angehörige der Bergungsmannschaft an Bord des Frachters. Seine Zukunft sah düster aus. Die Amerikaner hatten ihn unter der Voraussetzung, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werde, nach Japan zurückgebracht. Seine derzeitige Freiheit war eine Galgenfrist.
Und nun ein Klopfen an der Tür. Okura, in Jogginghose und einem fleckigen T-Shirt, öffnete, blinzelte in das grelle Tageslicht und sah, dass es nicht die Polizei war, die kam, um ihn zu holen, oder sein ehemaliger Arbeitgeber, sondern der Abgesandte einer dritten interessierten Partei.
Der Mann vor Okuras Tür trug fast dieselbe Uniform wie der, der ihn in seiner Zelle in Dutch Harbor besucht hatte, sein angeblicher Bruder: schwarzer Anzug, weißes Hemd, schmale schwarze Krawatte. Eine Aura versteckter Brutalität. Okura erkannte, dass er längst mit diesem Besuch gerechnet hatte.
Die Nachrichten hatten vom bewaffneten Überfall auf den Frachter einer japanischen Reederei berichtet. Es hieß, der Angriff wäre abgewehrt worden, daher nahm Okura an, dass der Mann vor seiner Tür von Katsuo Nakadate kam. Man hatte den Aktenkoffer nicht gefunden und erhoffte sich von ihm weitere Informationen.
Er starrte den Besucher an und kratzte sich in den tagealten, schütteren Bartstoppeln. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen noch helfen kann«, sagte er seufzend. »Der Aktenkoffer war an Bord der Lion. Wenn ihr ihn immer noch nicht gefunden habt, kann ich …«
Der Mann hob die Hand. »Mein Arbeitgeber hat das, was ihm entwendet wurde, wiedererlangt«, sagte er. »Nunmehr möchte er in Erfahrung bringen, wie genau der Diebstahl sich zugetragen hat.«
Okura spürte, wie sein Magen sich zusammenkrampfte. »Es war Ishimarus Plan, ganz sicher. Hat er nicht seine Kollegen erschossen, um den Aktenkoffer stehlen zu können?«
»Sie haben ihn gut gekannt, oder nicht? Ishimaru? Sie waren Schulfreunde?«
»Ich …« Okura schluckte würgend. »Ja, das stimmt. Und möglicher… möglicherweise habe ich ihm geholfen, indem ich ihn an Bord meines Schiffes geschmuggelt habe. Aber das war alles, und ich habe dafür bezahlt. Einen hohen Preis. Ich bin ruiniert. Sie …«
Der Mann schnitt ihm das Wort ab. »Es wurde beobachtet, dass Sie sich mit Ishimaru getroffen haben. In den Tagen und Wochen vor dem Diebstahl. Verraten Sie mir, worüber haben Sie sich unterhalten?«
Okura blieb stumm.
»Sie waren hoch verschuldet, nicht wahr? Ein einträglicher Coup wäre Ihnen ebenso zupassgekommen wie Ishimaru.«
Der Mann wartete nicht auf eine Antwort Okuras. Er drückte ihm etwas in die Hand, eine Fotografie, dieselbe wie in Dutch Harbor. Seine Schwester, seine Nichte.
»Mein Arbeitgeber hat den Wunsch, Sie persönlich kennenzulernen. Er hofft, dass Sie seiner Einladung Folge leisten.«
Okuras Mund wurde trocken. Er hatte dasselbe beklemmende Gefühl wie damals, als die Pacific Lion anfing, sich zur Seite zu neigen, einen Druck, eine Enge in der Brust, die ihn seitdem nie mehr verlassen hatte.
Ihm war klar gewesen, dass seine Taten Konsequenzen haben würden. Er hatte sich gedanklich auf einen Gefängnisaufenthalt vorbereitet. Jetzt dämmerte ihm, dass er nie damit gerechnet hatte, seine wahre Rolle bei dem Raub könne ans Licht kommen.
Okura senkte den Blick auf die Fotografie. Er studierte das Gesicht seiner Nichte, seiner Schwester.
»Er wird ihnen nichts tun«, sagte der Mann. »Sie haben sein Wort. Vorausgesetzt, Sie begleiten mich jetzt.«
Er trat zur Seite und wies mit ausgestrecktem Arm einladend auf eine lang gestreckte schwarze Limousine an der Bordsteinkante. Er lächelte harmlos, als wüssten sie nicht beide sehr genau, wo diese Fahrt enden würde.
Kein Ausweg. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu ergeben. Okura warf über die Schulter einen letzten Blick in das Innere seines Hauses, die trostlos verlotterte Bleibe eines Mannes, der seinen eigenen Ruin herbeigeführt hatte.
Der Todesbote zeigte wieder auf das Auto. »Kommen Sie«, sagte er.
Okura schloss für einen Moment die Augen, dann folgte er dem Mann zu der wartenden Limousine, und mit jedem Schritt spürte er, wie der Druck in seiner Brust nachließ, als hätte er aus Angst vor dem Ertrinken lange die Luft angehalten und nun endlich erkannt, dass es Zeit war, den Widerstand aufzugeben, sich in sein Schicksal zu fügen.