Evie

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Das neue Schuljahr brach über uns herein wie eine Welle und schwemmte all meine Gedanken über den Zeitungsartikel und die Toten hinfort. Hausaufgaben, Präsentationen, Tests. Im täglichen Stress ertrank die Erinnerung an den Mann im Flugzeug. Das Thema verschwand in einer gedanklichen Schublade, die fest verschlossen war.

Vieles aus jenen Wochen habe ich längst vergessen. Es herrschte der immer gleiche Alltagstrott aus Aufstehen, Schule, Hausaufgaben, Schlafen. Papa flog weiterhin jede Woche für die Arbeit in die Schweiz. Mama jagte mich morgens aus dem Bett. Romy zog sich auf den Hof zurück. Und Pippa und ich widmeten uns wieder unseren jeweiligen Interessen. Bei ihr war es der Aktivismus und bei mir war es mein Freund. Eine Weile hielt Pippa dazu die Füße still. Zwar machte sie keinen Schritt auf Ric zu, aber sie behandelte ihn auch nicht wie einen Aussätzigen, wenn sie in der Schule aufeinandertrafen. Ich hoffte auf eine Art stillen Frieden zwischen den beiden.

Die Hoffnung zerschlug sich, als Pippa nach wenigen Wochen des Waffenstillstands erneut durchblicken ließ, wie sehr sie sich an unserer Beziehung störte. Es geschah in der letzten Schulstunde. Ethikunterricht bei Herrn Johannsen. Die gesamte Klasse kam in einem großen Sitzkreis zusammen. In seinem Unterricht durften wir die Gesprächsthemen bestimmen. An den Lehrplan hielt er sich nicht.

Herr Johannsen war kein gewöhnlicher Lehrer. Genau genommen war er gar kein Lehrer. Früher hatte er fürs Fernsehen gearbeitet und Reportagen gedreht. Vor einigen Jahren war er in Rente gegangen und hatte sich nach eigenen Angaben jeden Tag zu Tode gelangweilt. Bis er davon hörte, dass händeringend Lehrkräfte gesucht wurden. Kurz darauf heuerte er an unserem Gymnasium an.

Vermutlich hatte Herr Johannsen nicht geahnt, worauf er sich einließ. Andererseits behauptete er immer, dass ihn nach der Karriere beim Fernsehen nichts mehr abschrecken konnte. Selbst Teenager nicht.

Wie so oft, eröffnete Pippa an jenem Septembertag die Gesprächsrunde. »Morgen Mittag demonstrieren wir wieder«, verkündete sie. »Meldet euch bitte bei mir, wenn ihr mehr Infos braucht.«

Ihr Blick fiel bei den letzten Worten auf mich.

Ich wich ihm gekonnt aus.

»Dass ihr das immer noch durchzieht«, kommentierte Adrian. Ablehnung lag in seiner Stimme. Eine gegelte Strähne fiel ihm in die Stirn, als er den Kopf schüttelte. Adrian saß uns schräg gegenüber. Die Beine auseinandergespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt. Selbst sitzend war er ein Riese.

»Wie viele von euch sind noch übrig?«, fragte er. »Zehn? Fünf? Oder gehst du mittlerweile allein auf die Straße?«

»Komm doch mit und finde es heraus«, konterte Pippa.

Lucy und Aliye, die neben Adrian saßen, sahen einander kichernd an. Auch sie gingen für den Klimaschutz auf die Straße. Alleine war Pippa auf jeden Fall nicht.

»Wann seht ihr ein, dass bunte Plakate zu malen überhaupt nichts bringt?«, fragte Adrian. »Die Leute tun so, als würden sie euch zuhören, um euch zu beruhigen. Danach machen sie weiter wie zuvor.«

Ein mulmiges Gefühl überkam mich bei diesen Worten. Als würde mir jemand langsam, aber mit Druck eine spitze Nadel zwischen die Rippen schieben.

»Wenn jeder so denkt wie du, dann sehe ich wirklich keine Hoffnung mehr für die Menschheit«, sagte Pippa unter einem Seufzen.

»Du kannst den Leuten nicht deinen Willen aufzwingen und dich dann beschweren, wenn sie anders denken und handeln als du«, konterte Adrian. »Die Menschen entscheiden danach, was am besten für sie selbst ist, und fertig.«

»Du hast ein ziemlich beschränktes Bild von ›den Menschen‹«, erwiderte Pippa. »Die meisten tun gerne Gutes. Wir sind nicht alle so eigennützig, wie du denkst. Und je mehr Leute das Richtige tun, desto mehr machen auch mit.«

Lucy und Aliye nickten bei diesen Worten.

Adrian jedoch schüttelte den Kopf. »Das hat alles seine Grenzen. Am Ende ist jeder auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Keiner will leer ausgehen. Warum auch? Jeder muss für sich selbst schauen, wie er am besten zurechtkommt. Das hat uns die Evolution über Jahrtausende so beigebracht.«

Pippa erwiderte dies mit einer Grimasse, in der sich pure Abscheu gegenüber Adrian abzeichnete. »Ist das deine Ausrede dafür, keine Verantwortung zu übernehmen?«

Die Ablehnung zwischen den beiden wuchs sekündlich.

»Filippa, Adrian – danke für die Einblicke«, unterbrach Herr Johannsen die Diskussion. »Ihr habt eure Standpunkte ziemlich deutlich gemacht. Wirklich. Mehr als deutlich …« Er klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit aller einzufangen. Manchmal gestikulierte er, als habe er es mit einer Gruppe Welpen zu tun. »Ich würde das Gespräch gerne für die große Runde öffnen.«

Herr Johannsen spielte den Schiedsrichter, der regelmäßig die Partie unterbrach, um andere Spieler mit aufs Feld zu holen. Allerdings waren die meisten von uns ziemlich zufrieden mit ihrem Platz auf der Ersatzbank. Stumm gingen wir seinem Blick aus dem Weg und musterten unsere Füße, als sähen wir unsere eigenen Schuhe zum ersten Mal.

»Wie denkt der Rest der Klasse darüber?«, fragte der Lehrer in die Runde.

Niemand hob freiwillig die Hand.

»Denkt ihr, es bringt etwas, regelmäßig für ein Thema auf die Straße zu gehen?« Herr Johannsen deutete auf Ric. »Cedric, was ist mit dir?«

Unsicher sah Ric ihn an. Das war genau die Art von Gesprächssituation, die er nicht ausstehen konnte. »Weiß nicht.«

»Irgendeine Haltung wirst du doch dazu haben?«, hakte Herr Johannsen nach.

»Wir können hier noch so viel machen«, quälte Ric sich zu einer Antwort. »Wenn keiner mitzieht, dann schützt uns das auch nicht. Was ich tue oder lasse, macht eh keinen Unterschied.«

Er hing eher auf seinem Stuhl, als dass er saß. Die Arme hatte er zur Unterstützung seiner Haltung vor dem Bauch zu einem X verschränkt. »Nicht, solange der Großteil der Leute weitermacht wie bisher.« Er sah zu Pippa. »Sorry. Ist meine Meinung.«

Bei dieser Aussage nickte Herr Johannsen. Mit Daumen und Zeigefinger fuhr er sich über die tiefen Lachfalten. Er musste in seinem Leben viel Spaß gehabt haben.

»Ein interessanter Einwand, Cedric«, sagte er. »Lohnt es sich, Nachteile für etwas in Kauf zu nehmen, wenn kaum ein anderer mitmacht und der Effekt damit womöglich verpufft?«

Wieder war es Pippa, die sich als Erste zu Wort meldete. Die anderen im Raum bemühten sich erst gar nicht, die Stimme zu erheben. Für sie war Pippa zur offiziellen Sprecherin geworden, die ihre Position verteidigte.

»Man tut nicht das Richtige, weil man denkt, dass man damit erfolgreich sein wird oder weil alle anderen es machen. Man tut es, einfach weil es das Richtige ist«, sagte sie. »Wenn du siehst, dass ein Kind ertrinkt, und alle tatenlos um dich herumstehen, unternimmst du dann auch nichts? Weil das alle so machen?«

»Hier ertrinkt aber keiner«, erwiderte Ric.

»In gewisser Weise schon«, sagte Pippa. »Alles, was wir tun, hat Konsequenzen. Mit unserer Lebensweise fügen wir anderen Schaden zu, ob wir wollen oder nicht. Jetzt mehr denn je.«

»Mach mal halblang«, mischte Adrian sich ein. »Du tust so, als hätte Ric das Kind eigenhändig ins Wasser geworfen.«

»Wenn wir nichts tun, dann sind wir mitverantwortlich«, sagte Pippa. »Wir müssen Vorbilder sein. Nur wenn wir vorangehen, können andere uns folgen.«

»Natürlich würde Ric ein ertrinkendes Kind retten«, sprang ich ein.

Cedric schenkte mir ein dankbares Lächeln für diesen Verteidigungsversuch. Er nahm meine Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. Mir entging nicht, dass Pippa daraufhin das Gesicht verzog, als wäre ich mit Lord Voldemort höchstpersönlich zusammen.

»Wir alle hier im Raum würden das tun«, ergänzte ich.

Die anderen nickten.

»Warum macht ihr es dann nicht?« Pippas stechender Blick verriet mir, dass die Frage ausschließlich an mich gerichtet war.

»Weil es keinen Ertrinkenden vor unserer Nase gibt, für den wir schnell ins Wasser springen können; den wir rausziehen und damit unseren Beitrag geleistet haben«, antwortete ich. »Das ist doch das Problem. Keiner hier im Raum möchte absichtlich jemandem schaden. Aber wie wir das Kind aus dem Wasser bekommen, wissen wir auch nicht.«

Pippa taxierte mich für einen Moment.

»Dass das ausgerechnet von dir kommt«, zischte sie. Ihre braunen Augen wichen schmalen Schlitzen, als sie zwischen Ric und mir hin- und hersah. »Vielleicht passt ihr doch ganz gut zueinander.«

Wortlos öffnete ich den Mund. Ich wusste auf diese Aussage nichts zu erwidern. Mit keiner Silbe hatte ich ihre Meinung untergraben. Ich versuchte lediglich, alle Standpunkte zu berücksichtigen.

»Gut. Ich denke, dass ihr alle wunderbare Argumente vorgebracht habt«, durchschnitt Herr Johannsen den unangenehmen Moment. »Wie Evelyn schon richtig angemerkt hat, liegen die Dinge nicht immer so einfach, wie wir es gerne hätten. Nicht auf jede Frage gibt es eine klare Antwort. Und manchmal geht es eben nicht um Schwarz oder Weiß. Richtig oder Falsch.

Gibt es viele Egoisten auf dieser Welt, wie Adrian behauptet? Mit Sicherheit.« Pippa wollte einen Einwand einbringen, da gab der Lehrer ihr mit einer Geste zu verstehen, dass er noch nicht fertig war. »Aber sicherlich gibt es auch pure Altruisten, wie Filippa angemerkt hat. Und ganz vieles dazwischen. In den meisten von uns steckt wahrscheinlich sogar beides.«

Herr Johannsen stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Wir sollten uns die Konsequenzen unseres Handelns und Nichthandelns bewusst machen. Unabhängig davon, was andere tun oder lassen. Und wir sollten nicht immer den bequemsten oder nützlichsten Weg wählen. Erst recht nicht, wenn wir anderen und uns selbst damit langfristig schaden könnten. Aber ich befürchte, dass wir es dennoch tun.

Denkt nur an all die guten Neujahrsvorsätze, die wir spätestens im Februar wieder vergessen haben. Auf die eigene Gesundheit achten, mit dem Rauchen aufhören, mehr Sport treiben, sich öfter bei der Tochter melden …« Er zog eine Grimasse. Waren dies seine eigenen verworfenen Vorsätze? »Oft schaden wir uns selbst und sind uns dessen sogar bewusst. Trotzdem ändern wir nichts.«

Herr Johannsen blickte mit einem Schmunzeln in die Runde. »Wenigstens das haben wir wohl alle gemeinsam. Manche mehr, manche weniger.« Er setzte sich auf. »Die Frage ist: Schaffen wir es, uns von diesen inneren Widersprüchen zu befreien? Wollen wir das überhaupt? Hoffen wir darauf, dass wir Glück haben und noch mal ungeschoren davonkommen – oder bringen wir uns damit am Ende gar selbst zu Fall?«