Noch Stunden später hörte ich die Schreie des Mannes in meinen Ohren wie einen grausamen Ohrwurm. Ich fühlte seinen Atem auf meinem Gesicht. Das Gewicht auf meinem Körper. Die Hand im Rücken.
»Ich habe noch nie eine Person sterben sehen«, sagte ich, als wir auf unsere Koffer warteten. Mit den Worten traten mir Tränen in die Augen.
Mama war selbst erschüttert. Ihr ganzer Körper war wie versteinert. Sie versuchte trotzdem, mich zu trösten. Schützend legte sie einen Arm um meine Schultern und versprach mir mit dünner Stimme, dass alles wieder gut werden würde. Ein Versprechen, das sie nicht halten konnte. Schon gar nicht für den toten Mann.
Meine Schwester Romy holte uns überraschend vom Flughafen ab. Durch den Zwischenfall an Bord und die Notlandung in München hatten wir reichlich Verspätung. Romy war sofort ins Auto gestiegen, sobald sie davon gehört hatte. Papa saß mittlerweile selbst im Flieger nach Zürich.
Wie betäubt sank ich auf die Rückbank. Mama schob sich neben mich. Sie nahm meine Hand und drückte sie. Ihre Fingerspitzen waren eiskalt. Zumindest kam es mir so vor. Vielleicht steckte die Hitze des Mannes noch in meinen Gliedern. Das Infrarot-Thermometer am Ankunftsterminal hatte meine Körpertemperatur allerdings als normal angegeben.
Da Romy kein eigenes Auto besaß, holte sie uns mit dem Fiat ihres Freundes ab. Eine alte Kiste, die bei jeder Bodenwelle knarzte und in der es permanent nach Heu roch.
In den ersten Minuten herrschte benommenes Schweigen. Dann fragte Romy, wie es Oma und Opa ginge. Mama erwiderte knapp, dass sie das Rentnerdasein weiterhin in vollen Zügen genossen. Oma sprach mittlerweile fast fließend Italienisch. Und Opa hatte den Hang hinter dem Haus mit Olivenbäumen bepflanzt, die inzwischen erste Früchte trugen. Erneutes Schweigen folgte.
Ungefragt begann Romy daraufhin, von ihrem Hof zu erzählen. Nicht wir waren es, die die Stille nicht ertrugen. Sie war es. Sie zählte auf, wie viele Eier die Hühner legten, berichtete, dass sie in diesem Sommer so viele Tomaten und Zucchini geerntet hatten wie nie zuvor, und erklärte, dass sie bei der Installation der neuen Photovoltaik mitgeholfen hatte.
Vor drei Jahren war Romy mit ihrem Freund Vito und einem befreundeten Pärchen auf einen alten Hof in Brandenburg gezogen. Seitdem drehte sich bei ihr alles um das Leben auf dem Land.
Romy redete an einem Stück. Mamas Zwischenbemerkungen fielen einsilbig aus. Ich hörte nur mit einem Ohr hin. Mit dem anderen lauschte ich über meine Kopfhörer der Musik. Aber in Gedanken war ich weiterhin bei dem Mann im Flugzeug.
Als Romy uns vor unserem Haus absetzte, dämmerte es. Mama machte sich daran, das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen. Als ich aussteigen wollte, um ihr zu helfen, hielt Romy mich zurück.
»Kommst du zurecht, Lynnie?«, fragte sie. Eigentlich nannte nur Papa mich so. Irgendwann in den letzten Monaten war auch Romy zu diesem Spitznamen übergegangen. In den falschen Momenten konnte sie eine Nervensäge sein. Aber in den richtigen war sie warmherzig und der Inbegriff von Besonnenheit. Ich rechnete jede Woche damit, dass sie ihre Schwangerschaft verkündete und zur Super-Mum wurde.
»Ja«, sagte ich, nur weil ein »Nein« eine viel längere Antwort verlangt hätte, als ich in diesem Moment zustande bringen konnte.
Entsprechend kaufte Romy es mir nicht ab. »Das muss heftig für dich gewesen sein«, sagte sie. »Bist du sicher, dass du dir nichts getan hast? Mama hat gesagt, dass der Mann voll auf dich draufgeknallt ist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur ein paar blaue Flecke.«
»Wenn du willst, kannst du für ein paar Tage mit auf den Hof kommen. Übermorgen kriegen wir einen Esel.« Romy lächelte vorsichtig. »Es heißt, dass Esel viel innere Ruhe ausstrahlen. Wenn sie nicht gerade schrecklich laut schreien.«
Jetzt wagte sie sich zu einem vollen Lächeln vor. Romy hatte ein markantes Lächeln. Breit und voll. Sofort wanderten auch meine Mundwinkel ein Stück nach oben.
»Du kommst so selten zu Besuch«, bemerkte sie.
»Danke, Romy. Ehrlich. Aber die Schule geht wieder los«, schlug ich das Angebot aus. »Außerdem wartet Ric schon darauf, mich endlich wiederzusehen.«
»Der Kerl hat es dir echt angetan, was?«
»Wir haben Spaß zusammen«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Mit ihm vergesse ich alles andere.«
»Ist doch schön. Die erste Liebe.« Romy lächelte, in Erinnerungen versunken. Ich versuchte, mich an ihren ersten Freund zu erinnern. Es gelang mir nicht. Sie hatte so viele gehabt. Romy als Single. Diese Person gab es in meiner Vorstellung nicht.
»Du kannst dich ja melden, solltest du es dir anders überlegen«, sagte sie dann.
Vermutlich lag es an dem Altersunterschied von acht Jahren, dass sie mich wie ihr Kind behandelte und nicht wie ihre Schwester. Romys Verhalten mir gegenüber schwankte zwischen bemutternd und belehrend. Deshalb haben wir nie ein besonders inniges Verhältnis zueinander entwickelt. Und weil sie genau dann von zu Hause auszog, als ich sie am meisten gebraucht hätte: Als ich in die Pubertät kam. Manchmal fühlte ich mich wie ein Einzelkind, so sehr hatte Romy sich aus unserem Alltag entfernt.
Hinter uns knallte die Kofferraumklappe zu. Mama zog die beiden Koffer zur Haustür. Romy sah ihr nach.
»Kommst du noch mit rein?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Passt aufeinander auf, ja?«, bat sie. »Du siehst ja, wie schnell es gehen kann. Mama hat gesagt, dass der Mann wohl einen epileptischen Anfall hatte?«
Diese Einschätzung teilte ich nicht. »Wie kommt sie ausgerechnet darauf?«, fragte ich.
Romy zuckte mit den Schultern.
Ich wusste nicht, was Mama zu dieser Diagnose geführt hatte.
Das rot glühende Gesicht des Mannes blitzte vor meinen Augen auf.
Stürzten sich Personen mit einem epileptischen Anfall auf andere Leute? Schrien sie? Klagten sie über das Gefühl, zu verbrennen?
Für den Rest des Abends konnte ich an nichts anderes mehr denken.
Woran war der Mann wirklich gestorben?